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1842

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Als Anna 1842 fünfzig Jahre alt wurde, befand ich mich gerade voll in der Pubertät. Ich konnte es kaum glauben, aber alles veränderte sich. Ich war innerhalb von ein paar Jahren tatsächlich merklich größer geworden. Und ich sah atemberaubend schön aus, versicherte mir Anna.

Nun, da ich gerade im Begriff war, langsam zu einem jungen Mann heran zu wachsen, wurde ich Annas ganzer Stolz. Ihr ein und alles. Ich hatte eine tiefe Stimme bekommen und etwas markantere Gesichtszüge. Nur der Bartwuchs blieb aus. Auch auf der Brust, unter den Achseln und im Schambereich wuchsen keine. Anna erzählte mir in unseren unzähligen Zwiegesprächen, dass sie es die ganzen Jahre hindurch nie für möglich gehalten hätte, dass aus mir tatsächlich ein ausgewachsener Mann wird. Sie war überglücklich.

Mich drängte ein unbestimmbares Gefühl zur Weiblichkeit. Sie waren überall. Sie nahmen mich wahr, warfen mir freundliche Blicke zu. Wohin wir auch kamen, freundliche, hübsche junge Mädchen gab es an jedem Ort. Ich spürte ein gieriges Verlangen. Gerne wäre ich mit der einen oder anderen ein wenig allein gewesen. Ich hätte sie gerne berührt. Es war lange her, dass ich mit Gitti, dem Hausmädchen Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte. Anna und Wolf hatten mich in Holzkirchen eingesperrt.

Aber es verging kein Tag an dem mich Anna nicht bewachte wie ein Schiesshund. Zu dieser Zeit wäre es mir lieber gewesen, ich wäre nicht durch meine Kurzatmigkeit gehandikapt gewesen. Aber unbemerkt aus ihrer Umgebung zu verschwinden, das konnte ich damals nicht. So mussten meine ersten erotischen Träume eben Träume bleiben. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich versäumt habe, mein Gott, ich hätte mich mit Gewalt losgerissen von Anna.

Eine ganz besondere Eigenheit entwickelten wir beide zusammen zu dieser Zeit. Ich sollte sie mein ganzes Leben lang so handhaben. Schon damals kleidete ich mich gerne schick und nach der neuesten Mode. Es war ein gewisser Ausgleich um von meiner ungewöhnlichen Hautfarbe abzulenken. Gute Kleidung, nach der neuesten Mode war natürlich sehr teuer. Aber das Mutter und Sohnesgespann hatte eine gute Idee. Je nach Jahreszeit wechselte ich meine komplette Ausgehkleidung drei bis viermal im Jahr aus. Und ich besaß nie mehr als zwei Anzüge, Schuhe usw. Da ich nicht arbeitete, oder sonstige Kleidungsabnützende Tätigkeiten ausführte, war mein Outfit auch nach ein paar Monaten fast wie neu. Wir konnten es uns leisten nur zu den besten Herrenschneidern zu gehen. Dort gaben wir die getragene Kleidung in Zahlung, ließen sie manchmal nach Möglichkeit umarbeiten. Jedenfalls, hatte ich auf diese Weise immer das Neueste zum Anziehen. Praktischer Weise genügte mir zum Reisen, ein Koffer mit einer zusätzlichen Garnitur.

Mit unserer geschlossenen Kutsche unternahmen wir weiterhin ausgedehnte Ausflüge. Niemand stellte Fragen, wer der geheimnisvoll schöne junge Mann an Annas Seite war. Und doch begann ich langsam zu realisieren dass sich etwas geändert hatte. Wenn wir in einem Ausflugscafè saßen, zog ich viele weibliche Blicke auf mich. Viele erröteten und wurden von ihren Begleitern und Begleiterinnen ermahnt. Das fiel mir auf, wohin wir auch zusammen gingen. Schon damals gab mir meine Wirkung auf die damalige Damenwelt zu denken. Doch zwischen einer Freundin oder sogar Ehefrau waren noch Welten. Anna würde es einfach nicht zulassen.

Sie war meine Schwester, Mutter und Partnerin, mit der ich mein Leben verbrachte. Ich kannte auch nichts anderes. Aufkommende Kontakte zu eventuellen Mädchen oder Frauen wusste Anna ganz geschickt schon im Ansatz abzuwürgen. In dieser Hinsicht hatte ich keine Chance. Sie hatte schon länger bemerkt, dass meine Anwesenheit und hübsche Frauen ein gewisses Knistern verursachte. Sie spürte den Drang der von beiden Seiten ausging.

Ich unzähligen Zwiegesprächen erzählte ich ihr von meinen Nöten und den Gefühlen für die Weiblichkeit. Meine Wünsche mich zu verloben oder gar zu heiraten. Anna war schockiert über mein Ansinnen. Sie erklärte mir, die Ehe sei nichts für mich. Durch mein schwaches körperliches Wesen, wäre ich den Damen unterlegen. Frauen brauchten aber eine starke Hand, einen kräftigen resoluten Mann, der ihr labiles Wesen beherrschte. Aha! Diesen Umstand hatte ich nicht so recht verstanden.

Doch mit Anna war in dieser Beziehung überhaupt nicht zu reden. Sie wurde richtig ungehalten wenn ich das Thema Liebe ansprach. Ich wusste natürlich, dass sie meinen späten Stiefvater, Professor Wolf sehr verehrte. Von dieser frühen zarten Liebe zwischen den beiden hatte ich nie etwas mitbekommen.

Die Jahre vergingen und ich schmachtete und himmelte nahezu jeden Rock an. Ohne Erfolg. Wenn Anna allein unterwegs war, sorgte sie mittels unserer Bediensteten dafür, dass ich Zuhause blieb. Ich vertrieb mir deshalb die Zeit mit dem Studium von Professor Heinz Wolfs medizinischen Hinterlassenschaften. Das war ganz interessant in seinen Unterlagen zu blättern. Die medizinischen Utensilien zu begutachten. In dieser Zeit lernte ich viel über uns Menschen.

Unsere Geschwister besuchte Anna normalerweise lieber allein. Da nahm sie mich nicht mit. Verständlicher Weise. Ich war damals über 40 Jahre alt. Meine neue Geburt war aber erst 8 oder 10 Jahre her. Wer mich sah, konnte weder das eine noch das andere glauben.

Auch den elterlichen Hof der immer noch von dem ältesten Bruder bewirtschaftet wurde, besuchte sie ohne mich. Gerne hätte ich meinen Bruder einmal wieder gesehen. Leider war das Verhältnis zu unserer Schwägerin nicht gerade das Beste. Anna erzählte ihnen bei einem ihrer wenigen Besuche, ich sei in einer Klinik gestorben. Später berichtete sie unserem Bruder Josef von ihrem unehelichen Sohn, den sie in Erinnerung an den gemeinsamen Bruder, Jacob nannte.

Die Geschichte schmückte sie mit dem unerwartetem Tod des Kindsvaters aus. Dass Professor Wolf sie trotzdem geheiratet hatte, obwohl sie ein kleines uneheliches Kind mit in die Ehe brachte, leuchtete ihrem Bruder und seiner Frau nicht so ganz ein. Aber wie sie meinten, in diesen Kreisen sei wohl alles möglich. Trotzdem war aus den Reaktionen der beiden, pure Verachtung herauszulesen. Anna erzählte es mir. Aber aus Respekt vor ihr als Frau eines bekannten Professors zogen sie es vor keine abfälligen Äußerungen zu machen.

Nach und nach verstarben meine Geschwister. Anna fuhr zu den Beerdigungen stets allein. Erst als unser Bruder Josef, das ist der mit dem elterlichen Hof, seine Frau durch eine Infektion des Wundstarrkrampfes verlor, durfte ich mit ihr fahren. Annas Mitleid mit der ungeliebten Schwägerin war verschwindend gering. Auch ich konnte kein Mitgefühl aufbringen. Aber unser Bruder und seine Kinder taten Anna leid. Seine drei Kinder waren alles Mädchen. Das erste Mal seit ich damals mit meiner Schwester aus Schliersee verjagt worden war, betrat ich am Tag ihrer Beerdigung mein ehemaliges Elternhaus. Die Erinnerung an meine Kindheitsjahre war für mich als sei es gestern gewesen, so lebendig empfand ich das alles. An diesem Tag war ich unfassbar aufgeregt. Anna hatte sich viel Mühe gegeben mich so zu schminken, damit niemand etwas merkte. Ganz gelang ihr das nicht, weil ich durch mein Verhalten, meine Langsamkeit, die Unfähigkeit weiter als ein paar Schritte zu gehen, in der dörflichen Trauergemeinde jedem auffiel.

Die meisten Dorfbewohner und Trauergäste anderen waren erstaunt über meine Erscheinung. Kaum einer kannte den kleinen Jacob noch von früher. Immerhin war seit meiner Geburt bereits fast ein halbes Jahrhundert vergangen. Anna erzählte ihnen, ich sei ihr unehelicher Sohn. Und ich hätte wohl etwas von der seltsamen Krankheit geerbt.

Bei einem weiteren Besuch 1857 brachte Anna die Geburtsurkunde von mir, Jacob Gurrer den II. mit. Ausgestellt im Jahre 1835. Ihr Bruder rechnete das Alter seiner Schwester nicht nach. Da es nicht üblich war, an Mädchen weiter zu vererben, solange ein männlicher Nachkomme vorhanden war, setzte er mich daher offiziell als Hoferben ein.

Dafür bekam Josef von Anna einen ordentlichen Austrag bezahlt. Außerdem richteten sie für die drei Mädchen eine ordentliche Mitgift ein.

So blieb der Hof im Familienbesitz der Gurrers. Namentlich und wirtschaftlich in meinem. Auch dieser Besitz sollte mir mein ganzes langes Leben lang als Geldquelle dienen. Wie praktisch!

Aus dem Leben einer Missgeburt

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