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Kapitel 7 (Kolen)
ОглавлениеEin modriger Geruch schlug mir entgegen, als ich den Keller betrat. Ich liebte diesen Geruch. Außerdem mochte ich die kühle Luft, die diesen Raum erfüllte. Zusammen verliehen sie dem Keller etwas Einzigartiges. Es war der einzige Raum im Dorf, der unterhalb der Erde lag.
Ich blickte in die Regale und sah die großen Lücken, wo eigentlich alles voller Vorräte sein sollte. Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch waren noch in großer Menge vorhanden. Auch Karotten, Mehl und Hafer würden noch bis tief in den Winter hineinreichen. Aber andere Dinge waren jetzt schon knapp, und der Winter stand erst noch bevor.
»Wonach suchst du?«, fragte Myla, als sie die Stufen hinunterstieg.
Ich seufzte. »Ich gehe unsere Vorräte durch. Schau, was uns alles fehlt!«
Myla blickte sich um, sah in einige Töpfe und Beutel hinein und nahm von manchem Proben mit den Händen. »Unsere Gewürze sind knapp«, sagte sie.
Ich nickte. »Pfeffer, Ingwer und Zimt gehen uns aus. Greta hat noch einiges bei sich gelagert, aber nicht mehr viel.«
Als ich die Büchse mit dem Zimt öffnete, stieg mir sein exotischer Duft in die Nase, und ich konnte seinen Geschmack auf der Zunge spüren. Ein Genuss für den Gaumen, aber leider teuer und nur schwer zu erhalten. Wir nannten es ›das braune Gold‹ und bezogen es aus dem fernen Süden. Händler brachten es in unseren Wald und sogar weiter bis in den tiefsten Nordwesten des Königreichs.
»Und Salz fehlt«, fügte Myla hinzu.
»Das ist in der Tat ein viel größeres Problem. Es fehlt an Salz und Öl, und unsere Beute an Fleisch wird für den Winter nicht ausreichen.«
»Hat Carl keine Vorräte gelagert?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht viele. Ihm läuft kaum noch ein Tier vor den Bogen, sagt er. Die Wölfe fressen den Wald leer.«
»Aber Gatlin hat so viele Schweine und Kühe in seinem Stall, wir haben uns bislang immer selbst versorgen können.«
»So viele sind es nicht, und wenn wir sie schlachten, was bleibt uns dann im kommenden Jahr? Wir müssen auf andere Vorräte zurückgreifen: Linsen, Trockenobst, Trockenfisch.« Ich fasste mein Gewand an und zeigte ihr eine Stelle mit zwei kleinen Löchern. »Auch Kleidung wird rar, unsere Gewänder zerfallen langsam zu Lumpen.«
Myla schaute mir in den Augen. »Wir müssen wieder zum Marktplatz fahren.«
»Das müssen wir schon seit Wochen. Aber ohne Oleks Pferde erreichen wir Trummhügel nicht an einem Tag. Sein Weggang war ein mehr als schmerzhafter Verlust für das Dorf.«
»Wir können auch ohne Pferde aufbrechen«, sagte Myla, »Wir ziehen die Karren selbst. Es wäre ein anstrengender Marsch von zwei oder drei Tagen, aber wir können es schaffen. Es müssen nur genügend Bewohner mitkommen.«
»Die Idee hatte ich auch schon. Wir würden im Wald übernachten, ein Lagerfeuer machen, Wein trinken und uns Geschichten erzählen. Es könnte sogar aufregend werden, aber …«
»Aber bei Nacht herrschen die Wölfe«, sprach Myla meinen Satz zu Ende.
Ich nickte. »Wir müssten Trummhügel innerhalb eines Tages erreichen, aber ohne Pferde ist das nicht möglich.«
»Sir Caster hat ein Pferd; er sollte es zur Verfügung stellen.«
»Das macht er nicht, ich habe ihn schon gefragt.«
»Haben wir eine Wahl?«
Ich zuckte mit den Schultern. Danach schwiegen wir eine Weile lang. Ich sah in ihr Gesicht, sie schaute zurück und lächelte. Sie war immer noch wunderschön. Ihr schwarzes, glattes Haar hing fast bis zu den Schenkeln herunter. Niemand im Dorf hatte so lange Haare wie sie, und vermutlich hatte keine Frau in diesem Königreich solch leuchtend blaue Augen.
»Ich werde mit ihm reden müssen«, sagte ich und holte tief Luft. »Schon wieder.«
Myla spürte meine Zweifel. »Du wirst ihn überzeugen können, da bin ich mir sicher. Wenn einer es kann, dann du.«
»Ich bin mir dessen nicht so gewiss. Sir Caster ist sturer als jede Katze.«
Myla trat einen Schritt an mich heran und fuhr mit der Hand über meinen Bart. »Du schaffst das!«
Ich lächelte verlegen. »Ich sollte mich rasieren.«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich liebe deinen Bart, das weißt du doch. Er ist weich wie Seide.«
Später blickte ich aus dem Fenster unseres Hauses auf die Statue meines Vorfahren. Es war nicht nur der Fleiß, der dem ersten Kolen geholfen hatte, das Dorf zu führen, es war auch sein Geschick, mit Menschen umzugehen. Das hatte er seinen Nachkommen vererbt. Jeder in meinem Stammbaum war sich dieses mächtigen Werkzeugs bewusst. Mein Vater hatte mir alle Regeln im Umgang mit Menschen beigebracht, und mein Großvater hatte sie mir noch gepredigt, als er bereits todkrank im Bett lag.
Wollte ich Sir Caster überzeugen, musste ich diese Regeln befolgen. Niemals würde er handeln, bloß weil ich es von ihm verlangte – er musste es selbst wollen. Drum hofier ihn mit List, auf dass er deinen Willen als seinen eigenen glaube.
Zwar fühlte ich mich nicht bereit, aber ich trat den Weg zu Sir Casters Haus an. Die Zukunft des Dorfes könnte von diesem Gespräch abhängen, ich konnte mich davor nicht verstecken. Schwarzbach ist unser Zuhause. Schwarzbach muss leben.
Ich klopfte an der Tür.
»Ich bin hier hinten«, rief Sir Caster. Er stand hinter dem Haus und striegelte sein Pferd. Als ich näherkam, machte das mächtige Tier einen Schritt in meine Richtung, und ich schreckte zurück.
Sir Caster lachte. »Ängstigt er Euch immer noch?«
»Es ist nicht Angst«, sagte ich und zwang mich, ebenfalls zu lachen. »Er ist nur sehr groß – das größte Pferd, das ich je gesehen habe. Er ist sogar größer als Ronja. Man muss aufpassen, wo er hintritt.«
»Königsblut ist eben ein Hengst der besonderen Art. Er verdankt seine stolze Ahnenreihe den besten Zuchtmeistern des Königreichs.«
»Er ist wahrhaftig ein prächtiges Tier! Ihr seid sicher stolz auf ihn.«
»Das bin ich«, bestätigte er und lächelte.
Er war bester Stimmung, doch ein gutes Zeichen war das noch lange nicht, schließlich war er fast immer gut gelaunt.
»Sir Caster, wir sind Euch für eure Dienste bisher überaus dankbar«, sagte ich und versuchte, so freundlich wie möglich zu klingen. Reiche ihm erst süßen Honig, bevor er die bittere Medizin schmecken soll!
Er lachte. »Welche Dienste? Bisher musste ich mein Schwert kein einziges Mal schwingen.«
»Gesetzlose morden und plündern im gesamten Königreich. Auch Schwarzbach ist vor ihnen nicht sicher.«
»Euer Dorf liegt so abgelegen, kaum ein Schurke verirrt sich jemals hierher, geschweige denn wirklich gefährliche Männer.«
»Allein Eure Anwesenheit beruhigt uns. Wir können alle ruhiger schlafen, seit ein solch geschickter Schwertkämpfer wie Ihr unter uns weilt.«
Meine Worte schienen ihn nicht zu beeindrucken. Kein Wort des Dankes, kein Zeichen von Verlegenheit, kein Zeichen von Demut.
»Ohne eure Kampfkünste wären wir hilflos«, fuhr ich fort.
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Ich beschütze Euch, dafür darf ich in Eurem Dorf wohnen. Das ist unser Pakt.«
»Ein Pakt, von dem beide Seiten profitieren. In Schwarzbach seid Ihr Euer Leben lang sicher und gern gelitten.«
Wieder lachte er. »Nach der Eroberung des Throns hat König Zalamo ein felsenschweres Kopfgeld auf mich ausgesetzt – so wie auf alle, die den Paytons bis zum Ende gedient haben. Glaubt mir, in diesem Leben werde ich nie wieder sicher sein. Seine Männer werden nicht aufhören, nach mir zu suchen.«
»Selbst wenn Truppen des Königs hier aufkreuzen und nach Euch fragen sollten – niemand wird Euch verraten, das verspreche ich Euch! Wir brauchen Euch!«
Er lächelte und schaute mich an, als spräche er mit einem kleinen, naiven Kind. »Das ändert sich, wenn die Soldaten mit ihren Goldmünzen klimpern. Eine Zunge lockert sich schnell, wenn die Münzen schwer sind und glitzern.«
Das Gespräch lief in die falsche Richtung. Ich hatte ihn an unseren Pakt erinnert, das sollte ihn ehren, ihm schmeicheln, ihn mit Stolz erfüllen. Es sollte ihn an sein Glück erinnern und gleichzeitig an seine Vernunft appellieren. Doch für ihn stand der Pakt nur für leise Worte im Wind. Er war überzeugt, die Dorfbewohner würden ihn beim Anblick von Goldmünzen brechen wie eine Bande heimtückischer Halunken. Er irrte sich. Wir waren rechtschaffene Menschen, kein Dorfbewohner würde einen anderen dem Schwert ausliefern.
Sir Caster stellte sich neben sein Pferd und ließ sich die Hufen geben. Langsam und sorgfältig kratzte er den Dreck heraus. Ich beobachtete ihn eine Weile, während ich über meine nächsten Worte nachdachte.
»Die Ernte war dieses Jahr besonders schlecht«, sagte ich. »Unsere Vorräte sind begrenzt, wir werden den Winter nicht überstehen.«
»Zur Not müssen wir rationieren«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Der Mensch braucht weniger zu essen, als man denkt.«
»Es sind nicht nur die Nahrungsvorräte. Kleidung, Werkzeug, Stoffe – dem Dorf mangelt es an lebenswichtigen Dingen.«
»Lebenswichtig bedeutet für mich etwas anderes. Ein Mann braucht Brot, Holz und ein Schwert. Nahrung mag knapp sein, aber wir besitzen mehr Holz als eine Hafenstadt Fische.« Er schaute zu mir auf und lächelte. »Und in meiner Truhe liegt das schärfste Schwert des Königreichs.«
»Ihr seid ein bescheidener Mann, Sir Caster.«
»Ich bin ein einfacher Mensch, so wie Ihr alle.«
Ich fühlte mich wie in der Geschichte des Endlosen Waldes. Ganz gleich, welchen Pfad ich einschlug – ein Baum glich dem anderen, und stets landete ich wieder am Anfang des Weges. Aber verzweifelt war ich noch nicht, denn einen Pfeil hatte ich noch im Köcher.
»Jedenfalls brechen wir demnächst wieder nach Trummhügel auf«, sagte ich in gleichgültigem Ton.
»Auf den Markt?«, fragte er und sah auf.
Ich nickte, endlich hatte ich sein Interesse gepackt. »Der Marktplatz zu Trummhügel ist ein großes Spektakel.«
»Trummhügel ist keine große Stadt.«
»Wenn Markt ist, wächst die Stadt um das Dreifache an. Alle Bewohner des Waldes treffen sich dort, dazu Händler aus jeder Ecke des Königreichs.«
Nicht nur Honig schmeckt süß, auch Haferbrei kann den Gaumen verzaubern, mischt man ihm das richtige Gewürz unter.
Er lächelte. »Und ich dachte, der Wald wird von den Menschen gemieden.«
Schnell schüttelte ich den Kopf. »Bewahre, die Leute kommen, um mit den kostbarsten Gütern zu handeln. Fein duftender Safran aus dem Süden und saftiger Lachs aus dem Norden. Seide aus der Roten Wüste und Weißfuchspelze von der Eisküste. Edelsteine in allen Farben und Amulette gegen Geister und Dämonen. Jeder Gaumen, jedes Herz und jede Seele kann sich dort ihre Träume erfüllen.«
Sir Caster sah mich mit gehobenen Augenbrauen an.
»Und abends feiern wir Feste bei Starkbier und Honigwein. Wir spielen Infernale mit seltenen Feuersteinen, die Farben ins Feuer zaubern, wie Ihr sie noch nie gesehen habt. Wir tragen Wettbewerbe aus, Baumstammwerfen, Pflugeisenschleudern, Bogenschießen und Schwertkampf. Reisende lassen sich nieder, spielen Musik und erzählen Geschichten. Es sind Abende, die einem für immer in Erinnerung bleiben.«
Zwar hatte ich etwas übertrieben, aber gelogen hatte ich nicht – der Marktplatz war eine wunderbare Abwechslung zum Alltag im Dorf.
Ich wartete auf eine Reaktion.
»Es ist jedes Mal ein Vergnügen«, fügte ich hinzu.
Wieder wartete ich auf eine Erwiderung, diesmal eine ganze Weile lang, bevor ich hinzufügte: »Wir haben immer großen Spaß, wenn wir dort sind.«
Wieder sprang er nicht darauf an, wieder wartete ich – bis er schließlich den Kopf schüttelte und seufzte. »Kolen, ich werde nicht mit Euch zum Markt gehen. Solange es sich vermeiden lässt, werde ich keinen Fuß aus diesem Dorf setzen.«
Ich starrte ihn offenen Mundes an. Ich hatte mich darauf eingestellt, ihn überreden und mich auf ein langes Wortgefecht einlassen zu müssen, aber eine derart entschlossene Ablehnung hatte ich nicht erwartet.
Er sah mir die Enttäuschung an. »Dort sind zu viele Menschen«, erklärte er. »Wenn nur einer von ihnen mich erkennt, wird König Zalamo sein halbes Heer nach mir suchen lassen.« Er machte eine kurze Pause. »Notfalls würde er den ganzen Wald abfackeln lassen. Menschen, die in Burgen leben, haben wenig Skrupel – das könnt Ihr mir glauben.«
»Aber …«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Aber?«
Ich holte tief Luft. »Aber wir brauchen Euer Pferd. Es ist das einzige, das dieses Dorf noch besitzt. Nur mit ihm können wir Trummhügel innerhalb eines Tages erreichen. Nur mit ihm können wir genügend Waren transportieren.«
Er schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich.«
Ich legte mehr Kraft in meine Stimme. »Das Dorf ist auf den Handel angewiesen!«
Nun schaute er mir tief in die Augen. »Wenn ich erkannt werde, bin nicht nur ich erledigt, Kolen. Auch Euer Dorf wird sich dann vor König Zalamo verantworten müssen. Ihr habt mich bei Euch versteckt.«
»Ihr müsst nicht auf der Straße tanzen und Lieder singen. Ihr haltet Euch versteckt, niemand wird Euch ins Gesicht schauen können.«
Zum ersten Mal während unseres Gesprächs schaute er mich böse an, doch ich hörte nicht auf zu sprechen. »Wir werden den Winter sonst nicht überstehen! Wir werden verhungern!«
In dem Moment warf er den Hufauskratzer auf den Boden und brüllte mich an: »Ihr seid lästiger als eine Mücke! Ab jetzt behaltet Eure Worte für Euch, oder ich werde sie Euch eigenhändig zurück in den Rachen pressen!«
Ich erstarrte, denn ich hatte einen bedeutenden Fehler begangen. Ein Mann öffnet seine Ohren nur, wenn es um seine Vorteile geht. Nachteile will er nicht hören, Drohungen schon gar nicht. Trotz wird dir entgegenschlagen, denn Trotz ist stärker als Vernunft.
»Ich verstehe Eure Bedenken, Ihr würdet Euch in große Gefahr begeben«, sagte ich leise. »Aber Ihr könnt uns trotzdem helfen, wenn Ihr uns Euer Pferd leiht. Nur ein einziges Mal. Wir würden alles kaufen, was uns durch den Winter bringt, und dann sofort wieder zurückreiten.«
Jetzt lächelte er wieder. »Niemals würde ich Königsblut anderen Händen anvertrauen. Er ist das Kostbarste, das ich besitze.«
»Ich dachte, Euer Schwert sei das Kostbarste.«
Er lachte. »Gut gespielt, Kolen, aber das ist nicht zu vergleichen. Ein Mann und sein Pferd haben eine ganz besondere Beziehung zueinander. Ich fühle wie Königsblut, und Königsblut fühlt wie ich. Wir teilen eine gemeinsame Seele, und wenn ich auf ihm durch die Gefilde reite, sind wir eins. Wenn Ihr niemals ein Pferd besessen habt, könnt Ihr das nicht verstehen.«
Er hatte recht, ich verstand es nicht, aber ich sprach es nicht aus. Ich sagte gar nichts mehr – die Hoffnung hatte mich endgültig verlassen. Sir Caster würde bei seiner Meinung bleiben, ganz gleich, wie sehr der Sturm wüten mochte.
Ich drehte mich um und ging zurück zu meinem Haus. Mein Blick blieb auf den Boden gerichtet, ich beobachtete das Gras, wie es von meinen Schuhen platt getreten wurde. Aufschauen wollte und konnte ich nicht. Ich hatte versagt.
Heftige Windstöße begleiteten mich auf meinem Weg. Sie wehten das Laub gegen das Wirtshaus, und das Türschild klapperte wie die Zähne eines Frierenden. Das Geräusch störte mich nicht, es gehörte zum Wirtshaus wie der Sattel aufs Pferd.
Noch während ich den Schlüssel drehte, kam Jack herbeigelaufen – wie ein Hund, der einem den ganzen Tag hinterherläuft.
»Entweder kannst du riechen, wenn ich das Wirtshaus öffne, oder du hast verdammt gute Ohren«, sagte ich.
»Weder noch«, sagte er, »bloß eine trockene Kehle, har!«
Jack machte den ganzen Abend über seine Späße, und es war ihm gleich, ob wir darüber lachten oder nicht. Jorden war mal wieder in seiner eigenen Welt, und auch ich behielt meine Gedanken heute für mich. Von meinen Sorgen rund um das Dorf mussten meine Gäste nichts wissen. Sie waren bereits verunsichert wegen des Mädchens, das hier aufgetaucht war, und Ronja schürte diese Ängste mit ihrem unnötigen Gerede von dunklen Mächten und Waffengewalt.
Um zurück zu ihrer guten Laune zu finden, brauchten die Dorfbewohner ihren Alltag – er war die beste Medizin gegen Angst und Kummer. Und wie konnten sie diesen Alltag besser auskosten als bei einem Bier im ›Gerupften Huhn‹?
»Sein Schwert war doppelt so lang wie meins und sein Schild aus massivem Holz mit feinstem Stahlbeschlag«, erzählte Tarlow. Die Geschichte hatte er bereits hundertmal erzählt, jedes Mal mit anderen Feinheiten ausgeschmückt. »Seine Augen waren die ganze Zeit auf mich gerichtet.«
»Damals hattest du sicher noch ein hübsches Gesicht, har!«, warf Jack ein.
»Das war nicht der Grund«, sagte Tarlow, als hätte Jack seine Worte ernst gemeint. »Er hat gesehen, wie unaufhaltsam ich durch ihre Reihen gewütet bin. Ich muss ihn an Toralf den Büffelmenschen erinnert haben.«
»An wen?« Das war neu.
Tarlow schaute uns nacheinander entsetzt an. »Ihr kennt nicht den Büffelmenschen? Toralf Kalaston, ehemaliger Lord des Nordens?«
Jack und ich tauschten Blicke aus und zuckten mit den Achseln.
Tarlow hob den Zeigefinger und schwang ihn durch die Luft. »Halb Mensch, halb Büffel. Man sagt, er sei so stark gewesen, er habe mit bloßen Händen gegen Bären gekämpft und Wagen gezogen wie zwei ausgewachsene Ochsen. Und sein Schwert sei so lang gewesen, dass er drei Männer zweiteilen konnte, als die noch fünf Schritte von ihm entfernt standen.«
»Wieso sollst du dann gekämpft haben wie er?«, fragte Jack. »Dein Schwert ist kaum länger als dein Unterarm, har!«
»Darauf kam es nicht an, du Narr! Ich war der gefährlichste Mann in unserer Vorhut. Er hat das gesehen und suchte das Duell mit mir.«
Tarlow machte eine kurze Pause. Er wollte, dass wir ihm Fragen stellten, doch als er einsah, dass wir ihm den Gefallen nicht taten, sprach er weiter: »Der Kampf war nach drei Hieben beendet. Drei Hiebe, mehr habe ich nicht gebraucht.« Er trank einen großen Schluck Bier und donnerte seinen Krug auf den Tisch. »Bei Othos, war ich damals stark! In vier Schlachten habe ich gekämpft.«
»Und dabei zwei Dutzend Männer getötet«, soufflierte Jack.
»So ist es, aber das ist nicht der wahre Triumph. Ich habe all die Schlachten überlebt, ohne eine Verletzung zu erleiden. Und dafür habe ich keine dämliche Rüstung tragen müssen wie die Ritter, die sich hinter uns versteckt haben.«
»Du wolltest selbst ein Ritter mit dämlicher Rüstung werden«, sagte Jack.
»Jeder Junge will das. Und ich hätte einer werden können, aber die Heimat hat nach mir gerufen.«
Den Rest der Geschichte brauchte er nicht zu erzählen. Seine Eltern waren gestorben, und er war zurück nach Schwarzbach gekommen, um sie zu begraben. Danach zog es ihn nie wieder hinaus ins ferne Königreich.
»Kolosan will auch ein Ritter mit dämlicher Rüstung werden«, sagte ich. »Schon nächstes Jahr will er als Knappe anheuern.«
»Du siehst nicht glücklich darüber aus«, sagte Jack.
Ich schüttelte den Kopf. »Myla auch nicht, aber ich habe es Kolosan versprochen.«
»Je früher er die Kunst des Rittertums lernt, desto besser«, sagte Tarlow. »Glaub mir, er wird viel schneller einen hohen Rang erreichen, als ich jemals die Möglichkeit dazu hatte. Hab mich damals viel zu spät bei Lord Hyde gemeldet. Sie haben mir ein altes Schwert in die Hand gedrückt und mich zusammen mit den Bauern in die Vorhut gesteckt. Ohne Rüstung, ohne Schild, nicht mal ein Kettenhemd war ich ihnen wert. Das war für die feinen Ritter vorgesehen und nicht für lausiges Fußvolk wie mich.«
Ich nickte.
»Hat mich trotzdem nicht unter die Erde befördert«, fuhr Tarlow fort. »Schau mich an, ich sitze immer noch hier, lebendig und mit starkem Geist.«
»Allerdings schon fast vierzig Jahre alt und statt Schwert einen Bierkrug in der Hand, har!«, rief Jack in einem unangenehm lauten Ton.
»Diesen Bierkrug habe ich mir redlich verdient«, sagte Tarlow. »Nach all den Diensten, die ich geleistet habe, muss es mir erlaubt sein, faul im Wirtshaus zu hocken und Bier zu schwenken.«
Ich schaute zu Jorden. »Was sagst du dazu?«, fragte ich ihn.
Ich wollte ihn in das Gespräch miteinbeziehen, aber er zuckte bloß mit den Schultern. Das war nicht ungewöhnlich für ihn, so kannten wir ihn, und so mochten wir ihn. Doch heute war etwas anders: wachsame Augen, angestrengter Blick. Er dachte nicht nur nach, er dachte intensiv nach. War in seinen Gedanken nicht auf Reisen, sondern blieb auf der Stelle. Er schien nur an eine Sache zu denken, und diese Sache schien ihn nicht loszulassen.
»Was ist los, Jorden?«, fragte ich ihn.
Kurz schaute er hoch, doch er wandte den Blick sofort wieder von mir. »Nichts«, sagte er leise.
»Du machst dir Sorgen, das sehe ich dir an.«
Er starrte in seinen Krug. »Es ist wegen Salya«, sagte er. »Wir haben uns gestritten.«
»Schon wieder?«, fragte ich. Darauf antwortete er nicht. Es war eine dumme Frage, musste ich zugeben. »Worüber habt ihr euch gestritten?«
»Ich habe etwas über ihre Mutter gesagt. Das hat sie wütend gemacht.«
»Was hast du gesagt?«
»Nicht so wichtig.«
»Ich möchte ehrlich zu dir sein, schließlich hast du eine ehrliche Antwort verdient. Du bist groß, gut aussehend und hast eine reine Seele. Du findest sicher ein anderes hübsches Mädchen.«
»Ein hübsches Mädchen mit breiten Hüften, har!«, sagte Jack.
Jorden presste die Augenbrauen zusammen. »Ich will aber kein anderes Mädchen!«
»Salya ist ein nettes Mädchen, und man kann sicher viel Spaß mit ihr haben«, meinte ich. »Aber sie hat ein feuriges Gemüt. Sie ist schnell zornig, und ich sehe euch andauernd streiten.«
Jorden starrte weiterhin in seinen Krug, als wollte er das Bier mit seinem Blick zum Kochen bringen.
»Kein Mensch möchte sein Leben lang im Streit leben«, fuhr ich fort. »Das wirft einen großen Schatten auf die Seele.«
Wieder sagte er nichts, und auch mein Mund blieb ab jetzt geschlossen. Ich hielt Salya für einen sonderbaren Menschen. Wenn es Probleme gab, rannte sie schneller davon als ein Fuchs. Einmal hatte ich sie sogar dabei beobachtet, wie sie sich selbst eine Wunde in den Arm geschnitten hatte. Wer wusste schon, welch abnormales Ritual sie damit verfolgte. Vielleicht war sie besessen, vielleicht aber auch einfach nur verrückt.