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Ramana – Sei still
ОглавлениеIn Indien im Jahr 1886 war Ramana ein normaler 16-jähriger Schuljunge. Er spielte besonders gerne Fußball, interessierte sich überhaupt mehr für Sport als für Religion oder andere Dinge.
Eines Nachmittags hatte er mit einem Mal die innere Gewissheit, sterben zu müssen. Nachdem er die Angst über den Tod zugelassen hatte, sagte er sich: „Gut, wenn ich jetzt sterben muss, dann will ich genau mitbekommen, was stirbt“. So hat er sich hingelegt. Das Sterben-Müssen war für ihn in diesem Augenblick eine solche Tatsache, dass er innerlich mit dem Leben abschloss und darüber hinaus alles losließ, was loszulassen war.
In dem Augenblick, in dem du weißt, dass du stirbst, gibst du alle Pläne für die Zukunft auf. Das ist ein sehr bemerkenswerter Umstand. Du gibst jeden Plan, auch jeden Wunsch für die Zukunft auf! Bis dahin lebst du mit dem festen Vorsatz und dem festen Gedanken, die Vergangenheit noch umzukehren. Die Vergangenheit darf noch nicht ruhen, weil du Pläne für die Zukunft hast, in der du alles noch korrigieren willst. In dem Moment, in dem du bereit bist zu sterben, gibst du die Zukunft auf und damit söhnst du dich mit der Vergangenheit aus. In dem Moment, in dem du keinen Plan mehr hast, in dem du bereit bist anzunehmen, dass es keine Zukunft geben wird, wirst du gleichzeitig bereit sein, dasselbe auch zur Vergangenheit zu sagen: „Es war so, wie es gewesen ist“.
In dem Moment, in dem du keinen Plan mehr hast, keinen eigenen Willen, keinen eigenen Wunsch, kann der Körper endlich richtig loslassen, sich wirklich auf einer viel fundamentaleren Ebene entspannen, als du normalerweise Entspannung kennst. In dem Augenblick, in dem der Geist, die Seele und der Körper so vollständig loslassen – und das ist das, was Ramana erfahren hat –, fällst du in die Unendlichkeit.
Weil Ramana auf diese grundlegende Weise merkte, dass auf einmal alles anders war und er in Glückseligkeit schwebte und verweilte, verlor er das Interesse an der Schule, sodass sein älterer Bruder ihn fragte: „Warum gehst du eigentlich noch zur Schule? Du hast ja gar kein Interesse mehr daran!“ Diesen neckenden Satz nahm er ernst und antwortete: „Ja, der Bruder hat recht, also höre ich mit der Schule auf.“
Er hatte vom heiligen Berg Arunachala gehört und verspürte den Wunsch, dorthin zu fahren. Er borgte sich etwas Geld und fuhr mit dem Zug nach Tiruvannamalai, am Fuße des Arunachala. Er setzte sich dort dann für zwei Jahre in den kleinen Tempel und spürte in dieser Glückseligkeit, in der er verweilte, gar keinen Impuls und kein Interesse, aufzustehen. Zum Glück gab es Menschen, die ihm immer etwas Essen vor die Füße stellten. Nach einiger Zeit kam jemand und las ihm heilige Texte vor. Das soll das erste Mal gewesen sein, dass Ramana mit den heiligen überlieferten Texten wirklich in Berührung gekommen ist. Mit der Zeit kamen Menschen zu ihm, einfach, weil es heilsam war, in seiner Gegenwart zu sitzen. Dann fingen sie an, ihm Fragen zu stellen und nach und nach begann er, diese Fragen auch zu beantworten.
Dieses Ereignis ist ein ungeheueres Glück für uns und die Welt. Ramana erfuhr das Aufwachen ohne irgendeinen Hintergrund von Tradition, ohne dass er irgendwelche Übungsrituale praktiziert hätte, einfach durch diesen simplen Akt: Er war bereit, zu sterben, war bereit, sich hinzugeben und sich dem zu überlassen, was geschieht, ohne am eigenen Willen festzuhalten. Er erfuhr das Aufwachen durch diesen inneren Entscheidungsakt, der auf dem Verlangen basierte, zu entdecken, was während des Sterbens geschehen würde und ob es etwas gäbe, was das Sterben überleben würde. Er wollte die Wahrheit entdecken über das, was geschieht. Weil er auf diese Weise das Aufwachen erfuhr ohne jeden Hintergrund von Tradition, Ritualen, kirchlichen Gesängen und anderem, war er später in der Lage, das Aufwachen und den Prozess des Aufwachens klar und einfach zu vermitteln und zu lehren. Das hatte weiterhin zur Folge, dass er sehr viele erwachte Schüler hatte, die das Aufwachen weitertrugen in der Lehre der Nichtlehre, in dem Wissen, dass man nichts tun kann, außer anzuhalten.
Ramana sagte: „Meine ganze Methode lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Sei still!“
Denen, die fragten: „Was ist mit den Übungen, dem Mantra-Singen und mit dem anderen, was wir jetzt seit Jahrtausenden tun?“, sagte er: „Hör auf, frag dich, wer ist derjenige, der das Mantra singt? Wer ist derjenige, der die Übung macht? Finde heraus, wer das ist, finde heraus, worin deine wahre Natur besteht!“ Das ist kein intellektueller Weg, kein Weg des Nachdenkens und Grübelns, sondern ein Weg der inneren Erfahrung.
Seitdem verbreitet sich das Aufwachen wie ein Flächenbrand immer mehr über die ganze Welt. Ohne Ramana wären wir hier nicht zusammengekommen
Was also ist nötig, um aufzuwachen? Natürlich das Bewusstsein, dass man es nicht selber tun kann, wie man ein Haus bauen, ein Brot backen oder eine Sprache lernen kann, sondern dass es ein Geschenk ist, eine Gnade. Aber ein Geschenk, eine Gnade, auf die ich nicht einfach, die Hände in den Schoß legend, warten kann, sondern eine Gnade, für die ich mich öffnen kann und für die ich mich so unwiderstehlich machen kann, dass sie gar nicht anders kann, als mich zu erfassen. Dies geschieht, indem ich „anhalte“.
Wenn du nach Innen gehst und du dir dein Leben und deine jetzige Situation anschaust, dann siehst du: Da sind Tausende von Impulsen aus der eigenen Vergangenheit, der Vergangenheit der Familie und der Ahnen, der Gesellschaft und der Geschichte, ebenso aus der Charakterfixierung. All diese Impulse sind in der jetzigen Situation wach und treiben dich dazu, etwas zu tun. Das ist das, was im Osten das Karma genannt wird: Dieses Getriebensein, etwas zu tun, etwas zu wollen, nach etwas zu verlangen und nach etwas zu streben.
Deine Aufgabe ist, anzuhalten! Anzuhalten und zu schauen, was ist. Anzuhalten und zu fühlen, was ist. Anzuhalten! Wie Ramana sagt: „Meine Methode lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen: Sei still, halte an!“
Es würde reichen, wenn ich hier sitzen und auf jede Frage und auf alles, was kommt, sagen würde: „Aha, – halte an! Sei still! Beweg dich nicht mehr und schau, was geschieht!“
Das ist alles. Dann kommen die Gefühle hoch, die Schmerzen, die Sehnsucht, die Freude, die Angst, die Verzweiflung – und dann ist die Stille da, die Leere und die Unendlichkeit. Alles kommt hoch, aber du hältst an und bist still.
Diese vielen Impulse der ganzen Menschheitsgeschichte, die sich in dir kristallisiert und manifestiert haben, basieren auf der Grundhaltung: Ich brauche!
Ich brauche andere Menschen, ich brauche Anerkennung und Sicherheit. Der Körper auf der organischen Ebene braucht Nahrung in bestimmten Umfang, Sauerstoff, Licht, bestimmte Wärme und das ist in Ordnung. Wenn sich das Ich und der Geist dieses „ich brauche“ auch zu eigen machen wie: Ich brauche Liebe, ich brauche Anerkennung, ich brauche von der oder dem eine Entschuldigung, ich brauche unbedingt, dass der Vater stolz auf mich ist, dann ist das eine Verrücktheit.
Wenn du gegenüber allen Impulsen still bist und anhältst, dann entdeckst du, dass du vollkommen erfüllt bist, dass du mehr als erfüllt bist, dass du selber die Liebe bist, nach der du suchst. Du entdeckst, dass du einer Fata Morgana gefolgt bist. Das Anhalten, das Still-Sein, basiert auf einer inneren Entschlossenheit und Entschiedenheit, selbst wenn es weh tut.
Die ganzen Gefühle schreien danach, etwas zu tun, um Anerkennung, Liebe, Sicherheit, Lob und Beachtung zu bekommen. Wenn du anhältst, hört das natürlich zunächst nicht auf, es hat ja über hunderttausend Jahre funktioniert und dich angetrieben. Im Gegenteil, wenn du anhältst, hörst du dieses Schreien deutlicher. Bisher hast du viel davon kanalisiert durch oberflächliche Kontakte und Beziehungen, durch Sprechen, Erzählen, Tun und Ablenken. Alles ist diffus und verdeckt. Es tut nur in bestimmten Momenten weh, dann, wenn es dich aus der Bahn wirft. Wenn du jetzt wirklich anhältst, merkst du, wie dieser Gefühlsorganismus, dieser Körper „haben will“. Du sagst: „Aha!“ und bleibst still. Die Entdeckung, so erfüllt zu sein, dass du gar nichts brauchst, dass alles Brauchen nur eine fixe Idee war, kommt erst ein bisschen später. Das ist ein Teil des Spiels. Der Organismus ist darauf aus, sofort etwas zu bekommen, sofort mehr Eiscreme oder Lob. Hier ist es so: Du musst erst anhalten und später entdeckst du: Oh, das Erfüllt-Sein ist ja schon da.
Wirklich anhalten, wirklich still werden! Wenn da der Gedanke ist: Das Aufwachen ist eine Gnade, ist ein Geschenk, ich kann und brauche gar nichts zu tun, ist das natürlich eine Falle. Wenn du nichts machst, öffnest du den unzähligen Impulsen, die bisher dein ganzes Leben und Verhalten bestimmt und regiert haben, wieder Tür und Tor, denn sie wirken ja weiter. Wenn du nichts machst, wird es noch die nächsten zweihundertfünfzigtausend Jahre so weiter gehen. Du musst erst einmal dafür sorgen, dass du nichts tust. Das bedeutet, anzuhalten und still zu sein, dich tatsächlich nicht zu bewegen.
Ein Freund von mir segelt mit seinem Segelboot quer über den Atlantik. „Was machst du eigentlich, wenn du auf dem Meer bist und plötzlich ein Sturm kommt?“ fragte ich ihn. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, wie er auf dem kleinen Schiff überleben könnte. Er sagte: „Ich nehme die Segel runter und binde mich am Mast fest.“ Die Antwort verblüffte mich, leuchtete aber sofort ein, denn was sollte vernünftiger sein, als sich am Mast festzubinden? Das ist ein gutes Bild für deine Situation: Wenn du anhalten willst, dann tauchen alle Impulse auf wie ein Sturm. Wie gesagt, erst wenn du anhältst, merkst du sie deutlicher. Du bleibst stehen! Aber bedauerlicherweise hast du nicht die Möglichkeit, dich anzubinden, dann wäre es leichter. Du musst am Mast stehen bleiben, so, als wenn du angebunden wärst, mit der Energie deines Herzens und der Kraft deiner Entschlossenheit. Das ist es, worauf es ankommt. Dann kommen die Impulse hoch, dann kommt plötzlich alles hoch, was da ist und hat die Chance, verbrannt zu werden. Indem du still bist hat es einfach die Chance, verbrannt zu werden. SEI STILL.
Still sein bedeutet, sich nicht zu bewegen. Es bedeutet, sich gegenüber dem Lärm, der da hochkommt, still zu verhalten, sich dem Sturm völlig auszusetzen und still zu bleiben; weder dagegen anzurennen noch davor wegzurennen, noch irgendwohin zu rennen, einfach still zu sein. Dann merkst du plötzlich, dass Gefühle hochkommen und dass die Gefühle verbrennen, dann merkst du, dass dein Herz größer ist als die Gefühle, die da hochkommen, dass dein Herz viel, viel größer ist, als du vorher dachtest. Wenn auf diese Weise alle Impulse, die auftauchen, verbrennen, dann verbrennt das Ich, denn das Ich ist nichts anderes, als diese fixe Idee: „Ich brauche.“ Ohne diese fixe Idee „Ich brauche“ fällt das Ich zusammen wie ein Kartenhaus.
Wenn du all das wirklich tust, was mit dem einen Satz: „Sei still!“, mit der einen Aufforderung: „Halte an!“, gemeint ist, dann sind Tür und Tor geöffnet für die Gnade, die dann geschehen kann.
Ramana weist darauf hin, dass die Frage: „Wer ist das, der da üben will oder fragt?“ nicht mit den Gedanken und dem Verstand beantwortet werden kann. Dann gibt er auch den Ratschlag, alles, was auftaucht, zur Quelle zurück zu verfolgen. Zurück zu verfolgen über den Ich-Gedanken, und der Ich-Gedanke ist: „Ich brauche“ und „Ich will“.
Deswegen ist diese Frage: „Was will ich?“ so wichtig. Diese Frage nach der wirklichen Natur, nach dem wirklichen Wesen, ist eine Frage der Erfahrung und nicht eine Frage des Verstandes und deswegen ist auch die Frage: „Was erfahre ich im Augenblick?“ so wichtig. Ramanas zentrale Frage: „Wer bin ich?“ zeigt sich in drei Fragen:
· Was fühle und erfahre ich?
· Was will ich?
· Wer bin ich?
Hier ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen: Es gibt Gefühle (nicht Körperempfindungen) und innere Erfahrungen, die tiefer sind als Gefühle: Leere, Stille, Frieden, Liebe. Gefühle sind begleitet von stärkerer Körperaktivität, Zunahme des Atems, Herzschlag und des ganzen Energieflusses. Gefühle haben einen Anlass, sie beginnen, wallen auf, verbrennen dann wieder oder lösen sich auf. Die inneren Erfahrungen, die tiefer sind als Gefühle wie Leere, Stille, Frieden und andere sind dagegen begleitet von einem Ruhiger-Werden des Körpers, der immer mehr zurücktritt, Atem, Herzschlag und Muskeltonus verringern sich. Diese inneren Erfahrungen haben keinen Anfang und keinen Anlass. Wenn die Gefühle kommen und gehen wie Wellen, so bleiben diese inneren Erfahrungen wie der Ozean.