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Kapitel 1 (Kolen)
ОглавлениеEine Stille herrschte im Wirtshaus, wie ich sie als Wirt noch nie erlebt hatte. Meine drei Stammgäste saßen am Tisch, jeder starrte in eine andere Richtung, keiner sprach ein Wort. Einem Fremden würde die angespannte Stimmung nicht auffallen. Er würde die Stille bei einem Krug Bier vor dem Feuer genießen, ohne sie zu hinterfragen. Doch mir entging nichts, denn ein guter Wirt kennt seine Gäste. Mir fiel auf, wie Tarlow mit den Fingern auf den Tisch tippte, wie Jack an seinem Bart spielte, wie Jorden bei jedem Jaulen des Windes zuckte und zum Fenster schaute. Tarlow schwelgte heute nicht in Erzählungen von früheren Zeiten, und Jack machte keinen seiner albernen Witze.
Draußen pfiff der Sturm und ließ das Türschild gegen das Haus hämmern. Immer und immer wieder, als wollte der Wind das Holz zermürben. Drinnen knisterte das Feuer, ab und zu stellte jemand seinen Krug ab, rülpste oder hustete. Diese Geräusche waren mir vertraut, ebenso der Geruch von Bier, der mein Wirtshaus wie jeden Abend erfüllte. Das Vertraute beruhigte mich, versicherte mir, das Leben im Dorf ging weiter, wir waren noch hier, alles war wie gewohnt.
Aber ein Wirtshaus ohne die Stimmen seiner Gäste ist wie ein Körper ohne Seele. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Krüge zu spülen und die drei Kumpane zu beobachten. Tarlow, sonst nie um Worte verlegen, hielt heute seinen Mund geschlossen. Jack, dessen Augen sonst vor Übermut zu funkeln schienen, brütete dumpf vor sich hin. Letztlich war der junge Jorden derjenige, der Worte fand – ausgerechnet Jorden.
»Wir müssen uns der Wahrheit stellen!« Er stand auf und gestikulierte wild mit den Händen. »Wir können uns nicht ewig Bier in den Rachen schütten, als wäre nichts geschehen. Ein Narr, wer die Zeichen ignoriert!«
Was fürchtet man mehr: Wenn der geschwätzige Mann schweigt oder wenn der schüchterne Junge redet? Für mich zweifellos Zweiteres, denn selbst die schlimmste Schnattergans hält ab und zu die Klappe. Doch sei wachsam, wenn der Schweigsame spricht, denn für ihn trägt jedes einzelne Wort ein großes Gewicht!
Jorden schaute zu Tarlow, zu mir, zu Jack. Weder begegneten Tarlow und Jack seinem Blick noch antworteten sie. Sie starrten in ihre Krüge.
»Was sollen wir deiner Meinung nach machen?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht, aber in unserem Dorf sind wir nicht mehr sicher.«
»Nirgends sind wir sicherer als in Schwarzbach. Hier haben wir alles, was wir brauchen, und der Wald um uns herum schützt uns vor Feinden.«
Er senkte seinen Blick wieder, dann sagte er leise: »Vor so etwas kann uns niemand schützen.«
Ich sah die Furcht in ihren Augen. Wie gerne hätte ich sie beruhigt, mit ihnen über Frauen, Bier und Krieg gesprochen – wie jeden Abend. Aber auch mir blieben die Worte auf der Zunge liegen. Jeder von uns hatte es mit eigenen Augen gesehen, und wir alle kannten die Geschichten.
»Vielleicht sollten wir die Beutel packen und verschwinden«, fügte Jorden hinzu.
Ich zuckte zusammen. Das war das Letzte, was ich hören wollte. Niemals durfte sich dieser Gedanke in den Köpfen der Dorfbewohner festsetzen.
»Wir können nicht einfach gehen«, sagte ich. »Wo sollen wir wohnen, wo sollen wir arbeiten?«
Jorden schaute mich kurz an, dann wich er meinem Blick aus. Er hatte keine Antwort für mich. Stattdessen setzte er sich wieder hin und klammerte sich an seinen Krug.
»Wir sollten zu den Göttern sprechen und ihren Beistand erbitten«, murmelte Tarlow. Es wurde verdammt noch mal Zeit, dass er seinen Mund öffnete.
»Wofür sollen wir beten?«, fragte Jorden. »Die Götter haben uns noch nie geholfen.«
»Hör auf, über die Götter zu lästern!«, schimpfte Tarlow mit erhobenem Zeigefinger und gerötetem Gesicht. »Zeig gefälligst mehr Respekt!«
Jorden sagte nichts, auch Jack und ich blieben ruhig. Wenn es um die Götter ging, duldete Tarlow keine Widerworte.
»Kaum eine Frau gehabt, schon packt dich der Übermut«, fügte Tarlow brummelnd hinzu.
Doch auch darauf antwortete Jorden nicht. Reglos saß er auf seinem Stuhl und starrte durch alles hindurch ins Leere. In welcher Gedankenwelt er sich wieder verloren hatte, vermochte niemand von uns zu sagen.
Der Abend schritt voran, und das Bierfass leerte sich. Wenn der Wind aufjaulte, noch lauter als zuvor, klapperte das Türschild mit wachsender Kraft. Zwischen den Windstößen jedoch war es so leise, dass ich jeden Einzelnen von uns atmen hören konnte. Ich nutzte die Stille und warf einige Walnussschalen in den Kamin. Das Feuer knisterte und sprühte Funken, die sich über den Boden verteilten. Ich sah ihnen zu, wie sie dort glühten, bis einer nach dem anderen erlosch.
Plötzlich durchbrach etwas die Stille. Von draußen drangen ungewohnte Geräusche ins Wirtshaus. Ein Pferd scharrte und wieherte. Tarlow und Jorden schauten abrupt auf, Jack hatte gerade seinen Krug gehoben und verhielt die Bewegung vor dem Mund. Ich wollte zur Tür rennen und nachsehen, aber ich widerstand dem Drang und blieb wie erstarrt, als hielte mir jemand ein Messer an die Kehle. Wir tauschten Blicke aus, jeder von uns wusste, was das bedeutete: Jemand war in unser Dorf geritten und stand nun direkt vor meinem Wirtshaus! Fremde verirrten sich nur selten in unser Dorf, erst recht nicht mitten in der Nacht. Ich blickte mich um. Hinter der Theke lag ein massives Holzscheit, doch was würde es mir nützen, zückte ein Schurke sein Schwert und hielte es mir an den Hals?
Wir hörten ein dumpfes Geräusch, als wenn jemand von seinem Pferd sprang. Draußen wurde nicht gesprochen, anscheinend hielt sich nur eine einzelne Person vor dem Wirtshaus auf. Jedoch hörten wir auch Metall klingen – kein beruhigendes Geräusch für unbewaffnete Bewohner eines kleinen Dorfes. Wir starrten auf die Tür, und ich merkte, wie mein ganzer Körper verkrampfte, vom Kopf bis zu den Fußzehen.
Eine Weile hörte ich nichts; der Fremde band wohl sein Pferd an, danach öffnete sich endlich die Tür. Im selben Moment fegte ein heftiger Windstoß durchs Dorf und blies einen Schwall kalte Luft herein. Die Umrisse einer Person zeigten sich in der Tür. Ich kniff die Augen zusammen, konnte aber gegen die Dunkelheit nichts erkennen.
Der Fremde trat mit schwerem Tritt seiner schwarzen Stiefel ein. Er trug einen schwarzen Mantel, eine Kapuze verhüllte das Gesicht. Als die Falten des Umhangs den Blick auf sein Kettenhemd freigaben, blinkte ein Schwert an seiner Seite auf, mit einer Klinge so lang wie mein Arm. Aber mein Blick blieb nicht auf seiner tödlichen Waffe haften, sondern wanderte zu seinem verhüllten Gesicht. Die Augen waren es, die ich sehen wollte, nicht sein Kettenhemd, nicht sein Schwert und nicht das Wappen auf seinem Mantel.
Als der Fremde einen weiteren Schritt in den Raum trat, fiel die Tür hinter ihm, vom Wind getrieben, mit lautem Knall ins Schloss. Ich wich zurück, auch meine Gäste suchten den Abstand. Der Neuankömmling nahm seine Kapuze ab. Das Gesicht eines jungen Mannes mit blondem Haar und grünen Augen kam zum Vorschein. Ich schaute mir die Augen ganz genau an und konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Ich atmete tief durch. Es mochte töricht sein, die Angst abzulegen, wenn ein Fremder mit Kettenhemd und Schwert eintrat, aber er hatte normale Augen, und nur das schien für mich von Belang zu sein.
Der Blick des Fremden wanderte zunächst zu mir hinter die Theke, danach zum Tisch, an dem meine Gäste saßen. Jorden schaute weg, Tarlow und Jack erwiderten vorsichtig den Blick.
»Willkommen in Schwarzbach!«, sagte ich. »Ich bin Kolen, der Wirt. Was kann ich für Euch tun?«
Der Mann zögerte kurz, ging dann in meine Richtung und setzte sich auf einen freien Stuhl in der Nähe der Theke. Bei jedem Schritt klapperte das Schwert an seiner Seite. Er schaute mir in die Augen. »Ein Bier und ein Zimmer für die Nacht!«, sagte er mit fester Stimme. Er zeigte mit seinem Kopf auf den Kessel. »Und etwas von dieser Suppe! Aber nur, wenn sie noch heiß ist.«
Ich erwärmte den Rest Zwiebelbrühe, dazu reichte ich Brot und Bier. Der Fremde aß hastig, schlürfte und rülpste. Während er aß, schaute er sich mehrmals um. Ich hatte das nicht erwartet, aber er spürte wohl, dass etwas nicht stimmte. Ihm war die Stimmung im ›Gerupften Huhn‹ nicht geheuer. Tarlow, Jack und Jorden hatten kein Wort gesprochen, seitdem er eingetreten war. Krüge, Schüsseln und ein ungeöffnetes Kartenspiel standen oder lagen unberührt vor ihnen auf dem Tisch.
»Was verschlägt Euch in unser Dorf, Reisender?«, fragte ich den Fremden.
»Bin auf der Durchreise. Will irgendwo anheuern, in Lloyandasburg oder wo auch immer meine Reise mich hinführt. Hauptsache, die Belohnung glänzt und klimpert.«
»Seid Ihr ein Söldner?«
Er nickte, schaute aber nicht hoch und aß weiter.
»Woher stammt Ihr?«
»Aus dem Norden, aus der Nähe von Cantermire.«
Ich merkte auf. »Gibt es Neuigkeiten aus dem Norden? Wie ergeht es Lord Deegan?«
»Sein Sohn wurde im Bett mit seinem Knappen erwischt.« Er schaute hoch und grinste. In seinen Zähnen klaffte eine große Lücke. »Das Erbe Cantermires kann der Junge jetzt vergessen.«
Mehr erzählte der Fremde nicht, er aß seine Suppe bis zum letzten Tropfen auf. Danach wischte er sich mit der Hand den Mund ab und schaute sich erneut um. Was dachte er? Würde er zum Schwert greifen, jetzt, wo er einen vollen Magen hatte?
»Wo bin ich?«, fragte er. »Dieser Ort ist auf der Karte nicht eingezeichnet.«
»Ihr befindet Euch in Schwarzbach«, sagte ich. »Wir zählen nur zweiundsechzig Einwohner, die wenigsten kennen uns.«
»Wie kann ein solch kleines Dorf überleben?«, fragte er ungläubig.
»Nun, der Boden ist fruchtbar, und der Wald ist reich an Wild und nahrhaften Früchten. Außerdem hilft hier jeder jedem. Hat der Bauer zu viel Arbeit, nimmt der Schneider einen Pflug in die Hand. Ist die Handwerkerin überfordert, greift der Wirt sich einen Hammer.«
»Und wenn Ihr angegriffen werdet?«
Ich schaute kurz zu den anderen herüber, keiner schaute zurück. »Im Ort leben einige ehemalige Ritter«, sagte ich. Eine Lüge. Bei uns lebte nur ein einziger ehemaliger Ritter. Zwar konnte dieser es mit drei Soldaten gleichzeitig aufnehmen, aber ein bewaffneter Fremder musste nicht alles über unser Dorf wissen.
»Vor Schwarzer Magie kann uns auch kein Ritter schützen«, sagte Tarlow. Es waren seine ersten Worte, seit der Fremde angekommen war.
Der Krieger hob seine Augenbrauen und schaute Tarlow an. »Schwarze Magie?«
Ich versuchte, Tarlows Blick zu fangen, wollte ihm andeuten, nichts zu sagen, doch Tarlow bemerkte mich nicht.
»Sprecht, ist Euch etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Ihr in unser Dorf gekommen seid?«, fragte er den Fremden.
Der nickte. »Nun, ein wildes Pack Wölfe hat mich angegriffen. Das ist ungewöhnlich, Wölfe scheuen vor Menschen. Musste sie mit dem Schwert vertreiben.«
»Das Rudel kennen wir«, sagte Jack. »Sie schleichen nachts durch den Wald, inzwischen sogar auch in unser Dorf hinein. Sie wollen sich unsere Vorräte krallen.«
»Zurzeit laufen weniger Beutetiere als sonst im Wald herum«, erklärte ich. »Die Wölfe sind hungrig, und das macht sie mutig. Das ist alles andere als ungewöhnlich.«
Der Fremde zog die Augenbrauen zusammen. »Ihr habt von Schwarzer Magie gesprochen.«
Ich schaute Tarlow an. Dachte er ähnlich wie Jorden, dass es besser wäre, Schwarzbach zu verlassen? Dachten alle Dorfbewohner wie Jorden? Kurz stellte ich mir vor, wie sie sich ängstlich in ihren Häusern verkrochen, und zuckte zusammen. Das durfte ich nicht zulassen. Es gehörte zu meinen Pflichten, die Menschen zu beruhigen, und vor dieser Verantwortung durfte ich mich nicht verstecken. »Keine dunklen Mächte peinigen unser Dorf«, sagte ich so langsam und ruhig ich konnte.
Tarlow schüttelte den Kopf. »Jorden hat recht«, sagte er zu mir, »du kannst nicht Geist und Augen täuschen.«
Hatte Jorden wirklich recht? Ich wollte und konnte das nicht glauben.
»Ich erzähle Euch gerne, was vorgefallen ist«, sagte Tarlow zum Fremden. Er hatte wohl beschlossen, ihn nicht als Bedrohung anzusehen, und das brachte die Plauderlaune in ihm hervor. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wollte nicht über den Vorfall sprechen, wollte ihn ignorieren, ihn mit dem Wind hinfort wehen lassen, ihn für immer aus unseren Köpfen kriegen. Jedes Wort darüber würde die Erinnerung daran stärken und die Ängste der Dorfbewohner schüren. Wieder deutete ich Tarlow an, den Mund zu halten, doch entweder bemerkte er mich nicht, oder er wollte mich nicht bemerken.
»Gewiss doch«, sagte der Fremde.
»Ihr könnt mir glauben, ich rede nicht mit verlogener Zunge«, versicherte Tarlow.
Der Fremde lachte. »Das werde ich erst danach beurteilen. Und nun erzählt, ich liebe unterhaltsame Geschichten.«
»Unterhaltsam?«, fragte Tarlow und schnaubte. »Das ist sie mitnichten.«