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Kapitel 6 (Salya)
ОглавлениеIch drehte mich zur Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Es war noch früh am Morgen, eigentlich viel zu zeitig zum Aufstehen. Aus Furcht vor einem weiteren Albtraum wie in der Nacht zuvor war ich lange aufgeblieben, trotzdem blieb der Schlaf mir verwehrt. Eine Zeit lang plagte mich der Gedanke an die Auseinandersetzung mit meiner Mutter, der ich mich irgendwann unweigerlich würde stellen müssen.
Dann wurde es für diese frühe Stunde ungewöhnlich unruhig im Dorf, und schnell entwickelte es sich zu einem Tumult. Dorfbewohner rannten hin und her, ihre lautstarken Unterhaltungen steigerten sich bisweilen sogar zu Gebrüll. Als eine Frau kreischte, sprang ich aus dem Bett und in meine Kleider und rannte aus dem Haus.
Eine Menschenmenge hatte sich vor dem Haus von Tomas und Sara versammelt. Sie fuchtelten mit den Armen und Händen herum, brüllten, fluchten, weinten. Wem galt ihre Wut? Dem Himmel, dem sie ihre Fäuste entgegenreckten, oder dem Wald, auf den sie anklagend wiesen? Was in Yanusʼ Namen war jetzt wieder passiert? Ich schob mich durch die Menge hindurch und sah jemanden auf dem Boden liegen. Sara kniete daneben.
Kolen trat vor mich und hielt eine Hand vor meine Augen. »Du solltest das besser nicht sehen.«
Ich schritt zur Seite und beugte meinen Kopf, um an Kolen vorbeizuschauen. Wieder trat er vor mich, diesmal fasste er meine Schultern an. »Bitte nicht!«
»Ich will aber!«, sagte ich und ging an ihm vorbei.
Es war Tomas, der auf dem Boden lag. Er war tot. Seine Kehle war aufgerissen und mit verkrustetem Blut bedeckt. Aus einer Wunde am Bauch hingen Teile seiner Innereien – ein widerlicher Brei. Arme und Beine waren mit Bissspuren übersät.
Ich hielt eine Hand auf meinen Bauch. Mir wurde flau, und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. Ich drehte mich um und rannte auf den Waldrand zu, schaffte es aber nicht bis dorthin. Auf halbem Wege blieb ich stehen und kotzte mir vor die Füße – einmal, zweimal, bis nur noch Galle aus mir herauskam. Neben mir erkannte ich Otilia, die sich ebenfalls über den Boden krümmte.
Als mein Magen sich wieder beruhigt hatte, ging ich zurück. Die Dorfbewohner hatten sich inzwischen vor dem Gebetshaus versammelt. Tarlow und Jack hoben ein Grab aus. Einige Frauen und Männer sahen schweigend dabei zu, vielmehr schienen sie ins Leere zu starren. Etwas abseits hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die halblaut diskutierten.
Vom Kotzen war ein ekliger Geschmack zurückgeblieben. Ich schöpfte etwas Wasser aus dem großen irdenen Krug hinter unserem Haus und spülte den Mund aus. Der Geschmack blieb trotzdem. Als ich den Kopf hob, sah ich meine Mutter in der Nähe stehen und mich beobachten. Ausnahmsweise wirkte sie nicht wie ein feuerspeiender Drache. Vielleicht hatte Tomas‘ Tod sie den gestrigen Abend und ihre Wut auf mich vergessen lassen – zumindest vorübergehend. Also wagte ich, sie anzusprechen: »Was ist passiert?«
»Sie sagen, Tomas wurde im Wald von den Wölfen angegriffen. Kolen hat ihn heute Morgen gefunden.«
Ich riss Augen und Mund auf. »Von den Wölfen?«
»Spreche ich undeutlich?« Schon war ihr Ton wieder gereizt.
Ich drehte mich von ihr weg. Die Bilder meines Albtraums wiederholten sich in meinem Kopf – die Gestalt, die Tiere, der Angriff. War es Tomas, dem ich in meinem Traum gefolgt war? Waren es die Wölfe, die ihn zu Boden gerissen hatten?
Sofort schoss mir die Geschichte von Zylesza, der blauen Hexe, in Erinnerung. Jedes Kind im Königreich kannte und fürchtete sie. Wenn Zylesza auf ihrem Besen ritt, wehte ihr blauer Umhang hinter ihr her, und wohin es sie auch zog, stets hinterließ sie Tod und Verderben. Eines Tages begehrten die Menschen gegen sie auf: Sie nahmen sie gefangen, fesselten sie an den Heiligen Baum und verbrannten sie. Das Feuer leuchtete blau, so blau wie ihr Umhang, und war so heiß wie das Feuer eines Drachen. Der Schrecken war damit jedoch nicht gebannt. Auch nach ihrem Tod lauerte sie den Menschen auf, und zwar in ihrem Träumen, und wessen Gestalt sie verfolgte, der verstarb bald darauf auch im echten Leben. Selbst heute noch trugen viele Menschen Amulette, um sich gegen Zylesza und andere Traumhexen zu schützen.
Ich schaute mich um, niemand sah zu mir. Sie erkannten die Angst in meinen Augen nicht; sie hatten selbst alle Angst. Tief atmete ich durch und senkte den Kopf, der voll war mit den Bildern, die mich heimgesucht hatten. Ich brauchte jemanden zum Reden. Neben mir stand meine Mutter, doch lieber höbe ich mein eigenes Grab aus, als mich von ihr als Hexe beschimpfen zu lassen. Jorden stand auf der anderen Seite der Grube, die Tomasʼ Leichnam aufnehmen sollte. Er starrte auf den Boden, wie immer versunken in seiner eigenen Gedankenwelt. Gestern hatte er meine Mutter beleidigt, und das nicht zum ersten Mal. Sie war meine Mutter; er hatte kein Recht, das zu tun. Diesmal würde ich ihm das nicht verzeihen. Ich schaute herüber zu Yarie. Sie war immer meine beste Freundin gewesen. Jorden hatte gesagt, sie sei meine einzige Freundin. Aber ich hatte bestimmt schon mehrere Wochen nicht mehr mit ihr geredet. Wie würde sie reagieren, wenn ich ihr von meinem Traum erzählte? Ich wollte es lieber nicht riskieren, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mein dunkles Geheimnis für mich zu bewahren.
Dunkle Wolken hingen über Schwarzbach und hüllten es in eine bedrückende Dunkelheit. Ein kalter Wind fegte zwischen uns hindurch und wirbelte meine Haare auf. Mit verschränkten Armen stand ich vor dem Grab und wartete auf die Rede. Ich sprach mit niemanden, und niemand sprach mit mir. Alle schauten in die Grube, in der ein Tuch gnädig die schlimmen Wunden des Leichnams verdeckte.
Nachdem Tomasʼ Grab mit Erde aufgefüllt worden war, verharrten wir für einen langen Moment der Stille. Dann trat Sara hervor, um die Abschiedsrede für ihren verstorbenen Ehemann zu halten, doch sie stotterte und brachte kaum einen ganzen Satz hervor. Sie fing an zu weinen und musste abbrechen.
Aminta ging zu ihr, nahm sie in die Arme und erklärte ihr, wie tapfer sie gewesen sei. Darauf wischte sie sich Augen und Nase ab und sprach selbst die letzten Worte für den Verstorbenen.
»Tomas«, sagten wir alle gemeinsam, nachdem Aminta geendet hatte. »Teil unserer Seele, Teil unseres Geistes. Kind des Waldes und Kind unseres Dorfes. Mögest du den Pfad des Lichts beschreiten und Frieden im Jenseits finden.«
Was diese Worte genau bedeuteten, wusste ich nicht. Wir sprachen sie bei jedem Begräbnis, und jeder kannte sie auswendig. Das Ritual half uns dabei, von den Verstorbenen Abschied zu nehmen.
Anschließend nahm jeder etwas Erde in die Hand und warf sie auf das Grab.
»Von jetzt an müssen wir vorsichtiger sein«, rief Kolen. »Wir gehen nur noch in den Wald, wenn es absolut nötig ist.«
»Es ist jederzeit absolut nötig«, sagte Ronja und ging einen Schritt auf Kolen zu. »Wir brauchen Holz, Nahrung und Wasser – jeden Tag.«
Einzelne Bewohner murmelten Zustimmung. »Der Wald ist unser Leben«, hieß es.
»Zumindest sollten wir nicht in der Dämmerung in den Wald gehen«, sagte Kolen. Der Wind zerrte unablässig an ihm, seine Haare flatterten, einzelne Strähnen klebten ihm im Gesicht.
»Willst du uns vorschreiben, wann wir in den Wald gehen dürfen und wann nicht?«, fragte Ronja mit erhobener Stimme.
Ich war nicht die Einzige, die mit den Augen rollte. Immer diese dämlichen Spielchen, wer lauter brüllen konnte, und Ronja war stets vorne mit dabei.
»Ich sage nur, wir müssen vorsichtiger sein.«
»Du sagst, wir sollen uns in Ketten legen. Gefangen im eigenen Dorf wie in einem Kerker!«
Kolen wollte etwas antworten, aber Ronja kam ihm zuvor: »Verkriechen ist nicht meine Art!«
»Ihr habt beide recht«, sagte Tarlow. »Wölfe werden erst aktiv, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. Tagsüber sollten wir sicher sein; in der Dunkelheit müssen wir aufpassen.«
»Wir sollten vor allem nicht mehr allein gehen«, fügte Kolen hinzu.
»Oder ohne Waffen«, sagte Ronja.
»Waffen? Ich glaube nicht, dass Waffen …«
»Wer von euch hat eine Waffe?«, rief Ronja, bevor Kolen seinen Satz zu Ende sprechen konnte.
Tarlow meldete sich zuerst: »Ich hab noch mein rostiges, altes Schwert zu Hause. Einem Ritter würde ich damit nicht entgegentreten, aber es reicht, um einem Wolf die Kehle aufzuschlitzen.«
»Ich habe eine komplette Rüstung, ein Kettenhemd und zwei Messer«, sagte Sir Caster. »Allerdings nur ein einziges Schwert, und ich habe nicht vor, es jemandem auszuleihen.«
»In meinem Haus steht einiges herum«, sagte Carl. »Zwei oder drei der Bögen müssten funktionieren, dazu ein Speer und zahlreiche Messer. Die Waffen sind alle zum Jagen geeignet.«
»Bei mir müsste noch ein alter Kriegshammer rumliegen«, sagte Jack.
Weitere Bewohner meldeten sich, einige besaßen Äxte zum Holzfällen, ansonsten nur noch kleine Messer. Ich hätte auch mein kleines Messer mit dem Pilzgesicht erwähnen können, aber wozu? Ich würde damit sicher nicht auf Wolfsjagd gehen.
»Wir sollten nicht vorschnell handeln«, rief Kolen. »Zu den Waffen zu greifen, ist keine Lösung.«
»Und was ist deiner Meinung nach die Lösung?«, fragte Ronja.
»Wir müssen ruhig bleiben und uns auf unsere Arbeit konzentrieren. Mit Tomas hat das Dorf einen weiteren Bewohner verloren, und wir müssen seine Arbeit unter uns aufteilen. Ab jetzt muss jeder von uns härter anpacken.«
»Deine Parolen langweilen mich, Kolen! Wo ist deine Lösung?«
»Zumindest dürfen wir nicht in Angst verfallen und erst recht nicht in Panik!«
Ronja kratzte sich am Kopf. »Entweder wir stellen uns den dunklen Mächten, oder wir hauen ab.«
»Welche dunklen Mächte?«, fragte Kolen.
»Du willst es immer noch leugnen?«
»Tomas starb durch die Klauen der Wölfe, nicht durch Schwarze Magie!«
Jetzt kratzte sich Ronja am Hals. »Du willst mir erzählen, das war Zufall? Erst das Mädchen, jetzt die Wölfe?«
»Natürlich war das Zufall! Wir sind weder verflucht, noch suchen uns dunkle Mächte heim. Du bildest dir das ein!«
Ronja wandte sich an uns. »Was sagt ihr, bilde ich mir das ein?«
Niemand antwortete.
»Bilde ich mir das ein?«, brüllte sie so laut, dass ich erschrak.
»Nein«, sagten mehrere Bewohner, manche laut, manche leise, einige schüttelten den Kopf.
»Sieh und hör genau hin!«, forderte Ronja Kolen auf und spuckte ihm vor die Füße. Sie kam einen weiteren Schritt auf ihn zu und reckte ihr Kinn. »Und jetzt sag mir noch einmal ins Gesicht, ich bilde mir etwas ein!«
Ronja schaute ihn eine Weile lang an. Er jedoch vermied ihren Blick und schaute ängstlich zur Seite. Als sie sich sicher war, keine Antwort mehr zu erhalten, grinste sie hämisch, dann stapfte sie davon.
Kolen blieb stehen und schaute Ronja hinterher, danach blickte er nachdenklich in Richtung seines Hauses und schien sich nicht mehr bewegen zu wollen.
Die Gestalt kletterte einen Baum hoch. Um sie herum flatterten Laubblätter, gelb und rot, angestrahlt von einem hell leuchtenden Kreis. Schon wieder dieser Kreis! Er war so weit weg von mir, hoch oben schwebte er am Himmel, höher als jeder Baum. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute zu ihm hinauf. Er blendete mich so stark, ich musste die Augen zusammenkneifen. Doch ich kämpfte gegen die Helligkeit an, schließlich wollte ich ihn unbedingt betrachten, wollte ihn in all seiner Pracht bewundern, wollte allen Menschen von seiner Schönheit erzählen.
An dem Kreis hing etwas. Verzierungen? Zeichen? Symbole? Es war nicht einfach nur ein Kreis.
Siehst du diesen Kreis?
Die Person schien mich nicht zu hören. Sie summte ein Lied und kletterte die Äste entlang. Sie war glücklich, ihre Aufgabe schien ihr Spaß zu machen. Leider konnte ich nicht erkennen, wer sie war – ich sah nur ihre Umrisse. Sie sah aus wie ein Schatten.
Was ist das für ein Kreis und was hängt an ihm dran?
Die Gestalt antwortete nicht. Ich musste es selbst herausfinden. Was auch immer auf dem Kreis war, es war nicht gleichmäßig angeordnet. Eines der Symbole stand für sich allein, den anderen gegenüber, so weit weg von ihnen wie möglich. Warum war das so?
Der Kreis fing an, sich zu bewegen. Zunächst langsam, dann immer schneller. Er flog über den Wald, weg vom Dorf, weg von mir, immer weiter, bis er schließlich aus meinem Blickfeld verschwand.
Als der Kreis fort war, wurde es mit einem Schlag düster im Dorf. Ein Blitz krachte vom Himmel. Die Gestalt im Baum blickte sich hektisch um. All die schönen Blätter um sie herum lösten sich von den Ästen, doch sie glitten nicht langsam zu Boden, sondern fielen wie Steine. Sie leuchteten nicht länger in prachtvollen Farben, sondern verdorrten zu einem tristen Grau.
Die Person hing mit Armen und Beinen an einem nackten Ast, ein schwarzer, dünner, langer Ast. Sie hangelte sich weiter hinauf.
Wieso kletterst du weiter? Wohin willst du?
Sie schaute nicht zu mir, und sie sagte nichts, sondern kletterte weiter nach oben, immer weiter, in die unendliche Dunkelheit des Himmels hinein. Der Ast wurde zu seinem Ende hin immer dünner, immer zerbrechlicher. Er zitterte, er knarrte.
Hör auf! Der Ast bricht ab!
Doch die Person schob sich weiter voran, im Wipfel konnte ich sie kaum noch erkennen.
Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken, und als ich wieder hinsah, fiel die Gestalt vom Baum und schlug mit voller Kraft auf dem Boden auf. Ich lief zu ihr, beugte mich über sie und sah die Umrisse ihres Kopfes. Kein Gesicht war zu erkennen, ihr Körper war so dunkel wie die Nacht. Aus dem Kopf trat Blut aus, rot leuchtendes Blut, erst aus einer Wunde, dann aus zweien, dann aus mehreren. Es verteilte sich über Körper und Boden, unbeirrt und unaufhaltsam.