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Anna

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Meine ersten Erinnerungen sind ziemlich schwach. Nur langsam formen sich Bilder. Eindrücke, Erinnerungen. Die mit Abstand wichtigste Person, die für mich mehr Mutter als Schwester war, ist Anna. Ohne sie wäre ich irgendwo dahinvegetiert und bestimmt früh gestorben. Aber Gott sei Dank hatte sie sich um mich gekümmert. So lange sie lebte. Dafür werde ich sie immer lieben und verehren. Leider habe ich sie später einmal sehr verärgert und ihr großes Unheil zugefügt. Das tut mir immer noch aufrichtig leid. Wenn ich an Anna denke, wünsche ich mir immer öfters das Geschehene rückgängig zu machen. Nur ihretwegen. Doch damals war mir nicht bewusst wie die Ereignisse sie treffen würden. Aber das ist alles sehr lange her. Alles der Reihe nach.

Meine Aufzeichnungen habe ich später verfasst. An meinem wohlverdienten Lebensabend. Ich liege schon seit geraumer Zeit in einem Altenheim. Gut gepflegt. Man kann nichts schlechtes sagen. Mir geht es gut. Womöglich habe ich manche Erlebnisse weggelassen, vielleicht weil sie mir nicht wichtig genug waren. Aber die wichtigsten Stationen meines Lebens habe ich notiert. Mein Gedächtnis funktioniert immer noch hervorragend. Die Geschichten die ich nachfolgend beschreibe sind noch so lebendig in mir, als wäre es gerade eben geschehen. Schade, dass mir jetzt im hohen Alter, in dem ich mehr oder weniger gezwungen bin, tagaus, tagein untätig herum zu liegen, das Leben draußen in der Welt ohne mich, ohne meine Mitwirkung abspielt. Im Grunde ist mein jetziger Zustand vergleichbar mit meiner Kindheit.

In die Schule wurde ich natürlich nicht geschickt. Wie denn auch. Der Weg dahin wäre für mich niemals zu bewältigen gewesen. Meine Geschwister mussten den Weg zur Dorfschule Sommers wie Winters zu Fuß gehen. Das waren damals einige Kilometer Fußmarsch. Außerdem schämte sich fast die ganze Familie für mich. Ich sollte so wenig wie möglich mit den anderen Dorfbewohnern in Kontakt treten. Auch Anna wollte nicht, dass ich wie eine Kuriosität herumgezeigt wurde. Dafür war ich ihr das ganze Leben lang dankbar. Damals wie heute, bin ich nur in der Lage kurze Distanzen zu gehen. Auch das Sprechen, das ich als kleiner Junge angefangen hatte zu lernen, viel mir Anfangs viel zu schwer. Schnell reden, oder lange Sätze machen mir auch heute noch schwer zu schaffen.

Mein Atmungsrhythmus ist vermutlich genetisch bedingt so langsam, dass ich bei der geringsten Anstrengung keine Luft mehr habe um schnell zu sprechen. Ich habe mir so im Laufe meines Lebens angewöhnt, Unterhaltungen auf das Wesentliche zu reduzieren und nur das Nötigste zur Konversation beizutragen. Wer mich nicht kannte, nicht wusste, wer ich bin, gewann ansonsten gleich den Eindruck einer geistigen Behinderung. Denn wer sich mit Jacob Gurrer unbedingt länger unterhalten wollte, musste viel Zeit und Geduld mitbringen. Bei solchen Gesprächen zeigte ich allerdings meinen Gesprächspartnern, dass ich in keiner Weise einen geistigen Makel hatte. Im Gegenteil.

Zehn Jahre war ich nun schon alt. Zehn lange Jahre kümmerte sich Anna bereits um mich. Und ich war nur so groß wie ein vier- oder fünfjähriger Bub. Wer mich tatsächlich für nur fünf Jahre alt hielt, war allerdings erstaunt über meine geistige Entwicklung. Meine Schwester Anna brachte ungeheuer viel Mühe auf, mir etwas bei zu bringen. Meine geliebte treue Anna. Ich habe sie so geliebt. So geliebt wie nie einen anderen Menschen auf dieser Welt.

Immerhin funktionierte mein Gedächtnis so gut, dass ich mir unheimlich viel merken konnte. Selten vergaß ich etwas. Nur beim Rechnen hatte ich leider große Schwierigkeiten. Das dauerte einfach viel zu lange. Allerdings machte ich dabei niemals Fehler. Ich löste alle Aufgaben die sie mir stellten. Wenn ich genug Zeit hatte waren die Aufgaben kein Problem. Ich musste nur Zeit dafür haben. Ich glaube, die Leute wenn mir beim Rechnen zusahen, konnten sich vorstellen, wie sich die Zahlen in meinem Gehirn formierten. Wenn Anna und ich Rechnen übten, stellte sie mir eine Frage. Besser wäre es gewesen sie hätte mir die Fragen aufgeschrieben und ich hätte die Rechnung schriftlich erledigen können. Aber Papier war teuer und bei uns auf dem Bauernhof brauchte man im täglichen Leben kein Papier. Wozu auch? Meine Eltern konnten sowieso nicht Lesen und Schreiben. So blieb mir nichts anderes übrig als Kopfrechnen. Oft konnte ich Anna erst am nächsten Morgen mit dem richtigen Ergebnis überraschen. Nach dieser Nacht, dieser kleinen Ewigkeit, das richtige Ergebnis in meiner typischen Art, die ich mein Leben lang beibehielt, zwischen zwei langen Atemstößen auszusprechen, das war die größte Freude für mich. Manchmal benötigte ich sogar mehrere Anläufe um die Lösung aufzusagen. Da nahm sie mich immer in den Arm und drückte mich ganz fest. Das liebte ich so sehr an ihr. Sie war so heiß und roch wunderbar. Ich fühlte mich so geborgen und sicher wenn sie mich drückte.

Die Zeit verrann so unsagbar zäh, ohne dass sich viel in meinem Dasein änderte. Aber dann plötzlich, wie über Nacht, kam eine andere Zeit. Es passierte ein Unglück nach dem anderen. Als hätte das Schicksal mit dem Finger auf unsere Familie gedeutet um uns zu bestrafen. Wann es ganz genau angefangen hatte weiß ich nicht mehr, da wir keinen Kalender kannten. Ich weiß aber noch, es war kurz vor Pfingsten. Ich war gerade vierzehn Jahre alt geworden, da starb überraschend meine Mutter. Sie hatte ihr Leben lang schwer auf dem Bauernhof gearbeitet. Mit ihren 48 Jahren hatte sie ein Alter erreicht, in dem viele hart arbeitenden Menschen starben. Ihr Körper war durch das pausenlose Werkeln, das mit dem Sonnenaufgang begann und erst wenn es schon lange dunkel war endete, ausgelaugt.

Sie hatte keine Kraft mehr. Keine Kraft sich gegen Krankheiten zu wehren. Im Winter hatte sie angefangen zu Husten. Es hörte nicht mehr auf. Auch nicht als es wärmer wurde. Sie hustete und hustete unentwegt. Eines Morgens stand sie nicht auf. Sie blieb einfach im Bett liegen. Mein Vater schimpfte. Kein Mitleid, keine Liebe hatte er für seine Frau übrig. Anna erzählte mir die Mutter hätte es versucht, aber die Beine trugen sie nicht mehr. Am Abend lag sie im Sterben. Ich durfte nicht zu ihr. Sie hatten den Pfarrer gerufen. Der kostete wenigstens nichts. Als sie tot war, ging mein Vater mit meinen Brüdern in die Wirtschaft.

Spät in der Nacht kamen sie vollkommen betrunken nach Hause und veranstalteten ein großes Geschrei. Zwei Tage später war die Beerdigung. Anna bestand darauf mich mitzunehmen. Sie schmierte mich tüchtig mit der ekelhaften roten Salbe ein. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich in der Kirche war und einen Friedhof sah. Alle weinten viel. Man spürte die Trauer und das Mitgefühl. Die anderen Leute aus dem Dorf tuschelten trotzdem. Anna, meiner geliebten Anna war es egal. Unseren Brüdern und dem Vater nicht. Für meinen Vater war mit unserer Mutter vor allem eine Arbeitskraft gestorben, und erst an zweiter Stelle seine Frau. Nach der Beerdigung gingen die Männer alle ins Wirtshaus. Anna, meine Schwestern und die Mägde und ich natürlich fuhren wieder auf den Hof zurück. Es galt das Vieh zu versorgen und das Abendessen herzurichten. Für mich war es trotzdem einer der schönsten Tage die ich bisher erlebt hatte.

Die nächsten Jahre wurden nicht einfacher ohne meine Mutter, der Bäuerin. Mein Vater verbrachte leider viel Zeit im Wirtshaus. Nach dem Tod seiner Frau merkte er erst, was er an ihr hatte. Seine Kinder, außer mir natürlich, die Knechte und Mägde bewirtschafteten den Hof nun ohne ihn. Als er sich eines Tages besoffen auf den Heimweg machte, rutschte er beim Bieseln einen Abhang hinunter. Sein Rausch hinderte ihn daran sich abzustützen. Mit dem Kopf prallte er gegen einen Baum und zog sich einen Schädelbruch zu. Zusätzlich riss er sich noch den Unterschenkel auf. Aus einer langen Fleischwunde strömte unaufhaltsam sein Blut. Er verblutete in kurzer Zeit. Niemand hätte ihm helfen können. Nur zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter war nun auch mein Vater, der Bauer Josef Gurrer tot. Und ich war damals erst sechzehn Jahre alt.

Danach übernahm der älteste Sohn, mein Bruder Josef den elterlichen Hof. Auf die Übergabe des Hofes hatte der 27jährige Jungbauer sich gut vorbereiten können. In den letzten beiden Jahren nach dem Tod unserer Mutter, hatte er sowieso allein das Sagen. Der Bauer hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass ihm der Hof nicht mehr wichtig ist. Der Tod beider Elternteile war schon schlimm genug, doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Kurze Zeit später nahm sich Josef Gurrer nämlich eine Frau. Und damit war eine neue Bäuerin auf den Hof der Gurrers eingezogen. Mit diesem Tag begann für alle eine schwere Zeit. Vor allem für mich und Anna. Alles änderte sich. Viel zu schnell für mein Empfinden. Die Verhältnisse auf dem Hof waren wie ein täglicher Schlag in die Magengrube. Zum Kotzen würde man heute sagen.

Aber auch meine anderen Geschwister hatten es nicht leicht unter der Regie von Bauer Josef und seiner Frau. Sie war aus einer Bauernfamilie aus Fischbachau. Sie wollte vor allem den Hof für sich, ihren Mann den Bauer und ihre zukünftigen Kinder allein haben. Sie duldete uns anderen Geschwister nicht und behandelte uns denkbar schlecht. Unser Bruder Josef fügte sich ohne Widerrede ihren Wünschen. Eine tolle Familie hatte ich da. Sie drängte ihren Mann die Geschwister nach und nach fortzuschicken. Was hatte er da nur für eine Frau geheiratet?

Man glaubt es nicht, aber es dauerte nicht einmal ein halbes Jahr, dann hatte sie ihr Ziel erreicht und alle meine Geschwister waren vom Hof verschwunden.

Der dreiundzwanzigjährige Michael hatte schon seit längerer Zeit mit einer Bauerntochter in der Nähe angebandelt. Er hielt dort offiziell um ihre Hand an, und der Bauer war einverstanden. Sein Glück.

Max fand eine Anstellung als Bergmann in einem Bergwerk bei Holzkirchen. Ihm lag die Landwirtschaft eh nicht so im Blut. Die Arbeit im Bergwerk war noch anstrengender und Gesundheitsverzehrender als die Arbeit auf dem Feld. Aber er wollte es so.

Die Marie, zwanzig Jahre alt, verdingte sich als Magd in Bayrisch Zell, heiratete später ins Österreichische.

Theresa, die hübscheste, war erst achtzehn Jahre alt, sie wurde aber schon von einigen Bauernsöhnen heftig umworben. Bald hielt einer um ihre Hand an, und Josef willigte ein.

Anna, die bisher den Haushalt besorgt hatte, musste sich der neuen Frau ihres Bruders fügen. Sie hatte es am schwersten unter der Fuchtel der Bäuerin. Es gab eine Menge Streitereien auf dem alten Besitz. Anna, schon bald davon genervt, beschloss ebenfalls eigene Wege zu gehen. Ihr ein und alles war, Gott sei Dank ich. Sie wollte mich in jedem Fall mitnehmen. Einen größeren Gefallen konnte sie der neuen Bäuerin gar nicht tun. Sie war froh diesen unheimlichen, nutzlosen, blauen Bastard endlich loszuwerden. Ein Behinderter, der ewig ein Kind zu bleiben schien. Ich glaube, sie hasste mich nicht. Sie hatte Angst vor mir. Ich glaube, sie hatte Angst ich würde sie verhexen und Unglück über sie bringen. Dabei war sie selber ein Unglück.

Anna träumte seit ihrer Kindheit davon, Krankenschwester, oder Ärztin zu werden. Sie wurde im Kreiskrankenhaus Holzkirchen vorstellig. Krankenschwestern konnte man immer brauchen.

Im Februar 1821, an Lichtmess, dem traditionellen Stellenwechsel in Bayern, verließen wir den elterlichen Bauernhof. Es war ein Abschied in Bitterkeit. Anna hatte ihre und meine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt. Mit kurzen Worten und Handschlag gingen wir fort. Kein sehnsüchtiger Blick zurück. Anna war traurig und enttäuscht von ihrem Bruder.

Ein Knecht brachte uns ins Dorf. Von dort fuhren wir mit der Postkutsche nach Holzkirchen.

Am nächsten Tag schon begann sie im Hospital zu arbeiten. Sie wurde dort in die Heilkunde eingeführt. Da ich noch so klein war, durfte ich mit ihr zusammen im Schwesternheim wohnen. Anna erzählte niemanden wie alt ich in Wirklichkeit schon war. Das hätte einen Skandal verursacht. Wir hatten zusammen ein kleines Zimmer. Mich, den kleinen Jakob, der inzwischen 19 Jahre alt war, aber immer noch wie ein Schuljunge von 8 oder 10 Jahren aussah, nahm sie kurzerhand überall mit. Ich war, so sagten es jedenfalls alle, ein wunderschöner Junge geworden. Nichts Bäuerliches war an mir. Ich sah nicht nur aus als wäre ich blaublütig. Im wörtlichen Sinne war ich es auch. Die Mädchen und Frauen des Krankenhauses mochten mich allesamt. Trotz meiner blauen Haut schlossen sie mich, den kleinen Jungen in ihr Herz.

Wenn ich nicht mit Anna im Krankenhaus unterwegs war, saß ich meistens in unserem Zimmer. Das Krankenhaus hatte einen schönen Park. Dort setzte mich Anna auf eine Bank. Sie besorgte mir immer etwas zum Lesen. Mit anderen Kindern, die das Hospital als Besuch bevölkerten, spielen? Nein, das wollte ich nicht. Dafür fühlte ich mich nicht in der Lage und zu alt. Ich wollte mit anderen Kindern eigentlich nichts zu tun haben. Die anderen Kinder mit mir auch nicht.

Holzkirchen war trotzdem eine tolle Abwechslung. Nachdem ich praktisch die letzten 19 Jahre ausschließlich auf dem Hof verbrachte hatte und nichts anderes kannte als die Kammer, den Misthaufen, Heu und allerlei Nutztiere. Ich war heilfroh, endlich diesen Bauernhof mit der neuen Bäuerin verlassen zu können. Der derbe manchmal gemeine Ton den mir einige meiner Brüder und die Knechte jahrelang entgegenbrachten, war für mich die ganze Kindheit über schwer auszuhalten gewesen. Wie oft musste ich heimlich in der Nacht weinen. Immer wenn Anna eingeschlafen war. Dann kuschelte ich mich an ihren, für mein Empfinden heißen Körper und weinte mich in den Schlaf. Bekümmert darüber anders zu sein als alle anderen. Es ärgerte mich auch maßlos, mich nicht wehren zu können. Meinen Hassgefühlen gegenüber Leuten die mich beleidigten oder kränkten ließ ich meistens nachts freien Lauf. Ich malte mir aus wie ich sie bestrafte. Obwohl ich feste Arme und Beine hatte, zuschlagen oder treten konnte ich damit nicht. So blieb es bei der bloßen Vorstellung von Rache und Vergeltung. Schon damals legte ich mir verschiedene Taktiken zurecht, um mich notfalls auch ohne Kraft und Aufwand zur Wehr zu setzen und gegebenenfalls meine Ehre wieder herzustellen. Damals waren das noch Phantastereien eines kleinen Jungen. Aber sie wurden stärker. Bei Beleidigungen und Ehrabschneidungen konnte ich meinen wachsenden Zorn kaum bändigen. Immer war der Tod dabei im Spiel. Vergeltung und Rache hatten meiner Vorstellung nach nur einen Sinn, wenn sie endgültig waren. Endgültig bedeutete den Tod. Jemanden einen Denkzettel zu verpassen, machte und macht auch heute noch keinen Sinn, wenn der Betreffende dies jederzeit wiederholen könnte.

Deshalb, und nur deshalb gab und gibt es für die Kränkungen und Beleidigungen die Jakob Gurrer betreffen nur eine wirksame Strafe: Den Tod.

Ich hatte und habe nach wie vor kein schlechtes Gewissen. Ich werde, auch im Anblick meines eigenen Todes niemals etwas bereuen was ich während meines Daseins getan habe. Es gibt keinen Grund dafür. Wenn mich eines Tages Gott fragen sollte: Warum Jakob?

So werde ich ihm antworten:

Warum hast du ihnen einen Grund gegeben? Wieso sehe ich so aus?

Warum hast du mich so geschaffen?

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