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Kapitel 5 (Kolen)

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Früh am Morgen verließ ich unser Wohnhaus, das ich mit meiner Frau Myla und meinem Sohn Kolosan teilte. Das Wirtshaus stand direkt gegenüber, ich musste nur den Hauptweg des Dorfes überqueren, um vor seiner Tür zu stehen.

Ich ging die Treppe hoch zu den Gästezimmern und fand sie leer vor – der Fremde war bereits abgereist. Ich war nicht unglücklich darüber, denn so konnte ich mit meiner Familie frühstücken.

Myla hatte Kräutertee aufgekocht und ich Eier mit Speck, Zwiebeln und Tomaten gebraten. Kolosan schob hastig eine Gabel nach der anderen in den Mund.

»Iss nicht so schnell!«, ermahnte Myla ihn.

Kolosan gehorchte, aber nur für eine kurze Weile. Als Myla nicht mehr hinsah, aß er wieder schneller. Er machte erst eine Pause, als ihm etwas Wichtiges einfiel: »Heute Abend ist endlich wieder Lagerfeuer!«

Ich lachte. »Freust du dich auf Infernale? Das habt ihr diesen Herbst noch gar nicht gespielt.«

»Oh ja«, sagte er und lächelte. »Ich bin schon viel besser geworden. Beim letzten Mal habe ich aus den Flammen einen Baum geformt, da haben die anderen echt gestaunt!«

»Das ist toll«, sagte ich, »aber kein Grund, so zu schlingen.«

»Aber ich muss zur Übungsstunde mit Sir Caster.«

»Sir Caster würde nicht wollen, dass du mit leerem Magen auftauchst.«

»Er will aber erst recht nicht, dass wir zu spät kommen. Er ist streng.«

Myla und ich tauschten Blicke aus.

»Also gut«, sagte ich, »dann geh und verpass ihm einen Hieb von Kolosan dem Furchtlosen!«

Kolosan lächelte und stand auf. Ich ging zu ihm und strich mit der Hand durch seine Haare – die hatte er von mir: dünn, weich und von goldblonder Farbe. Am liebsten hätte ich ewig in seinen Haaren gewühlt, aber er zog den Kopf weg und stürmte aus dem Haus.

»Er verfolgt seine Ziele«, sagte Myla. Sie sagte es nicht als Feststellung, sondern als Vorwurf.

»Ein Kind sollte wissen, was es will, und hart daran arbeiten«, erwiderte ich.

»Er ist erst elf Jahre alt. Er weiß noch nicht, worauf er sich einlässt.«

»Die meisten jungen Männer im Königreich träumen davon, Ritter zu werden. Du solltest ihm diesen Traum nicht nehmen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Weil sie falsche Vorstellungen haben. Sie hören Geschichten von Ruhm und Ehre, und das macht sie blind für alles andere.«

»Sir Caster erzählt ihm sicher keine Lügen. Wer kann ihn besser vorbereiten als ein ehemaliger Ritter der königlichen Garde?«

»Er kann ihn vorbereiten, wenn er erwachsen ist.«

»Man sollte so früh wie möglich als Knappe anheuern, hat Sir Caster gesagt, und als Kind lernt man am schnellsten.«

»Aber nicht im Alter von zwölf Jahren! Er würde schon nächstes Jahr seinen Beutel packen und das Schwert in die Hand nehmen, wenn wir ihn ließen.«

»Er hat sich dafür entschieden, Myla.«

»Und du hast es ihm erlaubt.«

»Ja, das habe ich. Daher kann ich es auch nicht rückgängig machen. Ein Mann muss seine Versprechen halten.«

Ihr Blick bekam etwas Lauerndes. »Dein Wirtshaus wird er auch nicht übernehmen.«

Mylas Worte trafen mich wie ein Pfeil in die Brust. Sie hatte recht, er würde das ›Gerupfte Huhn‹ nicht weiterführen, wenn ich einmal alt wäre, und außer ihm hatte ich keinen Erben. Schlimmer noch, er würde auch die Leitung des Dorfes nicht antreten. Düstere Aussichten für unser wunderbares Schwarzbach.


Mein Rundgang startete heute bei der Grube, die wir zu einem Brunnen ausbauen wollten. Ronja und ich hatten ausgemacht, heute so lange weiterzugraben, bis wir endlich auf Wasser trafen. An der Grube traf ich sie jedoch nicht an, stattdessen fand ich sie an ihrem Haus, an dessen Dach sie arbeitete.

»Wir wollten uns an der Grube treffen«, rief ich ihr zu.

»Ich muss mein Dach reparieren«, sagte sie. »Sind einige Löcher drin.«

»Der Brunnen muss bald fertig werden, der Winter reitet im Galopp auf uns zu.«

»Das hat noch Zeit«, sagte sie in abfälligem Ton. »Mein Dach kommt zuerst dran.«

Ich atmete tief durch. »Ronja, uns mag weniger Zeit bleiben, als wir denken. Der Frost kann über Nacht kommen, und wenn er den Bach in Eis verwandelt, wird das Wasser knapp. Das Problem sucht uns jeden Winter heim.«

»Geh und erzähl das den Eichhörnchen, ich habe zu tun!«

»Du bist unsere Handwerkerin, wir brauchen dich!«

Ronja warf ihren Hammer mit voller Kraft zu Boden. Er schlug mit einem dumpfen Geräusch auf und bohrte sich ein beachtliches Stück ins feuchte Erdreich. Ronja kletterte die Leiter hinab, kam mit großen Schritten heran und stellte sich vor mich hin, näher, als mir lieb war. Sie war die größte Bewohnerin des Dorfes und überragte mich um eine ganze Kopflänge, außerdem war sie doppelt so breit wie andere Frauen und hatte Arme so dick wie meine Beine.

»Bluten deine Ohren, Kolen?«, schnaubte sie.

Ich war zu weit gegangen, und eine Pranke wollte ich nicht riskieren. Als wir beide noch Kinder waren, hatten einige von uns Ronja den Spitznamen ›Großer Bärenarsch‹ gegeben. Irgendwann hatte sie davon erfahren und einem von uns den Arm gebrochen. Seitdem nannten wir sie nur noch ›Großer Bär‹ – zumindest in ihrer Anwesenheit. Die Erinnerung an diesen Vorfall sollte mir jedenfalls als Mahnung reichen, sie nicht weiter zu reizen.

»Nein, es tut mir leid«, antwortete ich.

Der aggressive Gesichtsausdruck wich aus ihrem Gesicht. »Mein Haus fällt auseinander, ich muss es reparieren.«

»Das verstehe ich.«

Sie ging ein paar Schritte zum Gebäude und wieder zurück. »In letzter Zeit fällt alles auseinander«, sagte sie und kratzte sich am Hinterkopf. »Es kommt mir vor, als würden wir immer tiefer in die Finsternis gesogen.«

»Was meinst du?«

»Schau dich um, öffne die Augen und spitz die Ohren! John beklagt eine schlechte Ernte, Gatlins Tiere sind krank, und kein Wildtier läuft mehr vor Carls Bogen. Außerdem kann ich mich nicht daran erinnern, wann die Sonne das letzte Mal geschienen hat.«

»Aus einer Quelle sprudelt nicht immer Wasser, Ronja.«

»Und aus einem Wald kommen nicht immer Diener Zantuls und verfluchen einen.«

Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. »Das Mädchen war krank. Sie war weder ein Geschöpf der Finsternis, noch beschwor sie Schwarze Magie.«

»Was auch immer es war – es war kein Geschöpf menschlicher Natur.«

Es fühlte sich an, als spräche ich mit einem kleinen Kind, das einen Albtraum durchlebt hatte. Stand wirklich Ronja vor mir? Die furchtlose Ronja, die allein mit ausgewachsenen Wildschweinen kämpfte?

»Es hat aber auch niemandem etwas getan, oder?«

Sie kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Noch nicht, aber wenn die ersten Flammen in einem von uns aufwallen und ihn von innen verbrennen, wird es zu spät sein.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Glaubst du jeder Kindergeschichte?«

Sie ging wieder einen Schritt auf mich zu. »Hältst du mich für eine Närrin?«

Hastig schüttelte ich den Kopf. »Nein! Wir sollten uns bloß keine Angst einjagen lassen. Der ärgste Feind des Dorfes ist der Winter – schon immer gewesen. Ihm sollten wir unsere Anstrengungen widmen.«

Ronja fing wieder an zu laufen, in die eine Richtung, in die andere Richtung, vor und wieder zurück. Als sie vor mir zum Stehen kam, kratzte sie sich am Hals. »Die Zeiten sind finster, Kolen. Wir werden uns wappnen müssen.«

»Die Zeiten sind …«

»Ich bin keine, die feige wegrennt«, unterbrach sie mich. Sie ballte ihre Rechte und reckte sie gen Himmel. »Aber gegen Schwarze Magie helfen auch die stärksten Fäuste nicht!«

Sie drehte sich um, zog ihren Hammer aus der Erde und stieg wieder aufs Dach. Die Leiter stand wackelig und drohte, unter ihrem Gewicht wegzurutschen. Aber sie hielt stand.

Ich kam an der Statue meines Vorfahren vorbei und hielt an. Er hatte ebenfalls Kolen geheißen, und er hatte das Dorf vor über dreihundert Jahren gegründet. Er stand mit herausgestreckter Brust auf dem Podest, die Hände auf die Hüften gelegt, und hielt seinen Kopf stolz in die Höhe.

Das ist mein Dorf, schien er zu sagen.

Was dachte er über meine Arbeit? War ich ein würdiger Nachfolger? Das Dorf sah schweren Zeiten entgegen, auch das Gespräch mit Ronja hatte dies gezeigt. Aber ich war mir meiner Aufgaben bewusst, und ich versprach meinem Vorfahren, das Dorf auch durch diese Zeiten zu führen.

Schwarzbach ist unser Zuhause. Schwarzbach muss leben. Er hatte diese Worte damals an seinen Sohn gerichtet, und ich hatte sie von meinem Vater gelernt. Ich musste sie in Ehren halten – noch nie hatten sie eine so große Bedeutung für mich wie in diesen Tagen.

Ich entfernte mich von der Statue, doch ihren Blick spürte ich weiterhin auf mir lasten. Drehte ich mich um, würde sie mich anschauen – war es doch fast überall im Dorf so, als beobachtete sie einen. Nur hinter ihrem Rücken konnte man sich vor ihren Blicken verstecken.

Anschließend suchte ich Jack auf. Er konnte einen immer aufmuntern, auch nach einer Konfrontation mit Ronja.

Jack lag neben seinem Haus und schlief. Er schnarchte so laut, wie er redete, wenn er getrunken hatte. Sein dicker, behaarter Bauch lag frei und bewegte sich gleichmäßig auf und ab.

»Hey Jack!«, rief ich.

Ich musste laut sprechen, um sein Schnarchen zu übertönen, doch aufwecken konnte ich ihn damit nicht. Ich brauchte vier Versuche und musste ihm sanft gegen das Bein treten, bis er eine Reaktion zeigte. Er öffnete langsam die Augen und schaute mich verdutzt an. Dann schüttelte er kurz und heftig seinen Kopf und wieherte dabei wie ein Pferd.

»Was machst du da?«, fragte ich ihn.

»Wonach sieht es aus? Ich liege faul herum und reibe mir den Bauch, har!«

Ich lachte. »Bei diesen Temperaturen? Es ist fast Winter!«

»Solange es nicht schneit, ist für mich Sommer, har!«

Trotzdem stand er auf, bedeckte seinen Bauch und zog sich seinen Mantel über. »Nur Spaß, es ist verdammt kalt geworden. Wenn wenigstens die Sonne scheinen würde.«

»Dann hättest du einen Sonnenbrand auf dem Bauch bekommen.«

»Har, wozu habe ich einen Pelz?« Er rieb sich kräftig die Augen und schaute sich um. »Ich scheine lange geschlafen zu haben.«

»Hast du noch etwas vor?«

»Kühe melken, Holz sammeln und vielleicht mit Tarlow und Carl in den Wald gehen zum Jagen.«

»Heute ist wieder Lagerfeuer«, sagte ich.

»Das heißt, du öffnest heute Abend nicht dein Wirtshaus?«

Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet. Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Das Fest hat heute Vorrang. Morgen wieder.«

»Das will ich doch hoffen! Ist aber verwunderlich, dass das Lagerfeuer heute stattfindet. Die Dorfbewohner sehen nicht so aus, als wäre ihnen zum Feiern zumute.«

»Das stimmt, aber wir müssen den Kindern zeigen, dass das Leben im Dorf normal weitergeht. Kinder spüren es, wenn Erwachsene Angst zeigen.«

Jack nickte. »Außerdem dürfen wir ihnen den Spaß nicht nehmen. Sie lieben Infernale, und das Spiel wird sie ablenken.«

Später während des Rundgangs kam ich an Sir Casters Haus vorbei. Kolosan übte gerade mit Luan, einem zehnjährigen Jungen. Kolosan schwitzte und schnaubte. Er hatte Spaß am Schwertkampf und bewies Ehrgeiz. Sein Kontrahent war ihm jedoch ebenbürtig. Ihre Holzschwerter prasselten unentwegt aufeinander, und keiner von beiden ließ den entscheidenden Hieb zu. Kolosan war so vertieft in seinem Kampf, er bemerkte nicht, wie ich ihn beobachtete. Sir Caster aber sah mich und lächelte mir zu. Danach brüllte er wieder Anweisungen an die übenden Kinder.

Greta arbeitete in ihrem Garten. Es war ein großer Garten voll mit Blumen, Pflanzen, Gemüse und Gewürzen. Schon aus einigen Schritten Entfernung stieg einem der Duft in die Nase. Es war ein frisches, belebendes Aroma, das mich jedes Mal zum Träumen anregte.

Greta nannte ihn ›den Duftgarten‹, und niemand durfte etwas anderes dazu sagen. Der Garten erstreckte sich wie ein grünes Meer, gekrönt von Blüten in allen möglichen Farbrichtungen. Die Mitte zierte ein Bereich strahlend roter Blumen, groß und dicht gewachsen. In einer Ecke wuchsen Pflanzen mit Blüten in kraftvollem Gelb, daneben abwechselnd Reihen in Blau und in Grün.

Neben Greta arbeitete Salya im Duftgarten. Sie war mit den Kartoffeln beschäftigt. Keiner von beiden schaute zu mir hoch, als ich ankam.

»Hallo ihr beiden!«, rief ich und trat näher.

Greta reagierte nicht, Salya schaute kurz auf und brachte ein schwaches »Hallo« hervor.

Ich ging vor Greta in die Hocke. »Wie laufen deine Vorbereitungen für den Winter?«

»Überall Feinde!«, sagte sie, ihren Blick auf den Boden gerichtet. »Er scheut die Sonne, aber in der Dunkelheit verfolgt er seine Machenschaften.«

»Wirst du angegriffen?«

»Ein Maulwurf buddelt sich durch das Erdreich, heimtückisch und frech.«

»Und wie willst du gegen ihn kämpfen?«

Greta kicherte und streichelte eine Pflanze mit kleinen, spitzen Blättern und lila Blüten. »Das Witwenkraut ist das stärkste unter den Pflanzen. Ein Bissen, und der Maulwurf buddelt sich nie wieder durch die Erde.«

»So stark ist dieses Kraut?«

Wieder kicherte sie. »Ein Blatt, und auch ein Hund steht nie wieder auf. Eine ganze Pflanze, und die Bitterkeit schnürt selbst einem Ochsen den Hals zu.«

Jetzt bot sich hoffentlich die richtige Gelegenheit; ich probierte es ein zweites Mal: »Greta, wie sehen deine Vorräte für den Winter aus?«

»Erst der Maulwurf, erst der Maulwurf …«

»Aber ich …«

»Er handelt mit Arglist, liebe Kräuterlein!«

Es schien zwecklos, sie redete zu ihren Pflanzen. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit durch einen Themawechsel zurückzugewinnen und erzählte ihr vom reisenden Söldner, der uns gestern Nacht besucht hatte, doch auch mit dieser Geschichte fand ich kein Gehör.

Mein Rundgang ging früh zu Ende. Die meisten Dorfbewohner waren wenig gesprächig, sie bevorzugten es, in Ruhe zu arbeiten. Einige hatten bereits mit der Vorbereitung des Lagerfeuers angefangen. Ich sah den Kindern dabei zu, wie sie versuchten, das Feuer zu entfachen, und dachte an meine eigene Kindheit. Das Feuer hatte mich immer fasziniert, und es zu entfachen, empfand ich als eine Herausforderung. Wenn sich die Flammen jedoch nicht ausbreiten wollten, war ich schnell entmutigt. Um den Kindern diesen Misserfolg zu ersparen, half ich ihnen. Ich zeigte ihnen meine Zwiebelstellung: das dünne Holz nach unten und die dickeren Äste weiter oben. Wir bauten kreisförmige Schichten um die Feuerstelle herum und rammten einige sehr dicke Äste in den Boden, um die Zwiebel zu stabilisieren. Das Entfachen des Feuers überließ ich dann jedoch den Kindern – schließlich war es ihre Aufgabe.


Während des Lagerfeuers wanderte mein Blick von einem Dorfbewohner zum anderen. Die Kinder spielten und hatten Spaß, aber die Erwachsenen lachten wenig, redeten wenig und tranken wenig. Tarlow tippte sich mit seinen Fingern ständig aufs Knie, Jack spielte permanent an seinem Bart herum, und Aminta fuhr sich mit ihren Händen immer wieder durchs Haar. Ich sah, wie einige sich zum Wald umdrehten und danach mit ihren Blicken das Dorf nach etwas absuchten, das es nicht gab. Glaubten sie wirklich, dieses Mädchen würde wiederkommen?

Sir Caster schien nicht daran zu glauben. Er saß entspannt auf dem Boden, schaute den Kindern bei ihrem Spiel zu und schenkte ihnen ein Lächeln, wenn sie zu ihm schauten. Er war der Einzige, der seinen Kopf zu Marillas Musik bewegte, auch wenn sie düster und traurig klang. Er pfiff die Melodien mit und applaudierte nach jedem Lied. Neben ihm schien Jack der einzige Erwachsene mit guter Laune zu sein. Doch die zur Schau getragene Laune verbirgt oft die wahren Gefühle im Inneren. Ein guter Wirt kennt seine Gäste, und ein guter Anführer kennt die Bewohner seines Dorfes.

Für die Gemeinschaft im Dorf war es wichtig, zusammen am Feuer zu sitzen und in der guten Laune zu baden, welche die Kinder verströmten. Ihr Tatendrang und ihr Ehrgeiz konnte eine Inspiration für die geschockte Seele des Dorfes sein. Ich hoffte nur, die Dorfbewohner würden ihre Ängste mit der Zeit überwinden können, um sich mit voller Kraft den Aufgaben des kommenden Winters zu widmen.

Quinas gelbe Feuerkugel strahlte uns mit wunderschöner gelber Farbe an und sah dem richtigen Mond zum Verwechseln ähnlich. Bei diesem Spektakel klatschten wir alle in die Hände.

»Ich kann schon die Wölfe dazu jaulen hören«, rief Sir Caster. Da fiel mir ein, dass ich mit ihm über Kolosan reden wollte, und setzte mich neben ihn. Marilla spielte ›Der Eisgigant‹ auf ihrer Laute, und der Ritter pfiff die einzelnen Strophen mit; beim Hauptteil sang er aus voller Kehle. Es war ein trauriges Lied, langsam gespielt und mit vielen tiefen Tönen, doch Sir Casters Gesang brachte einen fröhlichen Schwung hinein. Während zwei Kinder versuchten, einen Fisch aus dem Feuer zu formen, sah ich vorsichtig zu ihm hinüber. Er trug einen schwarzen Lederumhang, verziert mit kleinen, weißen Edelsteinen. Auf dem rechten Arm prangte ein segelnder Falke auf rotem Hintergrund.

»Ein wahrhaft prächtiges Banner«, sprach ich ihn an, als Marillas Lied zu Ende war. Sir Caster applaudierte ihr und schaute zu mir herüber.

»Der Falke über Payton Grat ist stolz und unermüdlich«, sagte er. »Er wohnt dort schon länger als die Paytons selbst, und er wird die Menschen um viele Epochen überleben.«

»Ich habe noch nie einen Falken gesehen.«

»In Payton Grat tummeln sie sich so zahlreich wie in anderen Städten die Ratten.«

»Hat Euer ehemaliger König seine Heimat oft besucht?«

Sir Caster zog seine Augenbrauen hoch. »Meiner? Er ist auch Euer ehemaliger König.«

»Natürlich ist er das«, sagte ich und betonte: »Unser ehemaliger König.« Hier in Schwarzbach war uns einerlei, wer gerade auf dem Thron saß, doch das war dem Ritter sicherlich bewusst.

Jetzt lächelte er. »Nicht so häufig, wie er gerne hätte, und auch ich hätte ihn mit Vorliebe öfter dorthin begleitet. Es ist eine lebhafte Stadt mit riesigen Gebäuden aus Granit, und die Berge sind von malerischer Schönheit.«

»Wieso hat er seinen Sitz nicht dorthin verlegt?«

»Lloyandasburg liegt nun mal in der Mitte des Königreichs. Von dort aus konnte er seine Truppen viel strategischer einsetzen.«

Während er sprach, huschten verschiedenfarbige Lichter über ihn hinweg, rot, grün, gelb und lila, doch das Blau des Meeres wollte den Kindern nicht gelingen. Sie mixten immer mehr Feuersteine, doch je mehr sie probierten, desto unreiner wirkte die Farbe.

»Wie schlägt sich Kolosan beim Schwertkampf?«, fragte ich Sir Caster.

»Er macht gute Fortschritte für sein Alter«, erklärte er. »Das Schwert liegt gut in seiner Hand, und seine Füße bewegen sich schnell. Aus ihm kann ein geschickter Ritter werden.«

»Das freut mich zu hören. Doch ist sein Gemüt nicht sein stärkster Gegner? Zu Hause handelt er ungeduldig und ist schnell erzürnt.«

Sir Caster lachte. »Stimmt wohl, aber so ist jeder ehrgeizige Junge in seinem Alter. Als Knappe wird er die Geduld lernen; sie ist eine der wichtigsten Tugenden eines Ritters.«

»Er hat noch viel Zeit, diese Tugenden zu lernen. Er hat ein langes Leben vor sich.«

»Je früher, desto besser. Das gilt für die Ritterschaft wie für den Bauern und den Schneidermeister.«

Die Kinder hatten den Fisch nicht formen können. Sie vergossen Tränen, und ihre Eltern eilten herbei, um sie zu trösten. Doch sie waren nicht zu trösten, nicht, solange sie das Feuer nicht zähmen konnten. Sie hielten an ihren Feuerstäben fest, bis die Erwachsenen ihr Mitleid vergaßen und ihnen die Stäbe aus den Händen rissen. Andere Kinder wollten sich schließlich auch noch der Kunst des Feuers hingeben.

Der nächste Feuerartist war an der Reihe, es war Kolosan. Diesmal wurde keine Form vorgegeben, sondern sollte von den Zuschauern erraten werden. Kolosan würde entweder ein Schwert oder einen Schild formen wollen, zwei sehr anspruchsvolle Figuren. Selbst für die meisten Erwachsenen wäre dieser Baum zu dick zum Fällen.

»Sollte Kolosan den Schwertkampf nicht lieber unter Euch erlernen statt unter einem fremden Ritter? Ihr seid ein ehemaliger Ritter der Königsgarde, nicht einmal ein Prinz könnte einen besseren Lehrer finden als Euch.«

Sir Caster lächelte. »Danke für die hellen Worte, Kolen! Aber zu einer Ausbildung als Ritter gehört mehr als nur der Schwertkampf.«

»Und das kann er nicht bei Euch lernen?«

»Ein Knappe lernt am meisten, wenn er mit einem Ritter unterwegs ist. Das kann ich ihm nicht bieten, schließlich bin ich seit dem Sturz meines Königs nicht mehr im Dienst. Sollte es zu einer Rebellion kommen, würde ich natürlich in der vordersten Reihe kämpfen, aber daran glaube ich nicht.«

Grau-weiße Flammen stiegen in den Himmel, begleitet von grau-weißem Rauch. Die Farbe war nicht perfekt, aber sie erinnerte mich immerhin an Metall. Bloß mit der Form hatte Kolosan noch zu kämpfen. Bislang hatte keiner einen Schild erkennen können.

»Aber muss man schon mit zwölf Jahren anheuern?«, fragte ich Sir Caster.

Er lächelte. »Darum geht es Euch also.«

Ich nickte.

»Dies ist keine Sache des Zwangs«, sagte er. »Euer Sohn muss gar nichts.«

»Aber er sollte.«

Sir Caster schaute mich an wie ein Kleinkind, dem man alles dreimal erklären muss. »Muss ich mich wiederholen?«

Ich seufzte. »Nein, müsst Ihr nicht. Ich frage mich nur, ob zwei Jahre von Bedeutung sind. Vielleicht macht es nicht viel aus, wenn er erst mit vierzehn Jahren die Ausbildung beginnt.«

»Es macht viel aus, Kolen. Es gibt Kinder, die bereits im Alter von sechs Jahren einem Ritter übergeben werden.«

»Mit sechs Jahren?«

»Früh geschliffen, tief geschnitten – alter Ritterspruch.«

Derweil warf Kolosan den Feuerstab auf den Boden, beschimpfte seine Kumpane als dumme Esel und ging stampfend nach Hause. Niemand hatte seinen Schild erkannt, und seine Mannschaft drohte zu verlieren. Sir Caster lachte laut auf, ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln.

Ich wollte dem Ritter weitere Fragen stellen, aber mir fielen keine ein. Er hatte mir die rohe Wahrheit vor die Füße geworfen, und seine Meinung war so klar wie das Wasser Schwarzbachs: Kolosan sollte lieber heute als morgen aufbrechen. Ich dachte an meinen Jungen, ich dachte an Myla und drehte meinen Kopf zur Mitte des Dorfes, wo direkt neben meinem Wohn- und Wirtshaus die Statue meines Vorfahren stand. Sofort fing sie meinen Blick auf. Im Dunkeln wirkte sie wie ein Riese, der über unser Dorf wachte. Wie immer schaute der Riese zu mir, starrte mich an, verfolgte jede meiner Bewegungen. Ich drehte meinen Kopf zurück zum Feuer, doch der Blick der Statue blieb auf meinem Rücken haften, und ich wusste, er würde den ganzen Abend lang dort bleiben.

Nach dem Spiel schickten wir die Kinder ins Bett, aber von den Erwachsenen blieben noch einige am Feuer sitzen. Jorden stritt sich mit Salya – mal wieder. Warum tat er sich das immer und immer wieder an?

Tarlow versuchte währenddessen, eine Frau aus dem Feuer zu formen. »Früher hat mir das Feuer gehorcht wie der Lakai dem König, ich schwöre es euch!«

Keiner sagte etwas dazu. Eine längliche Form nahm das Feuer zwar an, aber eine Frau konnte man auch mit großer Anstrengung nicht erkennen.

»Wieso werden die Flammen denn jetzt gelb?«, brüllte er. »Verdammte Axt!«

»Weil du zu dumm dafür bist«, sagte Ronja. »Lass den Stab ruhen und belästige uns nicht mit deinen kläglichen Versuchen! Du hast versagt, jetzt scher dich vom Feuer!«

Tarlow schmiss den Feuerstab auf den Boden. »Früher hab ich das mit nur einer Hand geschafft«, murrte er.

Jack fuhr sich über seine Glatze, danach wanderte seine Hand zurück zum Bart. Ich erwartete einen albernen Witz, doch ich wurde enttäuscht.


Wir wärmten uns an den Flammen, während die Kälte uns gegen den Rücken drückte. Der Wind zerrte und rüttelte am Feuer, doch es sträubte sich und rauschte und knisterte munter weiter. Gesprochen wurde kaum noch. Ich bewegte mich in meinen Gedanken bereits durch den nächsten Tag, dann durch die nächste Woche und durch den kommenden Winter. Erst als jemand zum Feuer gerannt kam, wurden meine Gedanken jäh unterbrochen.

»Habt ihr Tomas gesehen?«, fragte Sara. Ihren Augen waren weit aufgerissen, und ihr Oberkörper bewegte sich auf und ab, während sie nach Atem rang. Normalerweise war sie eine ruhige, fast unverwüstliche Frau. Was war mit ihrem Mann geschehen?

»Nein, er war den ganzen Abend nicht hier«, sagte ich.

»Er hätte schon längst zurück sein müssen, vielleicht ist ihm etwas passiert!«

»Wo ist er hin, und was hatte er vor?«

»Er ist vorhin in den Wald gegangen, genau dort«, sagte Sara und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle in der Nähe von Jacks Haus. »Ich weiß nicht, was er vorhatte.«

»Er wird schon noch kommen«, sagte Ronja.

Sara schüttelte den Kopf. »Niemals würde er so spät erst nach Hause kommen.«

»Dann sollten wir ihn suchen gehen«, schlug ich vor.

Wir teilten uns in mehrere Gruppen auf, um den Rand des Waldes abzusuchen.

»Nehmt euch vor den Wölfen in Acht«, sagte ich zu den anderen, bevor wir losgingen.

»Für jeden Wolf habe ich eine Faust zu verteilen«, antwortete Ronja und grinste.

Ich ging zusammen mit Tarlow und Jack. Jack nahm eine Öllampe mit, damit wir zumindest sehen konnten, wo wir hintraten.

»Mögen wir verdammt sein, wenn wir ihn nicht finden«, sagte Tarlow.

Wir schauten hinter jeden Baum und suchten jeden Fleck des Bodens ab. Nicht weit von uns hörten wir die anderen Gruppen durch den Wald marschieren und Tomasʼ Namen rufen. Bisher hatte keiner eine Spur gefunden.

»Wir sollten nicht zu tief in den Wald hineingehen«, mahnte ich, als das Dorf hinter den Bäumen kaum noch zu sehen war.

»Der Wolf scheut den Menschen«, sagte Tarlow. »So schnell greifen sie einen nicht an.«

»Dem Söldner haben sie gestern auch aufgelauert«, warf Jack ein.

»Er war allein unterwegs, und als er seinen Stahl zückte, zogen sie sich zurück.«

»Stahl tragen wir nicht an uns. Aber ich kann mit meiner Öllampe nach ihnen werfen, har!«

»Wir sind zu dritt, die Wölfe werden sich hüten«, sagte Tarlow.

Doch mit jedem Schritt in den Wald hinein wurden meine Knie weicher. »Wir sollten wirklich nicht zu tief vordringen«, sagte ich erneut.

Jack rieb sich mit der Hand über den Kopf. »Ich denke auch, wir sollten umkehren. In der Dunkelheit finden wir niemanden.«

»Ist dir kalt?«, fragte ich ihn.

»Mein Bart mag sprießen wie Unkraut, auf dem kahlen Kopf hilft mir das allerdings wenig, har!«

»Wir können nicht aufhören zu suchen, nur weil uns kalt ist«, sagte Tarlow.

Plötzlich raschelte es vor uns. Sofort blieben wir stehen. Jack streckte seinen Arm aus, um mit der Lampe zu leuchten. Nichts war zu sehen. Es raschelte wieder, diesmal an zwei verschiedenen Stellen.

»Lasst uns verschwinden!«, sagte ich, doch in dem Moment leuchteten vor uns neben dem Baum zwei Augen auf, gelb, mit roten Farbflecken, die über die glimmende Iris tanzten wie Feuer. Die Augen blinzelten, dann kamen sie näher – ein Wolf! Ich ballte meine Fäuste. Plötzlich erschien Jacks Bemerkung mit der Öllampe nicht mehr als Witz. Bedächtig setzte der Wolf eine Pfote vor die andere, sein schwarzes Fell machte ihn in der Dunkelheit fast unsichtbar. Hinter und neben ihm erschienen zwei weitere Wölfe. Die Dunkelheit hatte eine Decke über sie gelegt, und jetzt krochen sie darunter hervor.

»Keine schnelle Bewegung«, sagte Tarlow langsam und ruhig.

»Sollen wir nach den anderen rufen?«, fragte Jack.

Ich wisperte: »Nein, auf keinen Fall laut werden!«

Doch was sollten wir sonst tun? Wir waren unbewaffnet, völlig hilflos. Zwei weitere schwarz bepelzte Wölfe erschienen aus der Dunkelheit, zu erkennen nur an den gelbrot leuchtenden Augen. Sie kreisten uns langsam ein. Jack tat so, als würde er etwas auf sie werfen. Das vordere Tier schreckte zurück, dafür kamen die anderen heran. Langsam gingen wir Schritt für Schritt rückwärts, aber bis zum Dorf war es noch ein weiter Weg, und die Biester folgten uns. Der vordere Wolf kam immer näher. Er öffnete sein Maul, knurrte und zeigte seine scharfen Zähne. Er legte er sein Gewicht auf die hinteren Pfoten und senkte sein Hinterteil etwas ab. Wir hoben abwehrend unsere Arme und erwarteten seinen Sprung, als wir hinter uns plötzlich ein metallisch schabendes Geräusch hörten. Auch der Wolf hörte es und zuckte zurück – jemand hatte ein Schwert gezogen. Ich nutzte den Moment, um einen Blick hinter mich zu werfen, und sah Sir Caster mit dem blanken Stahl in der Hand.

»Wir gehen jetzt alle vier los«, sagte er leise. »Wir gehen rückwärts, wir gehen langsam, und wir drehen uns nicht um.«

Er schaute jedem von uns ins Gesicht und wartete, bis wir alle nickten. Dann liefen wir los. Die Wölfe folgten uns, hielten jetzt aber einen größeren Abstand. Ab und zu schnellte ein einzelner Wolf nach vorne, um unsere Verteidigung zu testen. Sir Caster hielt sein Schwert bereit. Immer aufs Neue steckte er es in die Scheide und holte es wieder heraus. Das schabende Geräusch schreckte sie ab, doch sie blieben dicht vor uns und lauerten auf einen Fehler. Der Rückweg ins Dorf war langsam und mühselig. Noch nie in meinem Leben war die Zeit so zäh vorangeschritten. Meine Knie waren weich, und ich zitterte. Jeder Schritt fühlte sich merkwürdig an, als würde ich in einem Flussbett laufen. Ich musste mich aufs Laufen konzentrieren. Einen Schritt hinter den anderen und bloß nicht stolpern!

Es kam mir vor wie eine ganze Tageswanderung, als wir endlich den Waldrand erreichten, und die Wölfe abzogen. Jetzt erst merkte ich, wie heiß mir war und wie sehr ich trotz der Kälte am ganzen Körper schwitzte.

»Verdammte Wölfe!«, schimpfte Tarlow, ebenfalls schwer atmend. »Kreaturen aus dem Reich der Finsternis sind das!«

»Bei einem Angriff hätte ich die Lampe geworfen«, sagte Jack. »Ich schwöre es!«

»Keinen Respekt mehr vor den Menschen!«

»Ihr seid in Sicherheit«, sagte Sir Caster, »beruhigt Euch!«

Ich starrte den Ritter an und schnaufte. »Äh …«, stammelte ich. »Danke!«

Er lächelte. »Kein Dank nötig.«

»Sind die anderen auch angegriffen worden?«

Er nickte knapp. »Unsere Gruppe auch, aber wozu hat ein Ritter sein Schwert?«

»Ich besitze mein altes Schwert auch noch«, sagte Tarlow, »allerdings liegt es im Haus, tief verstaut in einer Truhe. Ich fürchte, ich muss es wieder herausholen und tragen.«

»Ohne meine Waffe würde ich mich nackt fühlen«, sagte Sir Caster und tätschelte liebevoll den Knauf.

»Sind noch welche von uns draußen im Wald?«, fragte ich.

»Ihr wart die letzte Gruppe, die noch unterwegs war. Daher bin ich Euch holen gegangen.«

»Habt Ihr Tomas gefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht mal eine Spur.«

»Dann suchen wir morgen weiter. Gleich bei Sonnenaufgang.«

Der Schatten in mir

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