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ECHTE TRADITIONEN: APPOGGIATUREN UND KADENZEN

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Wie alle Komponisten konnte sich auch Giuseppe Verdi bei den Interpreten seiner Zeit auf die Kenntnis der gängigen Aufführungspraxis verlassen. Die von den einstudierenden Korrepetitoren, den Dirigenten sowie von den Sängern, die nach Ende ihrer Karriere meistens unterrichteten, mündlich weitergegebenen, in den Partituren nicht enthaltenen Anweisungen begründeten die wahren Traditionen seiner Zeit, und nicht jene im Laufe der folgenden Jahrzehnte institutionalisierten Willkürakte von Sängern und Dirigenten, die später vielfach als Traditionen missdeutet wurden.

So konnte Verdi beispielsweise darauf vertrauen, daß seine Sänger legato sangen, auch wenn er es in der Partitur nicht eigens angab. Er konnte auch darauf vertrauen, daß sie die nur als notengetreue Wiederholung notierte zweite Strophe einer Cabaletta variierten. Ebenso konnte er sich darauf verlassen, daß seine Interpreten zwischen zwei Silben eines Wortes, die er auf zwei verschiedene Töne komponiert und durch eine Ligatur verbunden hatte, ein Portamento anbrachten. Er mußte das ebensowenig ausschreiben wie Appoggiaturen, obwohl er letzteres manchmal tat. So sind im Schlußakt von La traviata im Rezitativ Violetta-Annina: „Annina? / comandate? / dormivi poveretta! / Sì, perdonate. / Dammi d’acqua un sorso.“ die Appoggiaturen bei den kursiv gesetzten Silben mit Achtelnoten, bei „sorso“ mit einer Viertelnote notiert (siehe Notenbeispiel).


Appoggiaturen waren in Italien seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine relativ frei gehandhabte Tradition. Während der Komponist Nicola Vaccaj (1790–1848) in seinem Werk Metodo pratico di canto italiano per camera{25} das Anbringen von Appoggiaturen ebenso wie der große Gesangspädagoge Manuel García jr. (1805–1906) in seinem Trattato completo dell’arte del canto{26} als obligatorisch ansah{27}, bezeichnete sie der berühmte Bassist Luigi Lablache (1794–1858) in seiner Méthode de chant (Paris, o.D.) bereits als optional.

Ebenso frei ging man mit Kadenzen um, die die Sänger an passenden Stellen frei einfügten. Auch wenn Rossini als Folge der kompositionsentstellenden Verzierungsexzesse des Kastraten Giovanni Battista Velluti in Aufführungen seines dramma serio Aureliano in Palmira (1813) zunehmend dazu übergegangen war, Ornamentik und Kadenzen bei Binnen- und Schlußfermaten selbst auszunotieren, um sie dem Gutdünken selbstverliebter Stimmvirtuosen zu entziehen, und dem Notentext immer wieder die mahnende Vorschrift „come è scritto“ [„wie es notiert ist“] hinzufügte, bestand die Tradition auch noch in den späten 1840er Jahren. So findet sich im Partiturautograph der Erstfassung des Macbeth (1847) Verdis ausdrückliche Anweisung: „Gli artisti sono pregati di non fare le solite cadenze“ [„Die Künstler werden gebeten, nicht die üblichen Kadenzen auszuführen.“]. Dieses Ersuchen um Unterlassung deutet aber andererseits wieder darauf hin, daß Verdi an anderen Stellen, die Verzierungen, Kadenzen usw. zuließen oder nach ihnen verlangten, denen er aber keinen Kommentar hinzufügte, Sängerfreiheiten offenkundig erwartete.

Plattenaufnahmen von Sängern, die bereits zu Verdis Lebzeiten aktiv waren oder sogar mit ihm zusammengearbeitet hatten und deren Gesangs- und Interpretationsstil noch auf den lebendigen Traditionen der Zeit beruhte, beweisen dies. Ein gutes Beispiel sind die zahlreichen Verdi-Aufnahmen des Baritons Mattia Battistini. Sie weisen eine Vielzahl von improvisierten Verzierungen, Hinzufügungen und Veränderungen an den dafür geeigneten Stellen auf. Verschiedene Kadenzensammlungen aus dem 19. Jahrhundert, wie z.B. jene von Luigi Ricci{28}, dokumentieren die damals gängigen Aufführungstraditionen und geben ein plastisches Bild von der Phantasie und Kreativität der Interpreten (die imstande waren, eigene Kadenzen zu komponieren). So finden sich in Riccis Sammlung für Männerstimmen beispielsweise Kadenzen und Variationen von großen Sängern wie Battistini, Cotogni, Duprez, García sr., Gayarre, Graziani, Marconi, Mario, Masini, Rubini, Stagno, Tamburini, Tiberini oder Ronconi. In seiner Sammlung für Frauenstimmen scheinen Kadenzen und Variationen von Albani, Malibran, Marchesi, Marchisio, Melba, Muzio, Patti und Pinkert auf.

Die Tradition der eloquenten Interpretenphantasie, die auch von Verdi vorausgesetzt wurde, ist bedauerlicherweise verlorengegangen. Versuche, ihr gegen Ende des 20. Jahrhunderts neues Leben einzuhauchen, sind am verbreiteten Unverständnis von Kritik und Hörerschaft, aber auch von Ausführenden gescheitert. Mancher moderne Dirigent meint nämlich, seine vermeintlich notengetreuen, puristischen Verdi-Interpretationen in der fälschlicherweise auf Toscanini zurückgeführten Tradition auf den gedruckten Notentext einschränken und dem sachlichen Zeitgeschmack beispielsweise dadurch anpassen zu müssen, daß er Portamenti, Variationen, Verzierungen und Kadenzen strikt verbietet und Stellen, bei denen Rubati angebracht wären, metronomisch durchschlägt. Zunehmend bürgert es sich auch ein, daß nicht Italienisch sprechende und daher unsichere Dirigenten sogar die a cappella-Gesangspassagen von Verdi-Rezitativen ängstlich metronomisch ausschlagen und die Interpreten dadurch jeder Freiheit und Eloquenz bei der Gestaltung der Rezitative berauben. Das Resultat sind sterile, anämische Interpretationen von zu Olympia-ähnlichen Singautomaten degradierten Sängern, deren Darbietungen an Leblosigkeit, Phantasielosigkeit und Austauschbarkeit oft kaum zu überbieten sind.

Der chinesische Philosoph Konfuzius, selbst kein Musiker, hat zum Thema Tradition eine allzeit gültige Weisheit gesagt: „Tradition heißt nicht die Asche bewahren. Tradition heißt die Glut weitertragen.“ Wenn Partituren heute mit Vorliebe buchstabengetreu exekutiert werden, handelt es sich tatsächlich nur um Asche. Um keimfreie, nicht gesundheitsschädliche Asche, wenn man so will, aber eben nur um totes Material. Daran ändert auch das Regietheater{29} mit seinen Lesarten nichts, im Gegenteil. Beides beschleunigt den Verfalls- und Zersetzungsprozeß einer Kunstform, deren bevorstehendes Aussterben aus den genannten Gründen zu befürchten ist. Beschleunigt werden kann dies durch einen schleichenden, globalisierten Proletarisierungsprozeß bei ausführendem Personal wie bei Konsumenten, der sich in sogenannten Crossover-Produktionen oder Massenveranstaltungen niederschlägt, bei denen Opernarien zu Songs oder Signations, beispielsweise von Sportveranstaltungen, degradiert und nur mehr als solche wahrgenommen werden. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß Sportreporter die Arie des Kalaf aus dem 3. Akt von Puccinis Turandot ohne zu zögern als „das Lied von der Fußball-WM“ erkennen und definieren. Die Argumentation, daß in Kleingruppen auftretende, abgetakelte Sänger mit ihren gesanglichen Peinlichkeiten und geschmacklichen Entgleisungen ein neues Publikum für die Oper gewinnen, ist schlichtweg absurd.

Giuseppe Verdi als Interpret seiner Werke und Verdis Opern als Gegenstand von Interpretation

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