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Kapitel 2 (Salya)
ОглавлениеWas war das für ein Kreis? Er schwebte über meinem Bett und erleuchtete den Raum, stärker als jede Lampe. Welch prächtiger Anblick! Er strahlte mir ins Gesicht, und in den Wangen verspürte ich ein angenehmes Kribbeln.
Doch dann kam jemand zur Tür herein, und der Kreis flog langsam durch das Fenster hinfort. Wo wollte er hin? Mit dem Kreis verschwand auch das Licht. Jetzt war es dunkel im Zimmer, und ich erkannte nur die Umrisse der Person, die mein Zimmer betreten hatte. Ein wandelnder Schatten, er kam näher und trat an mein Bett heran.
Vater? Was machst du hier?
Der Schatten beugte sich über mich.
Es ist mitten in der Nacht, Vater!
Der Geruch von Bier stieg in meine Nase. Ein abscheulicher Geruch! Ich wollte hinaus, wollte dem schönen Kreis folgen und nicht hier im kalten, finsteren Zimmer bleiben, doch ich konnte mich nicht rühren. Der Schatten stand wortlos vor mir, bis er plötzlich seine Hand hob und mir ins Gesicht schlug. Erst mit der Innenseite, dann mit der Außenseite.
Hör auf damit!
Ich sah zur Seite. Meine Mutter war plötzlich im Zimmer, sie saß auf ihrem Lieblingsstuhl, wippte vor und zurück und blickte mich mit strengem Gesicht an.
Warum guckst du so, Mutter?
Sie antwortete nicht. Der Schatten schlug erneut zu. Es knallte, meine Wange schmerzte, ich versuchte zu schreien, doch meine Stimme erstarb in meiner Kehle. Ich wollte meine Arme heben und das Gesicht schützen, wollte meine Knie anziehen, wollte mich den Schlägen entwinden, aber mein Körper gehorchte mir nicht.
Mutter, warum hilfst du mir nicht?
Alles versagte, meine Stimme, meine Arme, meine Beine. So sehr ich es versuchte, ich brachte nicht mehr als ein schwaches Pusten hervor. Der Schatten schlug weiter zu, die Hände schmetterten gegen meine Wangen, und ich sank wehrlos vor ihm in die Tiefe, ohne Hoffnung auf Hilfe oder Erbarmen.
Ich erwachte mit einem lauten Schrei. Verwirrt schaute ich mich um. Ich war in meinem Bett, niemand sonst war in meinem Zimmer. Stirn und Rücken waren nass vor Schweiß, und mein Herz donnerte, als tobte ein Sturm in mir. Es war der übliche Traum.
Draußen war es bereits hell. Ich stand auf, zog mich an und ging aus dem Haus. Mein Blick schweifte über das Dorf. Keine aufgebrachten Menschen, keine hektischen Bewegungen. Erlebten wir heute endlich wieder einen normalen Tag? Ich wagte kaum, in Richtung des Waldes zu gehen. Sie könnte immer noch dort sein, könnte gar auf mich lauern. Wer wusste schon, wozu sie imstande war? Langsam und tief atmete ich ein und wieder aus, dann ermahnte ich mich, kein feiges Kind zu sein, und ging los. Vor dem Waldrand hielt ich an und blickte mich abermals in alle Richtungen um. Nichts Verdächtiges zu sehen. Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ging in den Wald. Kaum den ersten Baum passiert, beschleunigte ich meinen Schritt, bis ich beinahe rannte.
Am Schwarzbach fand ich meine Mutter. Zusammen mit anderen Frauen wusch sie Gewänder. Ich versteckte mich hinter einem Baum, denn ich wollte ganz sicher nicht zu ihr. Sie würde mich anmeckern und mich vor den anderen demütigen – wie immer eben. Lieber würde ich durch den Wald spazieren, Lieder summen und Tiere beobachten. Aber ich konnte mich nicht schon wieder drücken. Wie eine Maus kroch ich hinter dem Baum hervor und ging langsam auf meine Mutter zu. »Guten Morgen, Mutter!«, sagte ich.
Sie schaute nur kurz auf, danach konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit. »Morgen nennst du das?«
»Wie kann ich helfen?«
»Gar nicht, wir sind fast fertig«, sagte sie, ihre Stimme so bissig wie ein Hund.
Ich verschränkte die Arme. »Du hättest mich wecken können!«
»Richte dich nach der Sonne, dann verschläfst du nicht jeden Tag.«
»Ich kann nichts dafür, dass ich so lange schlafe!«
Eadlyn, eine der anderen Frauen, schüttelte ihren Kopf und seufzte. Diese dumme Gans dachte wohl, ich sehe das nicht!
»In deiner Welt sind immer andere schuld«, sagte meine Mutter. Wenigstens schaute sie jetzt zu mir auf.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie gerne hätte ich ihr meine Meinung ins Gesicht geschrien, aber ich behielt sie lieber für mich. Ich wollte nicht schon wieder streiten. »Sag mir einfach, was ich tun soll!«
Sie rollte mit den Augen. »Kannst du nicht für dich selbst denken?«
»Aber ich …«
»Soll ich dir auch deinen Brei in den Mund stopfen wie einem Kleinkind?«
»Dann hättest wenigstens du deinen Spaß!«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du freche Göre! Dein Vater hätte dich viel öfter schlagen sollen, dann hättest du vielleicht ein wenig Respekt gelernt!«
Ich spürte Tränen in den Augen, doch ich hielt sie zurück. Diesen Gefallen würde ich meiner Mutter nicht tun. »Sag mir doch einfach, was ich tun soll!«
»Geh zu Greta und ernte Kartoffeln!«, sagte sie und zeigte mit der Hand in Richtung von Gretas Haus. »Und bereite das Abendessen zu! Hauptsache, ich muss dich hier nicht mehr sehen.«
Innerlich dankte ich ihr. Beim Gedanken daran, mit meiner Mutter und den anderen Frauen zu arbeiten, schmerzte jeder Teil meines Kopfes. Lieber putzte ich Nachttöpfe! Während der Kartoffelernte jedoch würde ich allein sein – keine Befehle, kein Meckern, keine Beleidigungen.
Greta kniete auf dem Boden in ihrem Duftgarten und jätete Unkraut. Selten sah ich sie an einem anderen Ort; ihr Duftgarten war ihr Leben. Tagein, tagaus war sie über ihre geliebten Pflanzen gebeugt, mit einem Buckel, der jeden Tag krummer zu werden schien.
»Meine Mutter schickt mich«, sagte ich zu ihr. »Ich soll Kartoffeln ernten.«
Wie immer blieb Gretas Blick auf dem Boden haften. »Unkraut sprießt wie Tomalusʼ Bart«, murmelte sie. »Wie die Pest bringt es nichts als Tod und Verderben. Eine Sichel für das Unheil!«
Sprach sie mit mir, sprach sie mit sich selbst? Und vor allem: Was sollte ich dazu sagen?
»Eine meuchelnde Plage«, fuhr sie fort, und plötzlich wurde sie laut: »Es überwuchert meine Kräuterlein!«
»Ich sehe es«, sagte ich in der Hoffnung, sie würde sich mit dieser Aussage zufriedengeben.
Doch sie sprach unbekümmert weiter in Richtung ihrer Pflanzen. Hatte sie überhaupt eine Antwort erwartet? Als sie kurz den Mund schloss, nutzte ich die Gelegenheit und huschte rüber zu den Kartoffeln.
Während der Kartoffelernte kam Kolen vorbei und unterhielt sich mit Greta – zumindest versuchte er es. Er erzählte von einem Söldner, der vergangene Nacht in unser Dorf gekommen war und in seinem Wirtshaus übernachtet hatte. Der Mann war allerdings harmlos. Sie hatten ihm von den schrecklichen Ereignissen in unserem Dorf berichtet, und er hatte schon am frühen Morgen den Beutel gepackt. Schade, denn ich fand Fremde immer sehr interessant, aber wenn er schon wieder weg war, konnte er uns keine Geschichten von der weiten Welt erzählen, die mich die langweilige und anstrengende Arbeit vorübergehend vergessen lassen konnten.
Als mein Rücken anfing zu schmerzen, gönnte ich mir eine Pause. Ich verließ den Duftgarten und ging zu meinem Lieblingsplatz, einem Baumstumpf am Waldrand in der Nähe unseres Hauses. Er war umringt von einigen dicken Bäumen, die stolz in die Höhe ragten und die Sicht auf den Stumpf verdeckten. Nur wenn man wusste, dass ich hier saß, konnte man mich erkennen. Ich dagegen hatte von hier aus eine gute Aussicht auf große Teile des Dorfes.
Ich schaute und lauschte in den Wald hinein. Als ich mir sicher war, dass sich niemand in meiner Nähe aufhielt, setzte ich mich hin und beobachtete das Treiben im Dorf. Die Dorfbewohner bereiteten das Lagerfeuer und das Spiel Infernale vor. Es war eine Tradition Schwarzbachs, jede Jahreszeit an einem Abend das tolle Spiel mit dem Feuer zu veranstalten. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage hätte ich nicht gedacht, dass das Fest stattfinden würde, aber vermutlich würde es guttun, wenn wir uns ablenkten.
Die kleinen Kinder rannten durch die Gegend, brüllten sich gegenseitig an und rauften sich, wenn ein Zwist nicht anders zu lösen war. Die Erwachsenen verhielten sich weitaus ruhiger. Sie sprachen während des Aufbaus des Holzstoßes kaum miteinander, jeder schien in seiner eigenen Welt versunken zu sein. Carl besorgte das Holz; beim Gehen drehte er sich mehrfach nach allen Seiten um. Der alte Kenzie schleppte die Feuersteine, die sie für das Spiel brauchten, danach verzog er sich in sein Haus. Schließlich waren sie fertig. Die größeren Kinder durften nun versuchen, das Feuer zu entfachen. Später kam Kolen an der großen Feuerstelle vorbei und gab den Kindern Anweisungen. Typisch Kolen – warum ließ er sie das nicht allein versuchen?
Nach anfangs vergeblichen Versuchen schossen die Flammen hoch in den Himmel und tanzten mit dem Wind. Ein Genuss für meine Augen! Ich liebte das Feuer, es war voller Geheimnisse. Ein Kind wollte die Feuersteine testen und warf sie in den Glutherd. Das Feuer knisterte und verfärbte sich, am Boden leuchtete es türkis, nach oben hin ging es allmählich in Lila über. Die bunten Farben zierten den tristen, grauen Himmel wie ein schönes Bild eine hässliche Wand. Wie ich mich auf das Fest am Abend freute! Hoffentlich würde es nur nicht schon wieder regnen.
Je länger ich das Feuer beobachtete, desto tiefer tauchte ich in meine Gedankenwelt ein. Erst als es dunkel wurde, ermahnte mich eine innere Stimme und holte mich brutal zurück in die Wirklichkeit. Ich hatte viel zu lange Pause gemacht! Der Sack war nicht einmal zur Hälfte mit Kartoffeln gefüllt, und ich musste noch kochen. Mutter würde wütend sein!
Ich rannte zurück zu unserem Haus. Die Lampen im Inneren brannten, und ich sah meine Mutter in der Küche arbeiten. Sie war schon nach Hause gekommen. Verdammt sei ich!
Ins Haus gehen konnte ich nicht. Sie würde sehen, wie wenig Kartoffeln ich geerntet hatte, und mich als faul beschimpfen. Welche Wörter würden diesmal fallen? Nutzlos? Schande? Enttäuschung? Und selbst wenn ich gekocht hätte, würde sie das Essen als fad und mich als zu dumm zum Kochen bezeichnen.
Ich ging zurück zu meinem Lieblingsplatz und holte mein Messer aus der Tasche. Es war ein kleines Messer mit einer Klinge fast so lang wie meine Hand. Warum hatte ich es überhaupt mitgenommen? In den Griff war ein Pilz mit Gesicht eingeritzt. Der Pilz lächelte. Er lächelte immerzu. Er schien glücklich zu sein auf dem Griff des Messers.
Ich versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Bloß – wie sollte mir das gelingen? Ich biss mir auf die Lippe. Als ich Blut schmeckte, ließ ich von der Lippe ab und presste die Zähne zusammen. Nichts half. Die Stimme meiner Mutter hämmerte mir gegen den Kopf. Ginge ich zu ihr, würde ich ihr ausgeliefert sein, ohne Versteck, ohne Fluchtmöglichkeit. Ich würde mir wieder anhören müssen, ich sei schuld, dass mein Vater uns verlassen hatte. Ich spürte ein flaues Gefühl in der Brust, und mir wurde unerträglich heiß. Schon bald liefen mir Tränen die Wangen hinunter, ich konnte sie einfach nicht aufhalten.
Wieso weinst du?
Ich sprach zu mir, als wäre ich eine Außenstehende. Wie ein Vogel, der mich beobachtete und über mich urteilte.
Du hast keinen Grund zu weinen. Es ist nichts Schlimmes passiert, und mehr schimpfen als sonst wird Mutter auch nicht.
Mein Geist hatte meinen Körper nicht unter Kontrolle, meine Stimme vermochte mir nichts zu sagen. Ich sah mir dabei zu, wie ich das Messer nahm und die Spitze der Klinge an meinen Unterarm hielt.
Lass es, es wird dir nicht helfen!
Ich drückte zu. Die ersten Blutstropfen kamen zum Vorschein und zeigten sich in einem schönen, dunklen Rot. Ich spürte keinen Schmerz. Ich drückte fester zu und führte die Klinge meinen Arm entlang. Jetzt spürte ich auch sanfte Schmerzen. Die Klinge hinterließ einen Pfad aus Blut, es trat langsam aus der Wunde aus und lief in verschiedenen Bahnen den Arm entlang. Danach tropfte es langsam auf die Wiese. Ein schönes Schauspiel, ich sollte es auf einem Bild festhalten.
Was sagst du dazu, kleiner Pilz?
Er sagte nichts, aber er lächelte immer noch.
Wie glücklich du bist! Ich möchte auch glücklich sein.