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Die Herausforderung des Determinismus

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Sie ist vielleicht die meistdiskutierte Herausforderung für den freien Willen.16 Die Wissenschaft, speziell in der Form, die auf die Aufklärung zurückgeht, wird oft mit der These verknüpft, dass die Welt „deterministisch“ sei. Sie besagt, dass die Welt durch mechanische Naturgesetze beherrscht werde, gemäß derer die Vergangenheit die Zukunft vollständig bestimme. Ist der Anfangszustand der Welt gegeben, sagen wir, ihr Zustand zu Anbeginn der Zeit, so laufen alle nachfolgenden Ereignisse in einer unveränderlichen Folge ab, und zwar aufgrund der zugrundeliegenden Naturgesetze. Das folgende Argument fasst die sich daraus ergebende Herausforderung für die Willensfreiheit zusammen, indem es abermals eine skeptische Schlussfolgerung aus zwei Prämissen ableitet:

Prämisse 1: Der freie Wille erfordert alternative Möglichkeiten (zwischen denen der Handelnde wählen kann).

Prämisse 2: Wenn die Welt deterministisch ist, d.h. wenn die Vergangenheit die Zukunft vollständig determiniert, gibt es niemals alternative Möglichkeiten: Alle Handlungen sind vorherbestimmt.

Die erste Prämisse ist eine Wiedergabe unserer zweiten Bedingung für den freien Willen. Die zweite Prämisse bringt eine scheinbar direkte Folge des Determinismus zum Ausdruck. Gemeinsam führen sie zu der folgenden Konklusion:17

Konklusion: Wenn die Welt deterministisch ist, dann gibt es keinen freien Willen.

Man beachte, dass diese Konklusion, anders als die Folgerung aus dem zuvor betrachteten Argument des radikalen Materialismus, eine konditionale ist. Sie besagt nicht, dass es keinen freien Willen gibt, sondern dass es dann keinen freien Willen gibt, wenn die Welt deterministisch ist.

Um dieses Argument beurteilen zu können, muss ich etwas mehr zu der Idee des Determinismus sagen. Wie schon beschrieben, ist der Determinismus die These, dass die Geschichte der Welt zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur eine einzige mögliche Fortsetzung hat. Wir können dies als eine These bezüglich des einschränkenden oder „starren“ Charakters der Naturgesetze auffassen. In einer deterministischen Welt erlauben die Naturgesetze bei gegebener Vorgeschichte zu jedem Zeitpunkt nur einen einzigen möglichen Ereignisverlauf in der Zukunft. Es könnte niemals passieren, dass sich bei einer bestimmten Vergangenheit die Zukunft auf mehrere mögliche Weisen entfalten könnte.

Mit „Geschichte“ meine ich nicht nur die Dinge, an denen Historiker interessiert sind und von denen wir in Geschichtsbüchern lesen: wie Julius Caesar ermordet wurde oder wann die Schlacht von Waterloo stattfand. „Die Geschichte der Welt“ in dem hier verstandenen technischen Sinn ist vielmehr die Folge aller vergangenen Zustände des Universums, von Anbeginn der Zeit bis zu dem Zeitpunkt, auf den sich unser Interesse richtet.18 Ein „Zustand des Universums“ wiederum ist eine vollständige mikrophysikalische Bestimmung von allem in der Welt zu einem gegebenen Zeitpunkt, einschließlich der Standorte und Impulse sämtlicher Teilchen und der Details aller physikalischen Kräfte. Der „Determinismus“ ist also die These, dass bei einer bestimmten Folge von vergangenen Zuständen des Universums bis zu jedwedem Zeitpunkt nur eine Fortsetzungsweise dieser Folge möglich ist: Alle nachfolgenden Zustände des Universums sind notwendige und unvermeidliche Konsequenzen der früheren Zustände.19

Ein deterministisches Universum ist wie ein mechanisches Uhrwerk, wo alles, was geschieht, unerbittlich durch das determiniert ist, was zuvor geschah. So stellt Isaac Newtons Physik die Welt dar, indem sie eine bestimmte Menge von Naturgesetzen angibt, entsprechend derer die Bewegung einer jeglichen Klasse von Gegenständen durch ihre Anfangszustände vollständig determiniert ist. Sind beispielsweise die Anfangszustände aller Himmelskörper des Sonnensystems gegeben, so bestimmen Newtons Gesetze bis in alle Ewigkeit, was ihre zukünftigen Bewegungen sein werden. Im Zeitalter der Aufklärung war die Vorstellung des Universums als eines „Uhrwerks“ das geltende Paradigma. In einer berühmt gewordenen Passage trieb der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace diese Idee auf die Spitze:

„Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“20

Soweit wir wissen, gibt es keinen laplaceschen Dämon, wie diese hypothetische Intelligenz häufig genannt wird. Und gewiss gibt es keinen Sterblichen, der eine solche Intelligenz besitzt. Aber dennoch steht fest: In einem deterministischen Universum ist die Zukunft durch die Vergangenheit auch dann vorherbestimmt, wenn es niemanden gibt, der so intelligent und wohlinformiert wäre, dass er das, was geschehen wird, vorhersagen könnte. Was auch immer sich zu Anbeginn der Zeit, sagen wir, in den ersten Momenten nach dem Urknall, ereignet haben mag, es hätte genügt, um all das notwendig zu machen, was seither passiert ist.

Wenn unser Universum diesem Bild entspricht, dann stand Ihre Wahl eines bestimmten Getränks zum Frühstück, Ihre Wahl eines bestimmten Partners, Ihre Wahl eines bestimmten Berufs und Ihre Wahl eines Urlaubsziels für den nächsten Sommer bereits fest, lange bevor Sie über diese Wahl nachgedacht haben. Ja, sie stand bereits lange vor Ihrer Geburt fest. Schließlich sind Sie Teil des Universums; und die physikalischen Bausteine, aus denen Ihr Gehirn und Ihr Körper bestehen, werden ebenso durch deterministische Naturgesetze bestimmt wie alles andere auch. In diesem Fall, so scheint es, wäre es falsch zu glauben, dass Sie anders hätten handeln können. Es gibt schlicht keine alternativen Möglichkeiten. Wenn das richtig ist, ist Ihr Leben wie ein Film, dessen Ende feststeht, bevor Sie im Kino Ihren Platz einnehmen. Das Leben läuft vor Ihren Augen ab, aber nirgendwo verzweigt sich der Weg.

Aber ist die Welt wirklich deterministisch? Denn offensichtlich funktioniert das vorliegende Argument gegen den freien Willen nicht, wenn der Determinismus falsch ist. Und der Determinismus könnte ein Relikt einer aufklärerischen Weltsicht sein, das von der heutigen Wissenschaft nicht länger gestützt wird.

Die besten Theorien von Raum und Zeit und physikalischen Makrosystemen, über die wir gegenwärtig verfügen, nämlich Albert Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, halten zwar immer noch am Determinismus der newtonschen Physik fest, obwohl sie die newtonsche Theorie in Bezug auf andere Fragen ersetzt haben. Dagegen scheint die Quantentheorie, unsere beste Theorie physikalischer Systeme auf mikroskopischer Ebene, Raum für Indeterminismus zu lassen. Wenn beispielsweise ein Photon, ein Lichtteilchen, auf einen halbtransparenten Spiegel trifft und wir seine Bahn beobachten, dann gibt es eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es reflektiert wird, und eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es weitergeleitet wird. Nichts in der früheren Geschichte des Photons scheint festzulegen, welche dieser beiden Möglichkeiten zustande kommen wird. Hier sieht es so aus, als würde sich der Weg verzweigen. Ähnliche Beispiele ließen sich in Bezug auf andere mikrophysikalische Prozesse anführen. Radioaktiver Zerfall etwa ist anscheinend indeterministisch. Selbst wenn wir alles über die frühere Geschichte eines bestimmten Uranatoms wüssten, wären wir dennoch nicht in der Lage vorherzusagen, wann genau dieses Atom zerfallen wird. Der genaue Zeitpunkt des Zerfalls wird durch die frühere Geschichte des Atoms offengelassen.

Genügt diese Beobachtung, um den freien Willen gegen die Herausforderung durch den Determinismus zu verteidigen?21 Die Antwort auf diese Frage ist ein entschiedenes Nein. Zunächst wird die Quantenmechanik selbst unterschiedlich interpretiert. Alle sind sich einig darüber, dass die Quantenmechanik eine Art von „Oberflächen-Indeterminismus“ befürwortet: Die zukünftige Flugbahn des Photons, wenn es auf den Spiegel trifft, lässt sich selbst dann nicht vorhersagen, wenn seine Vergangenheit vollständig bekannt ist. Genauso wenig können wir selbst bei vollständiger Kenntnis der vergangenen Geschichte eines Uranatoms vorhersagen, wann es zerfallen wird. Aber hier endet der Konsens. Während einige Wissenschaftler zu dem Schluss kommen, dieser Oberflächen-Indeterminismus beweise, dass die Welt prinzipiell indeterministisch sei (eine Ansicht, die durch die Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik gestützt wird)22, bestreiten andere diese Folgerung. Von Einstein stammt der Ausspruch: „Gott würfelt nicht“, womit er nicht so sehr die Quantenmechanik selbst infrage stellte als vielmehr ihre in seinen Augen unbefriedigende indeterministische Interpretation.23

Zu den Interpretationen der Quantenmechanik, die diesen Indeterminismus vermeiden, gehören jene, die von dem Konzept der sogenannten „verborgenen Variablen“ ausgehen, wonach die Unberechenbarkeit der Quantensysteme auf unserer Unkenntnis gewisser verborgener Variablen beruht, das heißt, bestimmter Bestandteile der Realität, die zwar objektiv existieren, aber nicht beobachtbar sind. Sie bestimmen sozusagen stillschweigend, wie sich das System entwickelt. Bei dem Beispiel des halbtransparenten Spiegels wird die verborgene Variable das Photon entweder auf den Kurs der Reflektion gebracht haben oder auf den Kurs der Transmission. Nur wissen wir vor der Durchführung des Experiments nicht, welchen Wert die verborgene Variable erhalten hat. Aus diesem Grund haben wir es hier mit einem Fall von Unvorhersehbarkeit zu tun – wir können also nicht vorhersagen, was mit dem Photon geschehen wird – aber, und das ist entscheidend, nicht mit einem Fall von Indeterminismus.

Die Details solcher Interpretationen, die von verborgenen Variablen ausgehen, sind kompliziert. Wir wissen aus der mathematischen Physik, dass das Postulat „lokaler“ verborgener Variablen, die mit lokalen Prozessen wie etwa einzelnen Photonen verbunden sind, nicht generell funktionieren kann (ein Resultat, das aus der sogenannten „Bellschen Ungleichung“ folgt). Stattdessen müssten die verborgenen Variablen „global“ sein, das heißt, sie müssten mit dem physikalischen System als Ganzem verbunden sein. Ungeachtet dieser Details zeigt die bloße Möglichkeit einer deterministischen Deutung der Quantenmechanik, dass die Quantenmechanik als solche den Determinismus nicht ausschließt.

Wichtiger noch ist indes, dass die besten physikalischen Theorien, über die wir gegenwärtig verfügen, nicht das letzte Urteil über die Naturgesetze fällen. Bekanntermaßen sind die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie, die momentan besten Theorien mikroskopischer und makroskopischer Systeme, nicht miteinander vereinbar. Und es besteht kein Konsens darüber, wie man sie miteinander in Einklang bringen oder über sie hinausgehen könnte, sodass dieser Konflikt vermieden würde. Man muss deshalb fairerweise sagen, dass in der Frage, ob die große vereinheitlichte Theorie der Physik, wenn man sie denn jemals finden wird, die Welt als indeterministisch repräsentieren wird, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Festzuhalten ist auch, dass der bloße Beweis des Indeterminismus der Welt auf irgendeiner mikroskopischen Ebene für die Verteidigung des freien Willens nicht genügt, selbst wenn wir uns allein auf die Forderung alternativer Möglichkeiten beschränken. Wir müssten ebenfalls zeigen, dass sich diese mikrophysikalischen Unbestimmtheiten auf die makroskopische Ebene ausweiten, wo sie alternative Handlungsmöglichkeiten für den Handelnden eröffnen können. Wäre der Indeterminismus auf die mikrophysikalische Ebene beschränkt und würden alle Unbestimmtheiten auf der makrophysikalischen Ebene wieder verblassen, so wäre das nicht genug für einen freien Willen. Der libertarische Philosoph Robert Kane hat behauptet, dass das menschliche Gehirn Mechanismen bereitstelle, durch die sich Quantenunbestimmtheiten auf die makroskopische Ebene ausweiten, aber es gibt bisher noch keine Einigkeit über die Rolle, die der quantenmechanische Indeterminismus gegebenenfalls für das Funktionieren des Gehirns spielen könnte.24

Selbst wenn wir alle diese Hindernisse überwinden und zeigen könnten, dass die fundamentalen physikalischen Unbestimmtheiten bewirken, dass einem Akteur mehrere Handlungsalternativen offenstehen, gäbe es schließlich immer noch die Sorge, dass durch diese Unbestimmtheiten bloß der Zufall in das menschliche Verhalten eingeführt wird, aber nicht der freie Wille. Würde sich der Indeterminismus im Zufall erschöpfen, wäre es unklar, wie genuin freie Entscheidungen zwischen vorhandenen Optionen möglich wären, im Gegensatz zu bloß zufälligem Herauspicken. Wie zum Beispiel Carl Hoefer bemerkt:

„Aus Gründen, die als erster Kant begriff, hilft der Indeterminismus auf der mikrophysikalischen Ebene nicht weiter. Die Zufälligkeit, die sich, wenn überhaupt, nur bei Mikrophänomenen findet, scheint nicht für den freien Willen „Platz zu schaffen“, sondern ersetzt eine hinreichende physikalische Ursache nur durch den (zumindest teilweise) blinden Zufall.“25

Die vorliegende Herausforderung für den freien Willen ist daher gewaltig, ganz gleich, ob die zukünftige Physik den Determinismus rechtfertigen wird oder nicht.

Warum der freie Wille existiert

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