Читать книгу Aus dem Leben einer Missgeburt - Christian Manhart - Страница 4

1822

Оглавление

Als Zwanzigjähriger hatte ich nun das Aussehen eines ganz normalen Jungen von vielleicht zehn oder zwölf. Aber mein Wissen und mein Geist waren wie ich schon erwähnt hatte, wesentlich weiterentwickelt. Wenn ich mit meiner Schwester sonntags spazieren ging, ließen wir uns viel Zeit. Ich konnte ja nur sehr langsam gehen um nicht völlig außer Atem zu, kommen. Sie schmierte mich zu diesem Zweck gerne mit diesem roten Zeug ein. Ich hasste dieses Versteckspiel. Die Leute sollten mich so sehen wie ich wirklich war. Aber Anna hatte Angst um mich. Vielleicht zu recht.

Denn den Männern war ich unheimlich. Vielleicht weil ich auf irgendeine Weise eine seltsame unbekannte Schönheit verkörperte, die viele Männer aus der Oberbayerischen Gegend mit ihrer gewissen bäuerlichen Grobschlächtigkeit an Typen nicht kannten. Genau betrachtet verabscheuten sie mich, dieses Wesen, das Jacob Gurrer verkörperte. Ein Mann hatte Muskeln, ein kerniges, markantes Gesicht, rote Flecken darin, vielleicht ein paar Narben, eine kräftige Stimme und war im Besonderen trinkfest. Das war aber so ziemlich das Gegenteil von Jacob Gurrers Erscheinung. Ich war sanft, schwächlich und doch puppenhaft schön. Eigenschaften mit der man im oberbayrischen Raum keine Bauerntochter beeindrucken konnte. In heutiger Zeit hätten sie mich vielleicht als kranke Schwuchtel beschimpft. Aber mein Wesen war alles andere als sanft und schwuchtelhaft.

Wenn ich nur auf Grund meiner Behinderung gekonnt hätte, ich wäre so manchen von diesen Bauerntölpeln an den Kragen gegangen. Doch meine Konstitution ließ eine auch wie immer geartete körperliche Auseinandersetzung nicht zu. Ich war ja nicht mal imstande zu laufen. So wuchs ich in der Obhut meiner Schwester sehr, sehr langsam zum Manne heran. Die Leute glaubten alle ihre Geschichte vom kleinen Bruder. Dem Nachzügler. Niemand hätte vermutet dass ich bereits über zwanzig Jahre alt war.

Eines Tages forderte sie mich auf, zu einer Untersuchung mitzukommen. Sie wollte scheinbar meiner Andersartigkeit auf den Grund gehen. Ein angesehener Professor untersuchte mich ausgiebig. Aber auch er konnte keine eigentliche, akute Krankheit feststellen. Er vermutete höchstens Mangelerscheinung und eine schwache Lungenfunktion. Für den langsamen Herzschlag hatte er keinerlei Erklärung parat. Anna verschwieg ihm allerdings das wahre Alter ihres Bruders. Es erschien ihr nicht ratsam mit einem jungen Burschen hausieren zu gehen, der offensichtlich auf dem körperlichen Stand eines Kindes blieb. Sie bläute mir vorher ein, nur das allernötigste von mir zu geben. Der Arzt durfte keinesfalls Kenntnisse über den Zustand meiner derzeitigen, geistigen Reife erlangen.

Professor Dr. Heinz Friedrich Wolf, eine Kapazität, Leiter des Hospitals und Lehrstuhlinhaber bot meiner Schwester an, ihren schwächlichen Bruder von seinen Kollegen eingehend untersuchen zu lassen. Anna lehnte glücklicherweise ab. Ihr Bruder Jakob tat ihr leid und sie wollte ihn nicht den fremden Wissenschaftlern in die Hände geben, die dann alle möglichen Experimente mit ihm anstellten. Danke Anna.

Lieber wollte sie diese Versuche selber machen. Natürlich war es im 19. Jahrhundert für Frauen unmöglich zu studieren. Schon gar nicht Medizin. Ein reiner Männerberuf. Prominente Mediziner verfassten, nach heutigem Maßstab, wahre Hetzschriften über die Frauen. Nach der geltenden Meinung wäre eine Frau, bedingt durch ihren Zyklus, absolut untauglich als Ärztin. Außerdem würde sie an den Universitäten die männlichen Studenten ablenken. Weiterhin galten Frauen als weniger intelligent als Männer, da man herausgefunden hatte, dass die Hirnmasse der Männer größer war, als die der Frauen. Aus heutiger Sicht eine lachhafte Ansicht. Damals war das allerdings bitterer Ernst.

Die Ausbildung als Hebamme, Jahrhunderte lang eine Domäne der natürlichen Frauenmedizin, war bereits Anfang des 19.Jahrhunderts auf dem Rückzug. Hausgeburten wurden durch die Verstädterung immer weniger. Die klinische Entbindung setzte sich allmählich durch. Ein Fehler, der unzähligen Neugeborenen und Müttern das Leben gekostet hat. Und damit war der Verbreitung des Kindbettfiebers Tür und Tor geöffnet, da die Klinikärzte damaliger Zeit, die grundsätzlichen Hygieneregeln nicht beachteten. Ein dummer männlicher Fehler, der den Hebammen bei den Hausgeburten niemals unterlaufen wäre.

Professor Wolf, Leiter der Klinik war anders. Er hatte Anna und ihren augenscheinlich behinderten Bruder ins Herz geschlossen. Außerdem erhoffte er sich bei den gelegentlichen Untersuchungen des Jungen weitere Erkenntnisse, die er in seine Arbeiten einbringen konnte. Obwohl ich ihm nicht traute. Ich bin überzeugt, er hätte mich nur zu gerne aufgeschnitten und in meine Einzelteile zerlegt. Alles im Sinne der Wissenschaft. Gott sei Dank beschützte mich Anna vor ihm. Um an irgendwelche Erkenntnisse zu gelangen, brachte er Anna wesentliche Kenntnisse der damaligen Medizin bei. Er war von ihrem Talent überzeugt.

Ich kann mich nicht mehr genau an den Zeitpunkt erinnern, aber es wird so um 1824 herum gewesen sein, da wurde Wolf nach München berufen. Er sollte dort an einer der Universitätskliniken für einige Jahre arbeiten. Schwester Anna wollte er unbedingt mitnehmen. Aber er wusste, sie konnte mich nicht allein lassen. Sie folgte ihm mit mir nach München. Neben seiner Arbeit, unterrichtete er an der Universität.

In der Universitätsklinik richtete er für Anna und mich eine kleine Wohnung ein. Dort konnten wir ungestört leben. Das Gelände des Klinikums war riesig. Hier waren so viele Menschen. Dort fiel ich nicht weiter auf. Es war die Zeit in der ich mich das erste Mal in meinem Leben allein an die Öffentlichkeit wagte.

Dann nahte leider die Rückkehr nach Holzkirchen. Professor Wolf und Anna mussten sich etwas einfallen lassen. Inzwischen war ich bereits sechsundzwanzig Jahre alt. Aber ich war nur unwesentlich gewachsen. Ich sah immer noch aus wie ein zwölfjähriger Junge. So konnten wir nicht nach Holzkirchen zurückkehren. Die Leute hätten uns unangenehme Fragen gestellt. Immerhin waren wir jetzt schon seit 1821 am Krankenhaus bekannt. Nun hatten wir fast 1827. Körperlich hatte ich mich nur wenig weiter entwickelt. Wie sollte Anna das jemanden erklären?

Professor Wolf wusste einen Ausweg. Er kannte viele Leute in München. Eine gut befreundete Arztfamilie, Professor Wolf verbürgte sich für deren Loyalität, erklärte sich bereit, mich für eine Weile aufzunehmen. Die Familie von Dr. Nepomuk Ringelmeier kannte ich bereits. Wir hatten sie im Laufe der Jahre hin und wieder besucht. Ich hatte mich ja schon daran gewöhnt, von Medizinern besonders beäugt zu werden.

Onkel Nepomuk, so nannte ich ihn, hatte sich gründlich getäuscht, wenn er der Ansicht war, er hätte jetzt eine exotisches Untersuchungsobjekt in seinem Haus. Denn inzwischen war mein Geist meinem kindlichen Körper weit überlegen, und ich konnte mit den Menschen wie ein ebenbürtiger Erwachsner kommunizieren. Das überraschte ihn und seine Frau besonders. Ein Mann in einem Kinderkörper. So etwas gab es bisher nicht. So kamen wir zu der Übereinkunft, dass ich Ringelmeier keinesfalls zu Experimenten zur Verfügung stehe.

Na ja, die Ringelmeiers bewohnten ein schönes großes Haus in Nymphenburg. Ich hatte ein Zimmer im Erdgeschoß. Das ersparte mir das mühsame Treppensteigen. Es war eine langweilige Zeit. Bis einige Dinge passierten, deren Inhalte sich doch wie ein roter Faden durch mein Leben zieht. Die Frauen und Mädchen! Natürlich war ich noch ein Junge.

Die Pubertät hatte bei mir noch nicht eingesetzt. Damals wusste ich aber nichts von solchen Veränderungen.

Ich merkte nur, dass ich das Weibliche ungeheurer anziehend fand. Möglicherweise waren es Erinnerungen an meine lange Kindheit. Immerhin schlief ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens mit meiner Schwester Anna in einem Bett. Ihre Wärme, ihr Geruch, ihr Atem und ihre Weiblichkeit waren mir so innig vertraut. Nun war ich allein und fühlte mich einsam.

Eines der Hausmädchen, die für die Ringelmeiers arbeiteten, ein hübsches blondes Mädchen, sie hieß Gitti, besuchte mich in jeder freien Minute. Sie brachte mir aus der Küche Süßigkeiten mit. In meinem Zimmer verspeisten wir die Leckereien heimlich. Sie nahm mich immer öfter in den Arm und ihre Hände streichelten fasziniert meine Haare und meine Haut. Aber aus sexueller Sicht war das harmlos und züchtig.

Aber das harmlose heimliche Kuscheln mit Gitti, verlieh mir etwas Vertrautes. Etwas Beruhigendes. Ich merkte damals schon, dass meine Wirkung, meine körperliche Erscheinung auf Frauen eine Besondere war. Damals hatte ich noch nicht das Bedürfnis Gitti die Kleider vom Leib zu reißen und sie zu lieben. Mein Geschlechtsteil war zu der Zeit noch im kindlichen Stadium. Ich hatte auch keine Ahnung von geschlechtlicher Liebe. Es sollten auch noch viele Jahre vergehen bevor ich sie kennen lernen sollte. Anna besuchte mich regelmäßig und so oft es die Arbeit in der Klinik zuließ.

In dieser Zeit hatte sich Professor Wolf in Holzkirchen eine prächtige Villa bauen lassen. Er hatte auch an Anna und mich gedacht. Professor Wolf hatte für uns beide in dem großen Anwesen eine großzügige Wohnung in der wir zu zweit gut leben konnten, eingerichtet. Die Villa bot jede Menge Platz. Das ganze Areal, der Park war riesig. Um aber mit mir weiterhin ungestört leben zu können, beschloss Anna, mich offiziell jünger zu machen als ich in Wirklichkeit war. Es musste einfach etwas geschehen. In ihrer Not vertraute sie sich ihrem Mentor an. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, dem Mediziner etwas vorzumachen. Er hatte mich die ganzen Jahre über beobachten können, ihm war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich entwickelte mich viel, viel zu langsam. Ob ich jemals zum Manne reifen würde, mochte auch er nicht sagen können. Das Vertrauensverhältnis zwischen Anna und ihm war einer richtigen Freundschaft, einer Zuneigung gewichen. Dass sie sich heimlich liebten konnte ich damals nicht ahnen. Niemand wusste davon. Der Professor half ihr also dabei, obwohl ihm gar nicht wohl bei der Sache war.

„Weißt du Anna, Jakob ist eigentlich ein wissenschaftliches Phänomen. Ich habe dergleichen noch nirgends beschrieben gesehen. Es ist vermutlich eine sehr, sehr seltene Krankheit. Ich glaube du machst dir da zu viele Sorgen. Wenn Jakob nicht erwachsen wird, dann bleibt er vermutlich sein Leben lang ein Kind.“

„Aber, die Leute, sie reden. Und seine blaue Haut. Was soll ich nur tun? Er sieht aus wie ein Bub von vielleicht zwölf Jahren. Er ist doch schon fast dreißig!“

Der Professor überlegte lange.

„Wenn ich sterbe, was wird dann aus ihm? Sie werden ihn einsperren bis er stirbt. Das möchte ich nicht.“

Der Professor runzelte die Stirn.

„So einfach ist das nicht, wie du dir das vorstellst. Wir können ihn schon für tot erklären, das ist keine Schwierigkeit. Du brauchst aber wieder ein Kind, das du für ihn ausgeben kannst.“

„Ja, aber natürlich, das ist eine gute Idee.“

Anna nahm mich heimlich wieder zu sich. Sie befürchtete allerdings zu recht, irgendwann würde sie mit Jakob, dem ewigen Kind Probleme bekommen. So entschloss sie sich zu einem folgenschweren Schritt. In der Klinik hatte sie ständig mit Geburten und Todesfällen zu tun. Sie nutzte ihre Position, und die des Leiters der Klinik, ihren Professor, um die handschriftlich eingetragenen Daten ihres Bruders, zu fälschen.

Im Jahre 1830 stellten Wolf für Jakob Gurrer einen Totenschein aus. Anna erzählte allen von dem Tod ihres geliebten kleinen Bruders. Jakob Gurrer gab es nun offiziell nicht mehr. Fünf Jahre lang studierte sie mich gemeinsam mit Professor Wolf. Zu diesem Zweck hielten sie mich in ihrem Haus quasi gefangen. Ich wurde nun etwas größer und veränderte mich unendlich langsam.

Aus Langeweile beschäftigte ich mich den ganzen Tag mit Büchern und begann ein wenig zu malen. Das Haus hätte ich schon aus eigener Kraft verlassen können, doch Anna überzeugte mich, dass es besser sei zu Hause zu bleiben. Das Gelände war so groß, dass ich mich einigermaßen ungestört darin bewegen konnte ohne aufzufallen. Für Anna war der Umstand beruhigender, wenn mich niemand sehen würde. Niemand, außer ihrem Professor wusste schließlich etwas von mir. Doch ich wurde älter und reifer. Ich brauchte dringend wieder eine Identität.

Vermutlich kamen die beiden damals auf die Idee mit der Schwangerschaft von Anna. Anna lief einige Monate mit einem dicken Bauch herum. Sie hatte aber die Schwangerschaft nur vorgetäuscht. Als sie die Zeit für reif hielten, fälschten sie ein letztes Mal zusammen die Geburtsurkunden. Jacob wurde am 3.3.1835 neu geboren. Als Jacob Gurrer II., Sohn von Anna Gurrer. Vater unbekannt.

Kurz nach meiner Wiedergeburt ging es Professor Wolf sehr schlecht. Anna befürchtete er wird sterben müssen. Sie war sehr besorgt um ihn. Er litt unter akuten Herz -und Kreislaufproblemen. Außerdem quälte ihn, wie mich auch, eine zunehmende Kurzatmigkeit wenn er sich körperlich anstrengte.

Der Professor war bereits seit vielem Jahren Witwer und seine Ehe war leider kinderlos geblieben. So beschlossen die beiden nach so vielen Jahren der intensiven Zusammenarbeit in der Klinik und der häuslichen Nähe zu heiraten. Für mich war das ein Schock.

Die Beziehung zu Wolf war für mich wesentlich schwieriger als für Anna. Sie war schließlich meine einzige Bezugsperson, ich hing sehr an ihr. Ich wollte meine Schwester Anna ausschließlich für mich allein haben. Die Eheschließung der beiden passte mir deshalb grundsätzlich nicht. Was würde aus mir, wenn sie mich nicht mehr wollten? Anna merkte aber nicht, dass ich ihre Zuneigung für den Professor nicht teilte. Im Gegenteil. Sie glaubte, dass es gut für uns drei wäre, wenn ich einen richtigen Vater hätte.

Mir wäre es tausendmal lieber gewesen, der Professor wäre nicht mit Anna zusammen. Obwohl er so viel für mich und Anna getan hatte, fürchtete ich diesen Mann. Ich hatte Angst vor Experimenten, die Wolf mit mir anstellen könnte. So kam es unweigerlich zu einem folgenschweren Vorfall.

An einem sonnigen Nachmittag, Anna hatte noch in der Klinik zu tun, saß mein Stiefvater Heinz Friedrich Wolf im Garten und hielt ein Mittagsschläfchen. Ich war langsam aus dem Haus gegangen. Keuchend und schwitzend stand ich vor dem schlafenden Mann.

Ich überlegte fieberhaft. Mein Geist war im Gegensatz zu meinem schwächenden Körper ausgesprochen vital. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Lange betrachtete ich den alten Mann. Da kam mir eine gute Idee in den Sinn. Der Professor hatte den Kopf etwas zurückgelegt und der Mund stand offen. Er schnarchte laut. Widerlich. Ich suchte am Boden eine kleine Hand voll feiner Sandkörner zusammen. Dann stellte ich mich direkt neben den schlafenden Mann und lauschte seiner Atmung. Langsam ein und aus. Bei jeder Einatmung schnarchte er laut und vernehmlich. Wie ich mich nach vorne beugte, konnte ich sehen wie das Gaumenzäpfchen vibrierte.

Auf dem Tisch neben dem Sessel lagen Unterlagen, Briefe und Aufzeichnungen. Vorsichtig griff ich mir ein Stück Papier. Rollte es dünn zusammen. Mit einem Finger hielt ich die eine Seite zu, ließ meine Sandbrösel in das Röhrchen rieseln. Ich beobachtete den Mann. Ein und Ausatmen. Ich versuchte mich dem Rhythmus anzupassen. Minutenlang hielt ich das Papierröhrchen mit dem Finger unten über seinem Mund.

Nach einiger Zeit hatte ich den Rhythmus gefunden und atmete mit, dann nahm ich das andere Ende in den Mund. Fast hätte ich dem Schlafenden die Brösel in den Hals geblasen, da kam mir eine viel bessere Idee. Ich schüttelte die Brösel sorgfältig aus dem Papier. Am Boden suchte ich einige kleine 3-4millimeter große, scharfkantige Steinchen zusammen. Ich nahm sie in den Mund. Wieder rollte ich das Papier. Mit der Zunge schob ich die Steinchen an den Rand der Papieröffnung. Wieder der Atemrhythmus.

Ein und Aus. Der Professor atmete ein und aus. Etwas über einen längeren Zeitraum zu beobachten, da war ich sehr gut darin. Ich zitterte nie. So passte ich den optimalen Zeitpunkt ab. Mit einem kräftigen Luftstoß blies ich dem alten Mann die Steinchen in den Rachen. Dabei zielte ich auf das Gaumenzäpfchen. Mindestens zwei oder drei der kantigen kleinen Dinger atmete der arme Mann zwangsweise ein. Den Reflex zum Verschließen der Luftröhre hatte ich durch mein beherztes punktgenaues Pusten überlisten können. Alle anderen Steinchen wanderten dann den normalen Weg in die Speiseröhre.

Explosionsartig bäumte sich der Professor auf. Mit so einer heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Vor lauter Schreck fiel ich nach hinten auf den Boden. Ein Hustenanfall von unbändiger Intensität schüttelte ihn. Er wurde ganz dunkelrot, fast blau im Gesicht. Mir wurde himmelangst. Pfeifend rang der alte Mann nach Luft. Er hatte mich noch gar nicht bemerkt. Rasch faltete ich das Papier und steckte es ein.

Inzwischen kniete der Mann auf allen vieren und schüttelte sich immer noch. Schaum hatte er vor dem Mund. Ich beschloss mich bemerkbar zu machen. Ich rief seinen Namen und tat aufgeregt.

Vorsichtig klopfte ich auf den Rücken von Heinz Wolf. Der drehte sich schwitzend und keuchend auf die Seite. Tränen rannen ihm über das rote Gesicht. Er winkte mich heran, tätschelte mir die Wange.

„Schon….gut, …Jung e..“

Das war gar kein schöner Nachmittag für den Lebensgefährten von Anna. Niemals hätte Heinz jedoch mich, den schwächlichen Jungen mit der blauen Hautfarbe verdächtigt. Er glaubte allen Ernstes, irgendetwas sei vom Baum in seinen Mund gefallen.

Am Abend hustete er immer noch. Es ging ihm richtig schlecht. Anna litt mit ihm und hatte keine Zeit für mich. Von diesem Tag an ging es mit der Gesundheit von Professor Wolf zunehmend bergab. Der Hustenanfall hatte ihn an den Rand des Todes gebracht. Tagelang musste er das Bett hüten. Fürsorglich gepflegt von seiner langjährigen Gefährtin, und nun Ehefrau Anna. Aber mindestens eines der Steinchen hatte sich einen Weg durch die Bronchien gebahnt.

Das empfindliche Gewebe rund um den Fremdkörper entzündete sich zunehmend. Der Körper wollte diese unerbetenen Gäste wieder loswerden. So bekam die Medizinische Kapazität Professor Heinz Friedrich Wolf eine handfeste Lungenentzündung. Er erholte sich nicht mehr.

Es dauerte keine vierzehn Tage, da lag mein Stiefvater im Sterben. Selbst seine herbeigerufenen Arztfreunde konnten ihn nicht mehr retten. In der Nacht als er starb hatte er hohes Fieber. Zum ersten Mal seit dem kleinen Unfall hustete er nicht mehr. Er hatte keine Kraft mehr dazu.

Annas langjähriger Gefährte, Lehrmeister, Beschützer und zum Ende sogar noch Ehemann war nun nicht mehr.

Ich war hochzufrieden, obwohl ich mir nicht vorgestellt hatte, dass mein Stiefvater von ein paar Steinchen so leiden musste. Richtig bestürzt war ich aber über den Zustand von Anna. Sie heulte sich förmlich die Seele aus dem Leib, vor Trauer.

Ich hatte sie nun wieder für mich allein, aber sie war nicht mehr dieselbe wie vor dem Unglück. Dennoch verspürte ich kein Mitleid und auch keine Reue. Heinz Wolf war schließlich alt genug geworden. Meine Eltern hatten viel früher sterben müssen. Und damals war ich der festen Überzeugung, Anna würde den Verlust des alten kranken Professors bald überwinden.

Eine völlig neue Situation war entstanden. Anna stand mit mir wieder ganz allein da. Ich war natürlich immer noch unehelich, da ich offiziell vor ihrer Eheschließung auf die Welt gekommen bin. Damit behielt ich Gott sei Dank meinen Namen bei. Sonst würde ich heute womöglich auch noch Wolf heißen. Die relativ kurze Ehe mit Professor Wolf bedeutete für Anna ein nicht unbeträchtliches Erbe. Damals war mir Geld und Besitz völlig egal. Ich musste mich ja bisher um nichts kümmern. Anna hatte mich immer mit allem versorgt. Dass Anna durch den Tod ihres Ehemannes eine solch dicke Erbschaft gemacht hatte, wusste ich bei dem kleinen entscheidenden Vorfall natürlich nicht. Aber diese Erbschaft garantierte auch mir mein ganzes langes Leben lang ein solides Einkommen, auch ohne eigenes Zutun.

Wie praktisch. Immerhin konnten wir beide mit dem nicht unbeträchtlichen Vermögen des Professors ein angenehmes Leben führen. Anna arbeitete trotz dem Reichtum weiter in dem Hospital. Sie brauchte die Ablenkung. Ich war daher viel allein und begann mich durch die Bibliothek des Professors zu lesen.

Als ein Nachfolger bestimmt war und die Klinik übernahm, änderten sich die Verhältnisse für Anna dramatisch. Der Neue verabscheute Frauen in der Position als rechte Hand des Klinikleiters. Frauen sollten Krankenschwestern bleiben, oder besser noch, gleich Zuhause. Die Ausübung des medizinischen Berufes war etwas, das Männern vorbehalten war. Anna blieb noch eine Zeit lang, dann kündigte sie und widmete sich voll und ganz dem Studium ihres ehemaligen Bruders, und jetzigen Sohn. Sie war davon besessen herauszufinden was mir eigentlich fehlte, mit welcher Krankheit ich seit meiner Geburt zu kämpfen hatte. Obwohl, ich selber hatte mich niemals krank oder unwohl gefühlt. An meine körperliche Schwäche war ich mein Leben lang gewöhnt. Aus meiner Sicht war es schon bewundernswert mit anzusehen wie sich manche Menschen abrackerten. Sie rannten hin und her, trugen schwere Dinge, rast und ruhelos arbeiteten sie sich in Atem beraubenden Tempo zu Tode.

Wir lebten weiterhin ungestört in der Villa in Holzkirchen. Anna kam eines Tages auf die Idee etwas herum zu reisen. Zu Anfang hatte ich Angst davor. Schließlich hatte ich kaum Kontakt zu der Öffentlichkeit. Ich wurde ja immer versteckt. Aber Anna versicherte mir, auf mich auf zupassen. So unternahmen wir beide ein paar Reisen. Damals war das gängige Reisemittel die Kutsche. In den Postkutschen mochten wir aber nicht fahren. Die anderen Reisenden sollten mich nicht aus der Nähe betrachten können. Außerdem hatte ich damals die Angewohnheit nach einiger Zeit, wenn ich lange sitzen musste, etwas unangenehm zu riechen. Sorgfältige Körperpflege und Hygiene nach dem Toilettengang, war für mich unbedingt notwendig.

Aber in einer engen Kutsche, konnte es mir schon mal passieren einen Furz zu lassen. Da hätte es uns ohne Weiteres passieren können, aus der Kutsche geschmissen zu werden.

Deshalb ließen wir uns von einer eigenen Kutsche herumfahren. Eine schöne Zeit war das, nach dem Schock, den Anna erlitten hatte. Den plötzlichen Tod ihres Ehemanns hatte Anna noch lange nicht verdaut. Sooft es ging, besuchten wir Theatervorstellungen, Konzerte und Opern. Anna und ich hatten schließlich außer Krankenhäuser in München und Holzkirchen noch nicht viel von der Welt gesehen. Gemeinsam wollten wir uns das Königreich Bayern ansehen. Niemand wusste damals wie lange ich noch zu leben hatte.

Aus dem Leben einer Missgeburt

Подняться наверх