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Kapitel 2
Оглавление„Isolated“
Die Band in ihrer Urbesetzung hatte zunächst nicht viel mehr als den Wunsch, Musik zu machen. Sie waren eine Horde glühender Metalfans, die ihre Vorstellungen ohne geeigneten Ort und ohne geeignete Instrumente für geraume Zeit nur in ihren Köpfen wachsen lassen mussten. Der Einzug in den Proberaum bei ‚Westfleisch‘ im Jahr 1987 war so sicher der entscheidende Schritt in der frühen Phase von Morgoth. Marc, der gemeinhin als das Gedächtnis der Band gilt, erzählt:
Marc: „Der Proberaum war viel mehr als nur ein Ort, um Musik zu machen. Wir haben ihn uns richtig häuslich eingerichtet und wenn wir nicht geprobt haben, saßen wir da und haben Monty-Python-Videos geschaut. Es war fast so eine Art WG und fiel passenderweise in die Zeit, in der man sich gewöhnlich vom Elternhaus abnabelt.“
Nur wie man letztlich an dieses Schatzkästchen gekommen ist, darüber herrscht keine Einigkeit. Marcs Erinnerungen zufolge lief das so:
Marc: „Franz Stahlmecke, der damalige Bürgermeister von Meschede, hat uns unseren ersten Proberaum besorgt. Er war ein typischer Sauerländer, der für jeden ein offenes Ohr hatte. Er kam auch mal zu meinen Eltern oder Großeltern, wenn sie Geburtstag hatten.“
Rüdiger interveniert:
Rüdiger: „Ach, das wäre schön, wenn der konservative Bürgermeister von Meschede uns den ersten Proberaum besorgt hätte. Aber es war vielmehr der Stadtrat Herr Wacker. Er hatte irgendeine kulturelle Position inne. Carsten hat ihn sehr lange belatschert, bis wir endlich den Raum bekommen haben. Wir haben Herrn Wacker sogar auf unserem zweiten Demo gedankt, das ja dann letztlich nie erschienen ist, weil es unsere erste EP wurde. Nebenan haben die Short Romans mit Dirk Draeger geprobt und wenn das nicht gewesen wäre, wären die Dinge wohl nie so passiert.“
So muss man sich wohl eine Mischung beider Versionen vorstellen, wobei sicher ohne Carstens Hartnäckigkeit der Proberaum letztlich nicht an die Band gegangen wäre. Da war die Einrichtung und Renovierung die kleinere von beiden Herausforderungen, auch wenn das nicht ganz ohne Entbehrungen vonstatten ging.
Harry: „Unsere erste Handlung bestand darin, die Wände und Decken des Proberaums mühevoll mit Eierkartons akustisch zu ‚optimieren‘. Zu deren Beschaffung hatten wir im Vorfeld Eltern, Großeltern und Verwandte zum Sammeln von Eierkartons verdonnert und so hat der Eierkonsum in dieser Zeit gesundheitlich höchst bedenkliche Ausmaße angenommen. Aber sobald wir wussten, die Band wird Morgoth heißen, wussten wir auch genau, wohin wir wollen und haben uns durch nichts beirren lassen.“
Keine Band ohne Instrumente. Keine Instrumente ohne Geld. Bei allem Enthusiasmus sind Morgoth in den frühen Tagen gerade solche praktischen Probleme stets angegangen. Während viele andere Musiker sich langsam ihr Equipment ersparen, haben sie sich Ferienjobs genommen und so lange geackert, bis das Geld für einen kompletten Satz zusammen war. Und das ging im Sommer 1987 sehr schnell, wenn auch unter äußersten Entbehrungen. Daran können sie sich bis heute erinnern.
Carsten: „Die Eltern anzupumpen hat nicht funktioniert, aber mein Vater hat mir einen Job verschafft, wo richtig Geld verdient wird. Ich habe in einer Fabrik LKW-Motorgehäuse durch die Gegend gehievt. Jeden Tag nach der Arbeit war ich total fertig und nur noch froh, bis morgens um sechs im Bett liegen zu können. Es war nicht schlecht bezahlt, aber da habe ich auch verstanden, dass ich mein Geld in Zukunft lieber mit dem Kopf verdienen will.“
Marc: „Das war die Firma Honsel, in der habe ich auch mal gearbeitet. Insgesamt waren es immer Knochenjobs. Straßenbau, vier Wochen in den Sommerferien oder samstags, Steine schleppen, auch Straßenschilder an der Stanze abrunden. Man wusste immer, dass es hart wurde, aber hinterher konnte man sich eben die Gitarre auch kaufen.“
Rüdiger: „Mein Ferienjob war der beschissenste. Der Typ meinte zu mir: ‚Sie haben es besonders gut, denn sie haben tausend Leute unter sich. Sie arbeiten auf dem Friedhof‘. Das habe ich dann gemacht und wochenlang Hecken geschnitten und bei irgendwelchen Umbettungen knietief im brakigen Leichenwasser gestanden.“
Zu diesem Zeitpunkt wussten sie bereits, welches Equipment sie kaufen mussten, um den Sound zu haben, den sie sich vorstellten. Der Besuch bei Kreator im Proberaum hatte unter anderem darüber Aufschluss gegeben. Harry, der seinen Teil vom Azubigehalt abgespart hatte, erinnert sich an den erhebenden Moment noch gut, als die Instrumente endlich da waren.
Harry: „Wir wussten bei dem Equipment schon genau, was wir wollten. Für den Sound, den wir uns vorstellten, gab es damals auch wenig Alternativen. So haben wir uns unser Gespartes geschnappt und dann im Laden tatsächlich einige 1000 Mark auf den Tisch gelegt. Wir konnten zwar noch nicht richtig spielen, fanden uns aber wahnsinnig cool.“
Bei dem letzten Satz muss er lachen. Man möchte sagen, dass er der ruhigste der vier Morgoth-Urgesteine ist, weil er gemeinhin immer ein wenig länger über seine Antworten nachdenkt als Rüdiger oder Marc. Am deutlichsten merkt man ihm jedoch an, dass die Band seine absolute Wohlfühlzone ist, in der er für das geschätzt wird, was er am liebsten ist: ein akribischer Musiker.
Im Kauf des Equipments sehen alle den ultimativen Startschuss für die Band und Carsten versteht es in seiner Eigenart als praktisch veranlagter Visionär wie üblich, die Dinge auf einen einfach Nenner zur bringen:
Carsten: „Wir hatten das ganze Equipment gekauft, also mussten wir dann auch loslegen. Sonst hätten wir es ja nicht kaufen müssen.“
Im Rathaus in Meschede regiert seit den frühen 50er Jahren durchgängig die CDU. Franz Stahlmecke ist im Jahr 1987 bereits seit zwölf Jahren Bürgermeister und wird es bis zu seinem Tod, zehn Jahre später, auch weiterhin bleiben. Die Bürger der Stadt engagieren sich in Schützen- und Sportvereinen und in entsprechenden jährlichen Festen. Franz Stahlmecke, der selbst aus dem kleinen Nachbarort Wennemen stammt, hält guten Kontakt zu den Einwohnern, beehrt sie regelmäßig zu Geburtstagen und auf Festen. Er ist allenthalben recht beliebt, kommt sogar aus demselben Dorf wie Harry und kennt seine Großeltern.
Natürlich ist der ‚ewige‘ Franz als CDU-Mann keine Identifikationsfigur für Carsten, Rüdiger, Marc und Harry. Im schwarzen Sauerland reagieren die meisten Menschen nicht enthusiastisch, wenn ein langhaariger Teenager von seinen Ambitionen als Metalmusiker erzählt. So muss er irgendwann raus, der Frust, der sich anstaut; verursacht durch ewiges Hin- und Herwandeln in dem Freilichtgehege, das sich Heimat nennt. Mit der langen Mähne zu provozieren, das funktioniert im Sauerland leicht. Da wechselt das gesittete Bürgertum gerne schon einmal die Straßenseite. Amüsant. Weniger lustig ist es da schon, auf dem Schützenfest von besoffenen Jungschützen angemacht zu werden, man solle zum Friseur gehen. Ganz zu schweigen von den Abenden in der Disko, bei denen man mit dem Musikwunsch ‚Fast As A Shark‘ von Accept mit dem immer gleichen und nie eingehaltenen „Jaja, gleich“ hingehalten wird.
Eines der wenigen Rückzugsgebiete ist der Werkraum in der Schule, den sie weiterhin zu nutzen, um ihre Instrumente zu zersägen. Ein richtiger Proberaum ist in Meschede ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder weiß das. Doch kommt man im Werkraum auf die Dauer nicht richtig in Stimmung, wenn nach drei Stunden die ersten Mitglieder des christlichen Schulchores vor der Türe stehen, die sie streng begutachten. Da könnte selbst Satan persönlich nicht im Stehen pinkeln.
So fristen die vier von „Minas Morgul“ von solcherlei Aktivitäten inspiriert ihren kleinstädtischen Alltag. Natürlich wird das Schulequipment, Federmäppchen, Rücksacke, reichlich mit den Namen und Zeichen ihrer Ikonen verziert. Metal in der Schule, Metal im sonstigen Leben. Wenn der Werkraum gerade nicht frei ist, gehen sie häufiger zum Karstadtplatz, wo sich zum Ärgernis der örtlichen Bürger und Behörden die Mescheder Punkszene breit gemacht hat. Klar, das Ding ist gerade neu, was haben die Penner da zu suchen? Mit dem Dutzend Punks und den vier Metallern fusionieren an diesem Ort gewissermaßen beide komplette Szenen. Man kennt sich aus der Schule. Und oft wird nur ein Thema diskutiert: Welche Musik ist die härtere? Natürlich gibt es keine Einigung. Selbst während des täglichen Bildungsmatyriums wird dieser Streit fortgesetzt. Zückt Rüdiger an einem Tag seinen Edding um das rustikal braune Tischdesign mit einem zünftigen „Slayer“ zu verzieren, ist es am nächsten Tag schon durchgestrichen und es steht „Negazione“ darunter. Gute Argumente bekommt die Thrash-Fraktion aus der Szene geliefert. Allein das von Chuck Schuldiner und Chris Reifert im Alleingang eingespielte Death-Debüt „Scream Bloody Goore“ haut den hartgesottenen Metaller die Matten nach hinten.
Von außen betrachtet kann man es zu dieser Zeit niemandem richtig verübeln, wenn er nicht sein ganzes Geld auf den durchschlagenden Erfolg von ‚Minas Morgul‘ setzt. Im Werkraum entsteht nichts Brauchbares. Das Equipment ist Mist, die Songideen unbrauchbar, denn nichts inspiriert mit Ausnahme der Vorstellung, dass daraus vielleicht irgendwann einmal eine Band werden könnte. Aber wie? Mit einer kleinen, aber einschneidenden Idee kommt Rüdiger eines Tages um die Ecke:
„Jungs, lasst uns den Bandnamen ändern. ‚Minas Morgul‘ ist scheiße, ich hab einen besseren: ‚Morgoth‘!“
Im Silmarillion, der Sagensammlung von J.R.R. Tolkien, die dem Hobbit und dem Herrn der Ringe als Vorgeschichte dient, ist Morgoth der große Antagonist. Er ist der mächtigste der von dem göttlichen Wesen Ilúvatar geschaffenen Ainu, die eine Art Götterzirkel in der Arda bilden. Das ist die Welt, in der sich sämtliche Geschichten abspielen. Sein ursprünglicher Name ist Melkor. Morgoth, was so viel bedeutet wie ‚der Dunkle‘, ‚der Schwarze‘ oder auch ‚Feind der Welt‘, wird er von dem Elb Feanor genannt, nachdem er die Silmiarilli gestohlen hatte. Die Silmarilli sind drei von Feanor geschaffene Edelsteine, die ein Überbleibsel göttlicher Macht enthielten und die Morgoth fortan in seiner Krone zu tragen pflegte. Die Geschichten des ‚Quenta Silmarillion‘, die des Hauptbuchs von Tolkins Sagensammlung, handeln letztlich immer um den Versuch der Elben, die Edelsteine von Melkor zurückzubekommen.
Morgoth – dieser Name ist der Startschuss. Minas Morgul dauert zu lang, ist zu verquer, klingt nach Teenagern, die irgendwie etwas versuchen. Morgoth ist brachial, bedrohlich, eine Urgewalt, auch für jene, die Herr der Ringe gar nicht kennen. Es ist der Name einer Band, die man sich auf jeden Fall anschauen wird, weil man wissen will, wie ‚Morgoth‘ klingt. Er fügt alles zusammen, was in den Köpfen herumspukt. Alles ergibt auf einmal einen Sinn und hat ein Ziel. Es ist der perfekte Bandname.
Ob es nun an dem neuen Bandnamen lag, weiß man nicht. Auf jeden Fall setzt er Energien frei und das Jahr 1987 wird nach langer Wartezeit das Jahr, in dem sich endlich etwas bewegt. Carsten quatscht regelmäßig seinen Nachbarn Dirk Draeger an und fragt, ob er einen guten Proberaum kennt. Er ist Profimusiker, einer der erfolgreichen Short Romans, und repräsentiert dementsprechend die musikalische Prominenz des Ortes. Ihre Proben absolviert die Band in der oberen Etage des örtlichen Schlachthofes, gewissermaßen die Crème der Proberäume in Meschede.
Natürlich hat Dirk keine brauchbaren Informationen, aber es ist ein Ansatz. Nun wird es auf ewig ein Geheimnis bleiben, ob Franz Stahlmecke oder Herr Wacker letztlich der Band den Raum besorgt hat. Klar ist, es bedarf wiederum eine gewisse Zeit und Carstens unermüdliches Überzeugungstalent bis jener Stadtrat endlich seine Kontakte zum Schlachthof spielen lässt, wo die Jungs schließlich ein kleines Kabuff in einer der oberen Etagen besichtigen können.
„Sieht gar nicht schlecht aus. Müssen wir aber noch eine Menge Arbeit reinstecken.“
„Guck Dir die Tapete an. Die ist wohl noch aus den Sechzigern.“
„Wir müssen das eh alles schalldicht machen.“
„Habt ihr das gehört? Dieses schrille Quieken. Was war das?“
„Da ist wohl gerade ein Schwein geschlachtet worden.“
„Da läuft‘s einem aber schon kalt den Rücken runter.“
„Um das schalldicht zu machen, brauchen wir Eierkartons. Also Leute, ihr wisst, was in Zukunft auf dem Speiseplan steht!“
In den folgenden Wochen steigt der Cholesterinspiegel bei Morgoth und Umgebung besorgniserregend an. Für die Karriere muss man eben ab und zu auch mal ein paar Dutzend Eier pro Woche verspeisen. Aber es lohnt sich und die Einrichtung des Proberaums schreitet voran. An alle vier Wände, plus Decke, werden Styroporplatten geklebt und dann mit Eierkartons versehen. Als alles fertig ist, geht es daran, das neue Domizil noch ein wenig heimisch zu gestalten. Ein Fernseher und ein Kühlschrank werden organisiert. Ein wunderschönes Blümchensofa rundet die Atmosphäre, in der der härteste Metal aller Zeiten entstehen sollte, perfekt ab. Allerdings haben sie es mit den Eierkartons an den Proberaumwänden etwas übertrieben. In dieser Gummizelle aus Weichpappe erstirbt jeder Ton und jeder Hall. Also reißen sie an einer Seite der Wand die Kartons wieder ab, malen die Wand schwarz an und pinselten das von Rüdiger entworfene, und seitdem nicht veränderte, Bandlogo darauf.
Im Sommer steht eine weitere Aufgabe an: Geld für richtiges Equipment verdienen. Sie haben sich Ferienjobs genommen, Sparkonten aufgelöst und das Geld zusammen gespart. Nach entbehrungsreichen Wochen des Schuftens ladensie an einem Spätsommerabend endlich zwei Marschalltürme, ein nagelneues Schlagzeug, Bass- und Gesangsanlage aus einem Hänger und schleppen alles in die obere Etage der Schlachterei. Dabei wird der ‚Grave Digger‘ Rüdiger an diesem Tag noch Pech erleiden müssen: Während die anderen drei selig vor ihren neuen Türmen posieren, hat er das falsche Drumkit geliefert bekommen. Dennoch, mit dem Equipment und einem Holzregal für Bierdosen, die Trophäen der Trinkerfolge, ist der Proberaum endlich fertig. Eine Coverversion von Black Sabbath‘s ‚Sign Of The Southern Cross‘ wird als Einweihungslied gespielt. Und natürlich wird an diesem Abend zünftig angestoßen.
So hört die Welt, oder besser die unmittelbare Umgebung, in diesen Tagen die ersten musikalischen Gehversuche von Morgoth. Es fehlt nur noch ein Name für die Musik. Zu dieser Zeit kennt man zwar die Band Death und den Song ‚Death Metal‘ von Possessed, doch als Genrebezeichnung ist er nicht geläufig. So nennen sie ihre Musik zunächst einmal ‚Ultra-Thrash‘.
Während der Arbeiten merken sie bereits, dass im Proberaum nebenan regelmäßig was los ist. Die Short Romans sind fast jeden Tag anwesend, Besuche und gelegentliche Parties inbegriffen. Als die Renovierungsarbeiten erledigt sind, schleppen die Jungs zuletzt das Equipment, das ihnen bereits zur Verfügung steht, in die oberen Etagen, Gitarrenverstärker und ein Schlagzeug, das aus Standtom, Snare und einigen Becken besteht. Das bleibt nebenan nicht unbemerkt und Dirk Draeger, der mit Thrash Metal eigentlich nichts anfangen kann, bekommt von einer Freundin gesteckt: „Das sind Eure neuen Nachbarn? Na dann, viel Spaß!“