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Willensfreiheit versus soziale Freiheit

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Bevor ich die Voraussetzungen für den freien Willen ausführlicher diskutiere, möchte ich die Willensfreiheit von anderen Freiheitsbegriffen unterscheiden. Die Willensfreiheit darf nicht mit sozialer, politischer oder ökonomischer Freiheit verwechselt werden. Es lohnt sich daher, kurz zu erklären, was diese anderen Arten von Freiheit ausmacht. Sie haben alle mit den Einschränkungen und Chancen zu tun, mit denen wir in unserem sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld konfrontiert sind, und gehören zu den Dingen, die den meisten von uns sehr am Herzen liegen. Der Kürze halber werde ich einfach von „sozialer Freiheit“ sprechen. Wenn Freedom House, eine einflussreiche Nichtregierungsorganisation, Länder danach beurteilt, wieviel Freiheit sie gewähren, geht es dabei um soziale Freiheit und nicht um die in diesem Buch diskutierte Willensfreiheit im psychologischen oder handlungsbezogenen Sinn. Die Aussage, dass Nordkorea seinen Bürgern wenig soziale Freiheit gewähre, ist kein Urteil über die psychologischen Fähigkeiten von Nordkoreanern als menschlichen Akteuren. Ihre psychologischen Fähigkeiten sind die gleichen wie die von allen anderen Menschen. Dass es den Nordkoreanern an Freiheit mangele, ist vielmehr ein Urteil über die massiven Einschränkungen, denen sie sich in ihrem sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld ausgesetzt sehen, und die begrenzten Chancen, die sie haben.23

Wie Freiheit im sozialen Sinne genau definiert werden sollte, ist umstritten, und die Vertreter unterschiedlicher politischer Standpunkte liefern sich heftige Debatten über diese Frage. Aber nur wenige politische Denker würden bestreiten, dass soziale Freiheit etwas Wertvolles ist.24 Manche glauben, dass soziale Freiheit bloß die Abwesenheit von äußeren Einschränkungen erfordere, während andere der Meinung sind, dass dafür auch substantielle Chancen erforderlich seien. Marktliberale, für die die freie Marktwirtschaft im Zentrum steht, betrachten ungehinderte Markttransaktionen als entscheidend für die soziale Freiheit. Für sozial orientierte Liberale hingegen, denen es um den Wohlfahrtsstaat geht, ist der Zugang zu Ressourcen ebenfalls wichtig.25

Das alles sind wichtige Fragen, aber sie sind nicht Gegenstand dieses Buches. Die philosophische Frage, ob es ein genuin menschliches Vermögen des freien Willens gibt, stellt sich unabhängig von den sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Sie betrifft die Fähigkeiten, die wir als Menschen und nicht als Angehörige einer bestimmten Gesellschaft haben. Betrachten Sie folgende Analogie. Die Frage, wie die menschliche Sprachfähigkeit zu erklären ist, stellt sich unabhängig von den Einzelheiten einer bestimmten, von Menschen gesprochenen Sprache. Wenn der freie Wille zu den menschlichen Fähigkeiten gehört, dann ist es ebenso wie bei der Sprache vernünftig zu glauben, dass die Menschen diese Fähigkeit unabhängig davon haben, wie ihr soziales Umfeld im Einzelnen beschaffen ist. Ja, wir dürfen sogar annehmen, dass auch die Menschen der Urzeit über diese Fähigkeit verfügten, lange bevor die neuzeitlichen Fragen zur sozialen, politischen und ökonomischen Freiheit überhaupt aufkamen – und lange bevor die Menschen den Begriff der Freiheit hatten.

Daraus folgt nicht, dass die Frage der Willensfreiheit für die Debatte über soziale Freiheit belanglos ist. Es spricht vieles dafür, dass diese Debatte implizit voraussetzt, dass es eine menschliche Fähigkeit des freien Willens gibt. Ob es überhaupt eine nennenswerte soziale Freiheit geben könnte, wenn Menschen keinen freien Willen hätten, und selbst wenn es sie geben könnte, welche Bedeutung sie hätte, ist alles andere als klar. Überdies könnten wir glauben, dass die Ausübung des freien Willens etwas an sich Wertvolles sei. Daraus ergäbe sich, dass die sozialen Bedingungen, die Menschen mehr Freiraum für die Ausübung dieser Fähigkeit gewähren, unter sonst gleichen Bedingungen denen vorzuziehen sind, die ihnen weniger Freiraum dafür geben. Kurzum, wenn wir einen freien Willen haben und seine Betätigung wertschätzen, könnte dies ein weiterer Grund sein, auch gewisse Formen sozialer, politischer und ökonomischer Freiheit wertzuschätzen.26

Warum der freie Wille existiert

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