Читать книгу Warum der freie Wille existiert - Christian List - Страница 7

Einleitung

Оглавление

Der freie Wille ist eine Illusion. Wir sind schlicht nicht die Urheber unseres Willens. Gedanken und Absichten sind das Ergebnis von im Hintergrund wirkenden Ursachen, derer wir uns nicht bewusst sind und über die wir keine bewusste Kontrolle ausüben. Wir haben nicht die Freiheit, die wir zu haben glauben.

Sam Harris, Neurowissenschaftler, in Free Will

Unsere Gedanken und Handlungen sind der Output eines Computers aus Fleisch und Blut, unseres Gehirns, eines Computers, der den Gesetzen der Physik gehorchen muss. In der Folge müssen auch unsere Entscheidungen diesen Gesetzen gehorchen. Die traditionelle Vorstellung des freien Willens, nach der unser Leben aus einer Reihe von Entscheidungen besteht, bei denen wir stets anders hätten wählen können, wird dadurch zu Makulatur. Warum aber halten wir immer noch an dem Begriff des „freien Willens“ fest, wenn doch die Wissenschaft seine konventionelle Bedeutung entwertet hat? Manche Leute sind beeindruckt von ihrem Gefühl, wählen zu können, und sie müssen dieses Gefühl mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbaren. Andere warnen, dass man der Gesellschaft schade, wenn man den freien Willen als „Illusion“ bezeichnet. Nun, vielleicht werden Menschen, die glauben, sie seien Marionetten, ja Opfer eines lähmenden Nihilismus, und es fehlt ihnen der Wille, aus dem Bett zu kommen. Eine solche Haltung erinnert mich an den (wahrscheinlich nicht authentischen) Ausruf der Ehefrau des Bischofs von Worcester, als sie von Darwins Theorie hörte: „Du liebe Zeit, von den Affen abstammen! Hoffen wir, dass das nicht wahr ist, und falls es doch wahr ist, dann lass uns beten, dass es nicht allgemein bekannt wird“.

Jerry Coyne, Biologe, in What Scientific Idea Is Ready for Retirement?

Die Idee eines freien Willens ist so alt wie sie fest in unserem Denken verwurzelt ist. Schon im Alten Testament findet sich die Vorstellung, dass die Menschen in der Lage seien, Entscheidungen zu treffen, für die man sie verantwortlich machen kann. Denken Sie nur an Adam und Eva und ihre Entscheidung, von der verbotenen Frucht zu essen. Oder an Abrahams Entscheidung, seinen Sohn Isaak zu opfern. In modernen Gesellschaften hat die Willensfreiheit eine zentrale Bedeutung für die Praxis, uns gegenseitig zu loben und zu tadeln oder die Verantwortung für Handlungen zuzuschreiben. Könnten wir jemanden für ein Tun verantwortlich machen, das er nicht frei gewählt hat? Wäre es gerechtfertigt, ihm dafür die Schuld zu geben? Versuchen Sie sich nur vorzustellen, wie das Strafrecht aussehen müsste, wenn die Gesellschaft die Ansicht akzeptierte, dass es nicht in der Hand des Menschen liegt, welche Entscheidungen er trifft. Wie könnte ein Gericht jemanden für eine Handlung verurteilen, die er nicht selbst frei gewählt hat? Ohne freien Willen käme unser gewöhnlicher Begriff von Verantwortung in Verlegenheit.

Die Willensfreiheit ist Kernbestandteil unseres Selbstverständnisses als handelnde Personen, die fähig sind, sich zu überlegen, wie sie handeln sollen. Wenn es nicht in unserer Hand liegt zu wählen, hat es keinen Sinn zu fragen „Was soll ich tun?“. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir handeln sollen, welchen Karriereweg wir einschlagen, welches Projekt wir verfolgen, wen wir heiraten oder ob wir jemandem in Not helfen sollen, setzt dies voraus, dass wir verschiedene Handlungsoptionen als echte Möglichkeiten erkennen, zwischen denen wir wählen können. Ansonsten wäre jedes Nachdenken darüber zwecklos. Unser Verständnis, was es heißt zu handeln, ist untrennbar mit der Vorstellung verbunden, dass wir, zumindest im Prinzip, in der Lage sind, eine echte Wahl zu treffen.

Aber die Idee der Willensfreiheit ist höchst umstritten. Philosophen debattieren seit langem, ob es einen freien Willen geben kann, wenn die Welt deterministisch ist. Unter „Determinismus“ versteht man die Auffassung, dass die Zukunft durch die Vergangenheit vollständig bestimmt ist: Wenn der Anfangszustand der Welt gegeben ist, sagen wir, zum Zeitpunkt des Urknalls, so laufen alle nachfolgenden Ereignisse in einer vorherbestimmten, von den Naturgesetzen geregelten Weise ab, wie in einem mechanischen Uhrwerk. Die Idee eines deterministischen Universums ist uns vom Weltbild der Aufklärung her vertraut. Wir verbinden sie mit Denkern wie Isaac Newton, Pierre Laplace und, im 20. Jahrhundert, Albert Einstein. In einem deterministischen Universum gäbe es anscheinend keinen Platz für eine freie Wahl. Alles, was wir tun, wäre lange vor unseren Handlungen vorherbestimmt worden. Dass Sie jetzt gerade diese Zeilen lesen, wäre eine zwangsläufige Konsequenz aus dem anfänglichen Zustand der Welt zum Zeitpunkt des Urknalls und der Naturgesetze. Auch Ihre Entscheidung, welcher Partei Sie bei der nächsten Wahl Ihre Stimme geben werden, wäre nicht weniger vorherbestimmt als die nächste vollständige Sonnenfinsternis in Deutschland. (Sie soll, falls es Sie interessiert, am 3. September 2081 stattfinden.)

Doch nicht nur der Determinismus gefährdet den freien Willen. Selbst wenn das Universum nicht deterministisch ist und die Zukunft tatsächlich offen, heißt das nicht automatisch, dass es in unserer Hand liegt, wie wir uns entscheiden. Unsere Entscheidungen könnten stattdessen ein Produkt des Zufalls sein oder durch Faktoren verursacht werden, über die wir keine Kontrolle haben, wie etwa durch unterbewusste Zustände unseres Gehirns. In den letzten Jahren haben immer mehr Wissenschaftler behauptet, der freie Wille passe nicht in unser modernes wissenschaftliches Weltverständnis. Ihrer Ansicht nach werden die Entscheidungen der Menschen auf rein physikalische Weise durch die neuronale Tätigkeit unseres Gehirns hervorgebracht; und es ist unklar, welche Rolle intentionale Entscheidungen dabei spielen sollen. Die Zitate am Anfang der Einleitung veranschaulichen diese Auffassung. Wenn alles, was in der Welt geschieht, durch physikalische Gesetze bestimmt ist und wir Teil dieser Welt sind, dann ist es kaum plausibel, dass unsere Entscheidungen tatsächlich unsere Entscheidungen sind: „Wir haben nicht die Freiheit, die wir zu haben glauben“, wie Sam Harris es formuliert.

Selbst Geisteswissenschaftler haben die Gefahr erkannt. Der Historiker Yuval Noah Harari zum Beispiel schreibt:

„Der Humanismus steht jetzt vor einer existenziellen Herausforderung und die Vorstellung von einem ‚freien Willen‘ ist in Gefahr. Wissenschaftliche Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns legen nahe, dass unsere [Gedanken und] Gefühle keine geistigen Qualitäten sind, die allein dem Menschen zukommen, sondern biochemische Mechanismen, die bei allen Säugetieren und Vögeln der Entscheidungsfindung dienen, indem sie die rasche Berechnung von Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeiten ermöglichen. […] Die Humanisten dachten zwar fälschlicherweise, dass unsere Gefühle einen geheimnisvollen ‚freien Willen‘ widerspiegeln. Aber in der Praxis war der Humanismus bisher durchaus sinnvoll. Denn obwohl unsere Gefühle nichts Magisches an sich haben, waren sie bisher das beste Verfahren zur Entscheidungsfindung, das es im Universum gab. […] Selbst wenn die katholische Kirche oder der sowjetische KGB mich jeden Tag und jede Minute ausspionierten, fehlten ihnen doch das biologische Wissen und die Rechenkapazitäten, die man benötigt, um die biologischen Vorgänge zu berechnen, die meine Wünsche und Entscheidungen formen. […] Inzwischen aber haben die Kirche und der KGB ihren Platz für Google und Facebook geräumt [die das menschliche Verhalten mithilfe der Wissenschaft und großer Datenmengen vorhersagen können], und damit verliert der Humanismus seine praktischen Vorteile.“1

Kurzum, das Bild vom Menschen als einem handelnden Wesen mit dem Vermögen freier Wahl steht vor dem Aus. Der freie Wille gehört allem Anschein nach zu einer überholten Weltsicht.

Ziel dieses Buches ist es, eine Strategie zu entwickeln, mit der man den wissenschaftlichen Herausforderungen für den freien Willen begegnen kann. Ich möchte ein Bild des freien Willens verteidigen, welches trotz der ungeheuren Beachtung, die diese Thematik erfahren hat, weitestgehend unbemerkt geblieben ist. Dieses Bild fasst den freien Willen als ein „höherstufiges“ Phänomen auf: als ein Phänomen, das nicht auf der Ebene der Physik zu finden ist, sondern auf der der Psychologie, insbesondere auf der Ebene intentionaler Akteure, die wie wir zielgerichtet handeln. Der freie Wille, so werde ich argumentieren, befindet sich in der Gesellschaft anderer Phänomene, die aus der physikalischen Welt hervorgehen oder emergieren, die man mit den Begrifflichkeiten der physikalischen Grundlagenwissenschaft aber nur unzulänglich verstehen kann. Vertraute Beispiele von emergenten Phänomenen sind die lebenden Organismen und Ökosysteme, mit denen sich die Biologie beschäftigt, die geistigen Phänomene, die Gegenstand der Psychologie sind, sowie die Institutionen, Kulturen und der Markt im Bereich des Sozialen. All diese Phänomene emergieren zwar aus physikalischen Prozessen, wir müssen jedoch aus der Physik heraustreten, um sie zu verstehen. Würden wir sie nur durch die Linse der physikalischen Gesetze betrachten, die das Verhalten von Teilchen und Molekülen bestimmen, wäre unser Erkenntnisgewinn gering.

Skeptiker der Willensfreiheit gehen typischerweise von der Prämisse aus, dass der freie Wille eine bestimmte Eigenschaft E erfordere, wobei E folgendes sein kann:

•intentionales, zielgerichtetes Handeln;

•alternative Möglichkeiten, zwischen denen die handelnde Person wählen kann;

•die Verursachung der resultierenden Handlungen durch mentale Zustände dieser Person, insbesondere durch ihre Intentionen.

Sodann behaupten die Skeptiker, die Physik oder eine andere Grundlagenwissenschaft zeige, dass es unter den fundamentalen Eigenschaften der Welt eine Eigenschaft wie E nicht gebe. Vielleicht handele es sich bei E lediglich um eine zweckmäßige Fiktion unseres vorwissenschaftlichen Denkens – um einen bloßen „Alltagsbegriff“. Wenn E also für die Willensfreiheit unabdingbar ist, dann gibt es der Wissenschaft zufolge keinen freien Willen.2

Verschiedene Argumente gegen die Existenz des freien Willens nehmen verschiedene Substitutionen für E ins Visier. Einige behaupten, intentionales Handeln sei eine Illusion, andere, dass es in einer deterministischen Welt keine alternativen Möglichkeiten geben könne. Wieder andere beharren darauf, dass unsere Intentionen niemals unsere Handlungen verursachen: Wenn ich handle, so ist es mein Gehirn, das mich zu meinem Tun veranlasst.3 Allen diesen Argumenten ist gemeinsam, dass sie der Eigenschaft E keinen Platz in einer wissenschaftlichen Weltsicht einräumen.

Dem werde ich entgegnen, dass es durchaus wahr sein mag, dass es auf der fundamentalen physikalischen Ebene keine Eigenschaft wie E gibt. Daraus folgt jedoch nicht, dass es E überhaupt nicht gibt. Der freie Wille und seine Voraussetzungen – intentionales Handeln, alternative Möglichkeiten und die kausale Kontrolle über unsere Handlungen – sind höherstufige Phänomene. Deshalb sind sie aber nicht weniger real. Wenn wir auf der physikalischen Ebene nach dem freien Willen suchen, dann suchen wir schlicht am falschen Ort. In den folgenden Kapiteln werde ich diese Erwiderung im Einzelnen entwickeln. Einstweilen möchte ich die Kernidee kurz umreißen.

Beginnen wir mit dem Begriff der Ebenen beziehungsweise Stufen.4 Tatsachen über die Welt weisen, ganz generell und nicht nur diejenigen, die das menschliche Handeln und den freien Willen betreffen, eine Schichtung in Ebenen auf. In den Wissenschaften entsprechen „Ebenen“ den verschiedenen Weisen, die Welt zu beschreiben. Um beispielsweise die grundlegenden Naturgesetze zu verstehen, machen wir von fundamentalen physikalischen Beschreibungen Gebrauch, wobei wir uns auf die besten physikalischen Theorien stützen. Wir verwenden Begriffe wie Teilchen, Felder und Kräfte und formulieren eine Vielzahl von Gleichungen, die beschreiben, wie sich physikalische Systeme im Laufe der Zeit entwickeln. Wenn wir hingegen chemische und biologische Phänomene verstehen wollen, müssen wir über die Grundlagenphysik hinausgehen. Moleküle, Zellen und Organismen weisen Strukturen und Regularitäten auf, die nur auf einer anderen Beschreibungsebene, unter Verwendung eines anderen Begriffsrepertoires als dem der Grundlagenphysik, erfasst werden können. Selbst eine so einfache Eigenschaft wie Azidität (d.h. der Säuregehalt) kann, wie Wissenschaftstheoretiker betonen, nicht befriedigend beschrieben werden, wenn lediglich die Begriffe der Grundlagenphysik zur Verfügung stehen.5 Es gibt keine leicht beschreibbare Konfiguration von fundamentalen physikalischen Eigenschaften, die genau der chemischen Eigenschaft der Azidität entspräche. Es gibt insbesondere kein „Übersetzungsschema“, mit dem sich die Rede von Azidität vollständig in die Rede von Teilchen, Feldern und Kräften übertragen ließe. Damit wir über Azidität angemessen sprechen können, benötigen wir die Begriffe und Kategorien der Chemie. Dabei haben wir es hier, verglichen mit anderen, komplexeren chemischen und biologischen Phänomenen, noch mit einem einigermaßen elementaren Phänomen zu tun.

Wer bezweifelt, dass wir über die Grundlagenphysik hinausgehen müssen, um Klarheit über die Welt zu gewinnen, möge versuchen, Phänomene wie Zellteilung, genetische Vererbung und Evolution zu erklären, indem er allein auf Moleküle, Atome und andere Elementarteilchen Bezug nimmt. Jede lebendige Zelle besteht aus Milliarden oder Billionen von Atomen, und ein Organismus besteht aus Milliarden oder Billionen von Zellen.6 Selbst ein Supercomputer hätte Mühe bei der astronomischen Aufgabe, die Vorgänge innerhalb eines einzigen Organismus auf atomarer oder molekularer Ebene zu berechnen. Und selbst wenn diese Schwierigkeit entgegen aller Wahrscheinlichkeit überwunden werden könnte, vielleicht unter massivem Einsatz von verteiltem Rechnen im Internet, so würde doch eine rein mikrophysikalische Beschreibung von Phänomenen wie der Zellteilung, der genetischen Vererbung oder der Evolution daran scheitern, viele der Regularitäten auf makroskopischer Ebene, die uns eigentlich interessieren, überhaupt wahrzunehmen. Ja, eine solche Beschreibung würde uns überhaupt nicht dabei helfen, die betreffenden Phänomene zu verstehen. Es würde nur dazu führen, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

Sobald wir uns nun aber dem Menschen und seinem intentionalen Handeln zuwenden, erweisen sich fundamentale physikalische Beschreibungen als ganz und gar inadäquat. In der Sprache der Grundlagenphysik können wir nicht einmal von Tischen, Bäumen und anderen gewöhnlichen Gegenständen sprechen, sondern nur von Teilchen, Feldern oder Kräften. Wenn wir danach streben, Menschen und ihre Handlungen zu verstehen, benötigen wir psychologische Beschreibungen, Beschreibungen also, die sich auf Gedanken, Präferenzen sowie Wünsche, Ziele und Absichten beziehen.

Ich werde den Ausdruck „tieferstufige Beschreibungen“ verwenden, wenn ich von Beschreibungen auf der fundamentalen physikalischen Ebene oder einer anderen Mikroebene, z. B. derjenigen der Molekularchemie, spreche. Und den Ausdruck „höherstufige Beschreibungen“ gebrauche ich zur Bezeichnung von Beschreibungen auf der makroskopischen Ebene, wie etwa in der Biologie, Psychologie und Soziologie. Jegliches Phänomen, das allein durch höherstufige Beschreibungen richtig erfasst werden kann, werde ich ein „höherstufiges Phänomen“ nennen. Höherstufige Beschreibungen sind also Kennzeichen für höherstufige Phänomene. Höherstufige Phänomene sind allgegenwärtig; sie durchdringen einen Großteil unserer menschlichen Umwelt. Von der DNA bis zum Wetter fällt alles in diese Kategorie, auch das Phänomen des intentionalen Handelns selbst und die damit verbundenen Erscheinungen des Denkens, Glaubens, Wünschens, Beabsichtigens und Wählens. Selbstverständlich sind die Begriffe „tieferstufig“ und „höherstufig“ relativ. Die Neurowissenschaft operiert auf einer tieferen Ebene als die Kognitionspsychologie, aber auf einer höheren als die Grundlagenphysik.7

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der freie Wille ein ausgesprochen höherstufiges Phänomen ist. Es sollte uns daher nicht überraschen, wenn das Vermögen freier Wahl einer Person nirgendwo auf der physikalischen Ebene zu finden ist, nicht einmal auf neurophysiologischer Ebene. Dass wir die menschliche Freiheit auf dieser Ebene nicht finden können, zeigt nur, dass der freie Wille kein physikalisches oder neurophysiologisches Phänomen ist; es zeigt hingegen nicht, dass er kein reales Phänomen ist.

Höherstufige Phänomene sind natürlich keine freischwebenden Erscheinungen. Jedes höherstufige Phänomen ist abhängig von dem, was auf der physikalischen Ebene vor sich geht: Es „superveniert“ auf ihr, wie die Philosophen sagen.8 Wenn eine chemische Reaktion abläuft, eine Zellteilung stattfindet oder eine Person eine Handlung vollzieht, handelt es sich dabei letztlich um das Ergebnis eines zugrunde liegenden physikalischen Vorgangs. Ohne diesen Vorgang gäbe es keine chemische Reaktion, keine Zellteilung und keine menschliche Handlung. Das sagt uns die wissenschaftliche Weltsicht. Alle höherstufigen Phänomene sind im Grunde auf das Zusammenwirken von Teilchen, Feldern und Kräften zurückzuführen.

Obgleich höherstufige Phänomene auf fundamentalen physikalischen Phänomenen supervenieren, sind sie dadurch, und das ist wichtig, nicht weniger real. Die Wirtschaft beispielsweise ist letztlich das Ergebnis zugrunde liegender physikalischer Vorgänge; ohne diese Vorgänge gäbe es überhaupt kein Leben auf diesem Planeten, und ohne Leben gäbe es keine Wirtschaft. Dennoch würden wir niemals denken, dass Phänomene wie der Zins, die Inflation und die Arbeitslosigkeit nicht wirklich existieren. Es wäre zum Beispiel ein Fehler, den kausalen Zusammenhang zwischen Geldpolitik und Inflation zu übersehen, und es wäre absurd zu behaupten, dass es in Wirklichkeit keine Arbeitslosigkeit gebe, nur weil Arbeitslosigkeit ein höherstufiges Phänomen ist, oder zu sagen, sie sei weniger real als die kinetische Energie oder der Elektromagnetismus. Unterm Strich weisen höherstufige Phänomene ihre eigenen Regularitäten auf und fungieren als Ursachen und Wirkungen anderer Phänomene. Würden wir diese Regularitäten nicht anerkennen, so würden wir viele signifikante Aspekte der Welt übersehen.

Dementsprechend werde ich davon ausgehen, dass ein Phänomen dann als real gelten muss, wenn das Anerkennen seiner Existenz für unsere Erklärungen unentbehrlich ist: Würden wir das fragliche Phänomen nicht anerkennen, so würden wir den infrage stehenden Bereich nicht adäquat erklären. Wir kennen dieses Wirklichkeitskriterium aus den Wissenschaften, besonders den Naturwissenschaften. Es hat seine Wurzeln in einer „naturalistischen ontologischen Einstellung“, wie sie manchmal genannt wird: der Ansicht, dass die wissenschaftliche Methode ein guter Leitfaden zur Beantwortung ontologischer Fragen ist, das heißt zu den Fragen, was es gibt und was es nicht gibt.9 Zudem wäre es ein Fehler, das naturalistische Wirklichkeitskriterium ausschließlich auf den Bereich der Grundlagenphysik anzuwenden. Es ist vielmehr ebenso auf die Bereiche der Spezialwissenschaften anwendbar, von der Biologie und der Geologie bis zu den Human- und Sozialwissenschaften.

Der Zins, die Inflation und die Arbeitslosigkeit genügen alle diesem Wirklichkeitskriterium, ebenso wie die gewöhnlichen Gegenstände von größerer Ausdehnung und ihre verschiedenen Eigenschaften: Wir haben gute wissenschaftliche Gründe dafür, sie als real existierend anzuerkennen. Ich werde zeigen, dass auch das Phänomen des intentionalen, zielgerichteten Handelns diesen Test besteht. Obschon intentionales Handeln das Resultat physikalischer und biologischer Vorgänge im Gehirn und Körper einer Person ist, können wir seine Realität nicht ernsthaft leugnen. Wie sich eine Person verhält, lässt sich für gewöhnlich am besten verstehen, wenn man ihr Verhalten als Handeln begreift. Die Überzeugungen, Wünsche und Absichten der Menschen veranlassen sie dazu, auf bestimmte Weise zu handeln, und wir wären nicht imstande, diesen Sachverhalt angemessen zu verstehen, wenn wir eine Person als nichts Anderes betrachten würden als eine Ansammlung wechselseitig aufeinander einwirkender Teilchen.

Warum erscheinen die Menschen beispielsweise morgens an ihrem Arbeitsplatz, es sei denn, sie sind krank, im Urlaub oder hatten einen Unfall? Warum engagieren sich manche Leute politisch? Warum beschäftigen sie sich mit Kultur? Warum brechen manche Menschen das Gesetz, aber seltener dann, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie dabei gefasst werden? Die Antworten auf diese Fragen liegen in den Überzeugungen, Wünschen und Absichten der Menschen sowie in den Praktiken und Anreizen, die ihr Leben bestimmen. Menschen reagieren auf die Situationen, in denen sie sich befinden, auf eine mehr oder weniger verständliche Weise, und die Entscheidungen, die sie treffen, sind ihrerseits durch bestimmte Normen und Konventionen in ihrer sozialen Umwelt beeinflusst. All das lässt sich sinnvoll und angemessen beschreiben, wenn wir die Begriffe und Kategorien der Psychologie und Sozialwissenschaften verwenden, in denen Menschen als zielgerichtete Akteure betrachtet werden, deren Handlungen von ihren intentionalen geistigen Zuständen geleitet sind. Wenn wir hingegen versuchten, Personen als Ansammlungen interagierender Teilchen anzusehen, würden wir uns auf die falsche Beschreibungsebene begeben. Statt das Verhalten einer Person als eine verständliche Reaktion auf seine oder ihre Situation in der Welt aufzufassen, müssten wir die astronomisch komplexen Vorgänge im Gehirn oder Körper rekonstruieren. Dabei würden uns diejenigen psychologischen und sozialen Regularitäten entgehen, an denen wir eigentlich interessiert sind.

Sobald wir die richtigen Lehren aus diesen Überlegungen ziehen, können wir erkennen, dass intentionales Handeln ein reales Phänomen ist. Die Anerkennung seiner Existenz ist nicht nur wissenschaftlich respektabel, sondern für viele Erklärungszwecke unverzichtbar. Intentionales Handeln ist folglich nicht weniger real als andere von den Wissenschaften anerkannte makroskopische Phänomene, angefangen von der Festigkeit von Oberflächen bis zu klimatischen Regelmäßigkeiten. Ich werde dafür argumentieren, dass dies auch für die anderen notwendigen Voraussetzungen für die Willensfreiheit gilt. Die Fähigkeit einer Person, zwischen verschiedenen Handlungsoptionen – alternativen Möglichkeiten – zu wählen, ist ebenso ein reales Phänomen wie die kausale Kontrolle einer Person über ihre Handlungen.

All das zusammengenommen ebnet den Weg für eine Verteidigung des freien Willens als einem höherstufigen Phänomen, eine Verteidigung, und das ist entscheidend, die mit der wissenschaftlichen Weltsicht vereinbar ist. Ich werde die daraus resultierende Auffassung des freien Willens als „kompatibilistischen Libertarismus“ bezeichnen:

•„kompatibilistisch“ aufgrund ihrer Vereinbarkeit mit der Wissenschaft einschließlich des physikalischen Determinismus; und

•„Libertarismus“ aufgrund ihrer Festlegung darauf, dass Willensfreiheit die echte Fähigkeit beinhaltet, zwischen verschiedenen Handlungen zu wählen.10

Eine Anmerkung zu dieser Terminologie sollte ich jedoch noch hinzufügen. Während der Ausdruck „kompatibilistisch“ keinen Anlass zu Missverständnissen geben sollte, wird das Wort „Libertarismus“ unglücklicherweise in zwei Bedeutungen verwendet. In der Debatte über Willensfreiheit bezeichnet es jene philosophischen Ansichten, denen zufolge es den freien Willen wirklich gibt und dieser alternative Möglichkeiten einschließt. Das ist die hier beabsichtigte Bedeutung. In der politischen Philosophie hingegen wird derselbe Ausdruck gewöhnlich zur Bezeichnung bestimmter politischer Auffassungen gebraucht, welche die Freiheit als den zentralen politischen Wert betrachten und mit Denkern wie z. B. John Locke und Robert Nozick verknüpft sind. Aus dem Libertarismus bezüglich der Willensfreiheit folgt nicht der Libertarismus im politischen Sinne, mit dem er nicht verwechselt werden sollte. In diesem Buch werde ich die Ausdrücke „Libertarismus“ und „libertarisch“ nur in ihrem nichtpolitischen Sinn verwenden. Leser, denen das Etikett „kompatibilistischer Libertarismus“ missfällt, könnten stattdessen den Begriff „Willensfreiheitsemergentismus“ verwenden, der ebenfalls hervorhebt, was für das von mir verteidigte Bild des freien Willens bezeichnend ist.11

Mein Argument für den freien Willen hat die folgende Struktur. In Kapitel 1 werde ich die Idee der Willensfreiheit ausführlicher vorstellen und die drei meiner Ansicht nach gemeinsam notwenigen und hinreichenden Bedingungen für den freien Willen diskutieren: intentionales Handeln, alternative Möglichkeiten und die kausale Kontrolle über unsere Handlungen. Diese Bedingungen, so meine Behauptung, bringen zum Ausdruck, was für einen freien Willen in einem einigermaßen geläufigen Sinn erforderlich ist. In Kapitel 2 werde ich drei wissenschaftlich motivierte Herausforderungen für den freien Willen darstellen, und zwar für jede der drei Bedingungen eine. Diese Herausforderungen zeigen vermeintlich, dass diese Bedingungen nicht erfüllbar sind, wenn die Welt dem Bild entspricht, welches sich die Wissenschaft von ihr macht. Ich nenne sie „die Herausforderung des radikalen Materialismus“, „die Herausforderung des Determinismus“ und „die Herausforderung des Epiphänomenalismus“. In den Kapiteln 4, 5 und 6 werde ich dann meine Verteidigung der Willensfreiheit präsentieren, wobei ich jeder dieser Herausforderungen ein Kapitel widme. Dabei werde ich nicht nur erläutern, weshalb jede dieser Herausforderungen fehlschlägt, sondern auch in konstruktiver Weise für einen freien Willen plädieren. Zum Abschluss des Buches werde ich einige allgemeine Anmerkungen zu dem sich daraus ergebenden Bild der Willensfreiheit machen.

Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist ehrgeizig, und ich sollte betonen, was das Buch nicht zu leisten vermag. Erstens kann ich keine voll ausgearbeitete Theorie des freien Willens präsentieren, sondern nur die zentralen Ideen einer solchen Theorie verständlich machen, zumal ich das Buch relativ kurz halten werde. Die Entwicklung einer umfassenden Theorie des freien Willens würde weit über den Umfang einer einzigen Arbeit hinausgehen; sie wäre eine Leistung, die nur von vielen Forschern gemeinsam, in einer Vielzahl von Disziplinen, erbracht werden könnte.

Zweitens beruht das von mir entworfene Bild des freien Willens auf bestimmten empirischen Prämissen. Einige meiner Behauptungen sind nur dann korrekt, wenn diese Prämissen wahr sind; und ein Beweis ihrer Wahrheit würde den Umfang dieses Buches sprengen. Das letzte Wort hat hier die Wissenschaft. Dass meine Auffassung falsch sein könnte, spricht allerdings für sie. Wenn jemand fragt: „Was müsste der Fall sein, damit diese Auffassung falsch ist?“, so kann ich ihm seine Frage beantworten. Wie für andere wissenschaftliche Theorien gilt auch für meine Theorie eine Art von Falsifikationsbedingung.

Drittens werde ich mich auf die Architektur der, wie ich meine, korrekten Auffassung des freien Willens konzentrieren und nicht auf ihre Details. Wie schon gesagt lautet meine zentrale These, dass der Schlüssel zur Versöhnung von Willensfreiheit und wissenschaftlicher Weltsicht darin liegt, zwischen Phänomenen verschiedener Ebenen zu unterscheiden. Ich werde erklären, wie eine solche Unterscheidung es erlaubt, im Verständnis der Willensfreiheit Fortschritte zu erzielen. Indessen könnte es auch andere Möglichkeiten geben, eine Theorie des freien Willens um dieses Gerüst herum zu entwickeln. Meine Hauptthese, dass der freie Wille ein höherstufiges Phänomen ist, lässt sich mit einer Reihe unterschiedlicher Ausarbeitungen der Einzelheiten einer solchen Theorie in Einklang bringen.

Viertens schließlich werde ich mich dem Thema des freien Willens aus der Perspektive der Dritten Person nähern, das heißt der Perspektive eines externen Beobachters, der untersucht, was es heißt, dass ein Handelnder einen freien Willen hat, und nicht aus der Perspektive der Ersten Person, das heißt der internen Perspektive des Besitzers des freien Willens selbst. Ein Großteil der Wissenschaften teilt diese Perspektive der Dritten Person, wenn auch nicht alle philosophischen Ansätze. Die Phänomenologie beispielsweise untersucht, wie unsere Erfahrung der Welt aus der Perspektive der Ersten Person beschaffen ist. Vielleicht muss eine vollständige Theorie des freien Willens dieses Phänomen nicht nur von außen, sondern auch von innen analysieren. Und es ist sicherlich eine wichtige Frage, wie sich der freie Wille zum Bewusstsein der Ersten Person verhält. Diese Frage muss ich jedoch zurückstellen, obwohl ich hoffe, dass meine Analyse mit zukünftigen Untersuchungen aus der Perspektive der Ersten Person vereinbar ist.

Bei der Entwicklung meiner Argumente stehe ich auf den Schultern von anderen. Die Literatur zur Willensfreiheit ist umfangreich und anspruchsvoll, und es gibt kaum eine Idee in diesem Bereich, die ganz und gar originell wäre. Tatsächlich habe ich lange gezögert, dieses Buch zu schreiben, da ich die Fülle von Arbeiten zu diesem Thema überwältigend fand.12 Seit 2011 habe ich jedoch frühere Fassungen meiner Ideen in einer Reihe von Artikeln und Vorträgen vorgestellt, zu denen auch gemeinsam mit Peter Menzies und Wlodek Rabinowicz verfasste Artikel gehören.13 Die Rückmeldungen auf diese Arbeiten haben mich ermutigt, diese Ideen weiterzuentwickeln.

Zu den Wegbereitern für meine Konzeption des freien Willens gehören die Arbeiten von Anthony Kenny, der in den 1970er Jahren den freien Willen mit Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen der physiologischen und der psychologischen Ebene verteidigte, wobei er dafür argumentierte, dass der Determinismus auf physiologischer Ebene den freien Willen auf der psychologischen Ebene nicht ausschließt.14 Dazu gehören auch die Arbeiten von Daniel Dennett, der, vor allem in seinem Buch von 2003, die Ansicht vertrat, die Freiheit, wie das Leben selbst, sei „ein Produkt der Evolution“, auch wenn die zugrunde liegende Physik deterministisch ist.15 Und bereits in den 1960er Jahren hatte A.I. Melden die Behauptung aufgestellt, dass physikalische Beschreibungen das Phänomen freien Handelns nicht adäquat erfassen, obwohl er nicht genau erklärte, wie freies Handeln in eine physikalische Welt passt.16

Meine These, dass der Fehler in einigen Argumenten gegen den freien Willen in der Vermischung von Ebenen liegt, nämlich der physikalischen Ebene und der Handlungsebene, ist auch ein Echo auf die von Mark Siderit in einem Artikel aus dem Jahre 2008 aufgestellte Behauptung, dass „die Illusion des Inkompatibilismus nur dann entsteht, wenn wir illegitimerweise zwei unterschiedliche Vokabulare miteinander vermischen, eines, das von Personen handelt, und ein anderes, das von den Teilen handelt, auf die Personen reduzierbar sind“. Siderits charakterisiert seinen Ansatz als „paläokompatibilistisch“.17

In den letzten Jahren haben Philosophen und Philosophinnen wie Mark Balaguer, Carl Hoefer, Jenann Ismael, Robert Kane, Alfred Mele, Eddy Nahmias, Adina Roskies sowie Helen Steward unser Verständnis der Willensfreiheit aus einer wissenschaftlich fundierten Perspektive beträchtlich erweitert, und der von mir vertretene Ansatz weist Überschneidungen mit ihren Ansätzen auf.18 Mit meinem Versuch, libertarische und kompatibilistische Vorstellungen des freien Willens zu verbinden, stehe ich ebenfalls nicht alleine. Zu den anderen, die dies versucht haben, wenn auch auf etwas andere Weise, gehören Kadri Vihvelin, die eine Auffassung des freien Willens vertreten hat, die sie „libertarischen Kompatibilismus“ nennt; Helen Beebee und Alfred Mele, die dafür argumentieren, dass eine bestimmte, von David Hume inspirierte Form des Kompatibilismus dem Libertarismus in mancher Hinsicht ähnlich ist; und Bernard Berofsky, ein weiterer Verteidiger eines Kompatibilismus humescher Prägung, der libertarische Intuitionen ernst nimmt.19 Und schließlich liegt mein Ansatz auch mit den Ansichten einiger nichtreduktionistisch gesinnter Physiker auf einer Linie.20

Trotz dieser anderen Arbeiten stellte ich jedes Mal, wenn ich einen Vortrag über Willensfreiheit hielt oder jemand meine Artikel kommentierte, fest, dass man meine Ideen für provokativer und innovativer hielt, als ich dies erwartet hätte. Und so kam ich zu dem Schluss, dass es sich lohnen könnte, meine Ideen in der Form eines Buches zu präsentieren. Es ist in einem eher informellen, weniger technischen und verklausulierten Stil gehalten, in der Hoffnung, dass es für einen interessierten Laien anregend und einigermaßen zugänglich ist.

Warum der freie Wille existiert

Подняться наверх