Читать книгу Giuseppe Verdi als Interpret seiner Werke und Verdis Opern als Gegenstand von Interpretation - Christian Springer - Страница 11
FALSCHE TRADITIONEN – VERÄNDERUNGSWÜRDIGE ZUSTÄNDE IN ITALIENISCHEN THEATERN
ОглавлениеDie aus dem Obgesagten ableitbare, weitverbreitete Nostalgie nach vermeintlichen Goldenen Zeitaltern mit mythischen Traditionen muss aber sogleich in Bezug zur Realität des damaligen Opernbetriebs gesetzt werden, die abseits dieser künstlerischen Traditionen in vielen Fällen eine andere war. Otto Nicolai beschrieb im März 1834 (fünf Jahre, bevor Verdi seine Karriere begann) mit drastischen Worten, wie Opernvorstellungen an italienischen Opernhäusern aussahen:
Empörend, niederträchtig finde ich die Art, wie das italienische Publikum seine Opern anhört! Sie unterhalten sich dabei; die Logen werden immer von einer Gesellschaft zusammen genommen, so daß man nie einzelne Billetts zu Logen bekommt, und die Familie, die nun eine Loge für den Abend genommen hat, betrachtet diese wie ein Zimmer, nimmt Visiten darin an usw. und hört nur dann und wann en passant ein bischen Musik an. Nun kann ich begreifen, warum der Rossini es über sich gewinnen kann, diesen Säuen etwas anders als nur Perlen vorzuwerfen! Es ist ein Spektakel in der Oper, daß man nur mit Mühe die Musik hören kann. Das ist Stil in ganz Italien! – Hier in Rom aber etwas weniger! – An diesem Abend nun also hörte ich eine Signora Manzocchi{30} als Anna Bolena, welche ganz vortrefflich sang! überhaupt italienische Gesangschule; ist etwas Göttliches! und dies der einzige Zweig in der Musik, worin dies faule Volk etwas leistet! [...]{31}
Das Orchester spielt ohne Direktor, nur der Vorgeiger gibt zuweilen den Takt an; das geschieht aber in den meisten Theatern auf eine wahrhaft empörende Weise; denn so ein Tölpel von Vorgeiger stampft alsdann mit den Füßen aufs lauteste den Boden, sodaß man den Taktschlag desselben wie bei uns die große Pauke vernimmt! Er ist gewöhnlich lauter als die ganze übrige Musik. [...] Der Souffleur sitzt in der Regel ohne Kasten mit der Mütze auf dem Kopfe in seinem Loche und schreit lauter als die Sänger, wobei auch er den Takt schlägt, sich aus seinem Loche so weit als möglich heraushebt und den Sängern auf so auffallende Weise als möglich die Worte zuruft. – Am liebsten würde er gleich aus seinem Loche herausspringen und die Hauptrolle selbst agieren. [...] Kurz alles ist empörend! was äußere Einrichtung anbetrifft. – Die Sänger aber singen herrlich! Welche Stimmen! welche Fertigkeit! welche Schule! Die Italiener werden schon als Sänger geboren! In den Kaffeehäusern hört man von herumvagabondierenden mauvais sujets Rossinische Arien viel geläufiger singen, als unsere Sänger es möglich machen können. [...]
Das Theater dauert daher 4 bis 5 Stunden, fängt um 8 an und schließt nach Mitternacht. Oft führt man einen Akt aus der Oper auf und einen aus einer anderen und macht so ein Mischmasch aus allem zusammen: denn dem Italiener liegt ja nicht daran, einen Eindruck mit nach Hause zu nehmen; er will nur Töne hören, Menschen sich bewegen und Kulisen sehen, die Zeit totschlagen und sich unterhalten. Das ist der Zustand des Theaters.{32}
Dem sind einige Details hinzuzufügen. Die Orchestermusiker – in Italien bis heute professori d’orchestra genannt, auch wenn sie nirgends lehren – waren zu jener Zeit nicht Mitglieder von fest engagierten, aufeinander eingespielten Klangkörpern, sondern wurden ad hoc für die jeweilige Spielzeit engagiert. Je nach den finanziellen Mitteln des Impresarios, der eine Stagione veranstaltete, kamen auch äußerst schlecht ausgebildete Musiker zum Einsatz. Ihr neuerliches Engagement in der nächsten Stagione hing oft weniger von ihrem Können als von ihren niedrigen Gagenerwartungen ab. Diese mehr schlecht als recht spielenden Instrumentalisten betrachteten es als eine Art göttliche Fügung, wenn ihnen ein Engagement in den Schoß fiel, mit dessen Erlös sie ihre Familie eine Zeitlang ernähren konnten. An eine Verbesserung ihres Könnens dachten sie dabei zumeist nicht. Zweit- und drittklassige Konzertmeister (die von Nicolai erwähnten „Vorgeiger“) und die sich erst später etablierenden Dirigenten gaben sich in dem Wunsch, ebenfalls wieder engagiert zu werden, mit solchen Ensembles zufrieden und kamen gar nicht auf den Gedanken, Orchestermusiker nur nach erfolgreich absolvierten Probespielen einzustellen. Provinzimpresari waren mit unkomplizierten Orchestern und deren Leitern, die keine hohen künstlerischen und finanziellen Ansprüche stellten und die Stagione möglichst reibungsfrei abspulten, höchst zufrieden.
Anschaulich beschreibt Giulio Gatti-Casazza{33} die Zusammensetzung von Chor und Orchester in seiner Zeit (1893–1898) als Vorsitzender des Direktoriums des 1798 eröffneten Teatro Comunale in Ferrara, einem bedeutenden, wunderschönen, noch heute bespielten Opernhaus:
Der Chor bestand aus gewöhnlichen Bürgern, die in verschiedenen Berufen tätig waren und ihre ersten Erfahrungen in der Städtischen Chorvereinigung erworben hatten. Diese Leute hatten im allgemeinen ziemlich gute Stimmen und eine natürliche Musikalität. Was das Orchester anlangt: Die Musiker an den ersten Pulten kamen aus dem Konservatorium. Diese Musiker unterrichteten ihrerseits am Städtischen Musikinstitut. Die anderen Mitglieder des Orchesters waren Handwerker, Ladenbesitzer, Büroangestellte; insgesamt ein Mischung aus Dilettanten mit erfreulichen Anlagen und gutem Willen. Selbstverständlich erhielten all diese guten Leute eine nur geringfügige Bezahlung. Sie wurden nur für die Vorstellungen bezahlt und bekamen nichts für die Proben.{34}
Der Impresario Giulio Gatti-Casazza (1869-1940)
Die Orchester saßen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht in einem Graben, sondern auf der Höhe des Parketts (so wurde beispielsweise der Orchestergraben an der Mailänder Scala erst auf Insistenz Toscaninis – das war eine der Bedingungen, an die er seine Rückkehr an die Scala knüpfte – 1906 eingebaut). Obwohl sie auch an großen Häusern zumeist schwächer als heute besetzt waren und auch die verwendeten Instrumente die Lautstärken heutiger Instrumente nicht erreichten, konnten sie aufgrund der hohen Sitzposition oft unangenehm lärmend sein. Die Partituren der Komponisten wurden, vor allem an mittleren und kleinen Häusern, vielfach nur als approximative Vorgaben aufgefasst und auf die Bedürfnisse der Sänger oder die Anzahl und das Können der von einem Theater engagierten Orchestermusiker und Choristen{35} abgestimmt. Dabei wurden bestimmte Passagen oder sogar ganze Szenen gestrichen, es wurden Instrumentalsoli ausgelassen und es kam oft zu Transpositionen oder Abweichungen von den vorgeschriebenen Tempi. Abgesehen von den üblichen eingelegten Kadenzen und Zusätzen, die bei selbstverliebten Virtuosen auch exzessiv ausfallen konnten, fügte mancher Sänger, dem seine Partie, so wie sie komponiert war, nicht gefiel, manchmal auch kurzerhand eine ihm besonders gut liegende Arie aus einer anderen Oper ein. Der Usus, mit einer sogenannten aria di baule – einer „im Koffer“ mitgeführten, jederzeit einsetzbaren Arie – zu brillieren, mit der man seine Fähigkeiten ins rechte Licht rückte, war eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Tradition, die noch nicht ausgestorben war. Wenn die Arie vom selben Komponisten wie der Rest der Oper stammte, konnte sich dieser noch glücklich schätzen, denn oft stammte sie auch aus der Feder anderer Musiker. So war es beispielsweise (u.a. auch in Wien) Usus, die Arie der Elvira in Ernani durch die Arie der Giselda aus I lombardi zu ersetzen. Bei Gefallen wurden diese Stücke wiederholt, meistens einmal, in manchen Fällen auch mehrmals.
Kurze Probenzeiten ließen vielfach keine ausgefeilten Interpretationen zustandekommen. Zu Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Italien die erste Orchesterprobe einer neuen Oper oft erst eine Woche oder gar nur wenige Tage vor der Premiere (auch weil die Komponisten die Orchestrierung üblicherweise erst bei ihrem Eintreffen vor Ort vornahmen und die Kopisten für das Herausschreiben der Orchesterstimmen Zeit benötigten), und sogar gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die neuen Opern zusehends komplexer orchestriert und schwerer zu spielen waren, ging man oft schon nach nur zwei bis drei Wochen Probenzeit in Szene.
Während der Vorstellungen blieb der Zuschauerraum erleuchtet, eine Gepflogenheit, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Noch 1816 war der Zuschauerraum der Mailänder Scala während der Vorstellungen dunkel geblieben. So schrieb der opernbegeisterte Stendhal{36} am 10. November 1816 aus Mailand: „Im Zuschauerraum gibt es keinen Kronleuchter{37}: der Zuschauerraum wird nur durch das Licht erleuchtet, das von den Kulissen reflektiert wird.“{38} Wenn nicht gerade bekannte oder bemerkenswerte Solostücke vorgetragen wurden, machte oder empfing das Publikum in den Logen Besuche, flanierte in den Gängen, um zu sehen und gesehen zu werden, man unterhielt sich, las Zeitung, aß und trank oder begab sich ins theatereigene Kasino auf ein Spiel. Doch auch diese Gewohnheiten kannten Einschränkungen, wie Stendhal am 16. Juli 1817 an seine Schwester schrieb:
Heute abend, dem Tag der prima recita{39} [von Rossinis La gazza ladra], waren alle Damen in den Logen in großer Gala, das heißt mit nackten Armen und Hälsen und großen Hüten, die mit prächtigen und riesigen Federn geschmückt waren – das mindeste, das man tun kann, wenn man vom Parkett aus gesehen werden will. Es herrschte absolute Stille: bei einer prima sera{40} macht man keine Besuche.{41}
Stendhal, eig. Henri Beyle (1783-1842)
In seiner Biographie des jungen Rossini wird Stendhal noch genauer:
Bei den Premieren verhält man sich still; bei den Folgevorstellungen nur dann, wenn die schönen Stücke kommen. Jene, die die ganze Oper hören wollen, suchen sich Plätze im Parkett, das riesig ist und mit ausgezeichneten Bänken mit Rückenlehnen ausgestattet ist, auf denen man sich sehr wohl fühlt, so sehr, daß englische Reisende indigniert zwanzig oder dreißig Schlafmützen zählen, die sich auf zwei Bänken ausgestreckt haben.{42}
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war es Usus, nach den Aufführungen – auch von extrem langen Werken wie Meistersinger oder Parsifal – ungeachtet der begreiflichen Erschöpfungszustände der Orchestermusiker noch ein Ballett aufzuführen. Man würde es nicht glauben, wenn man das Plakat der Falstaff-Uraufführung vom 9. Februar 1893 nicht gesehen hätte: Im Anschluss an Verdis letztes Meisterwerk, ein absoluter Höhepunkt der italienischen Operngeschichte, wurde an der Mailänder Scala das Ballett Die Puppenfee aufgeführt.
Das Plakat der Uraufführung des Falstaff
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden, wie Stendhal berichtet, zwischen den Akten der Opern Ballette gespielt. Der Ablauf eines Abends gestaltete sich folgendermaßen:
Die Wahrheit ist, daß hier [an der Mailänder Scala] die Aufführungen [fast] nichts kosten: 36 Centesimi für die Abonnenten. Und für diese Lappalie bekommt man: den ersten Akt der Oper, der eine Stunde dauert (man beginnt [mit den Vorstellungen] im Winter um halb acht, und um halb neun im Sommer); [es folgt ein] großes balletto serio, [das] eine weitere Stunde [dauert]; [dann folgt] der zweite Akt der Oper, [der] dreiviertel Stunden [dauert]; schließlich ein kleines komisches Ballett, das üblicherweise so unterhaltsam ist, daß man Tränen lacht, eine weitere Stunde.{43}
Die Wurzeln dieser heute vielleicht sonderbar anmutenden Gepflogenheit sind im Rinascimento zu finden. In Urbino, zwischen 1504 und 1508 kulturelles Vorbild Italiens, förderte der an den schönen Künsten interessierte Guidobaldo da Montefeltro, der Nachfolger seines hochgebildeten Vaters, des Herzogs Federigo da Montefeltro, den Gebrauch der italienischen Sprache für literarische Zwecke. Er ließ an seinem Hof Bernardo Dovizi Bibbienas Calandra uraufführen, eine der ersten italienischen Prosakomödien, ein gewagter, leichtgeschürzter Text. Hundert Jahre, bevor die Kunstform Oper entstand, sorgte ein hinter der Szene verborgenes Orchester für die musikalische Begleitung. Die Zwischenakte wurden – wie mehr als 300 Jahre später an der Mailänder Scala – zur Freude der Zuschauer, die auf Teppichen Platz genommen hatten, mit Ballett-Einlagen ausgefüllt. Bibbienas Calandra wurde sogar am päpstlichen Hof aufgeführt. Papst Leo X. zeigte an den Zweideutigkeiten durchaus Gefallen. Er hatte im ersten Jahr seines Pontifikats ein Theater auf dem Kapitol eröffnen lassen, wo 1518 Ariosts I Suppositi in einer Galavorstellung zur Aufführung kamen, deren künstlerischer Ausstattung großes Gewicht beigemessen wurde: Raffael{44} malte die Kulissen, auch hier wurde in den Zwischenakten ein Ballett gegeben, außerdem eine Zwischenaktmusik, bei der ein Chor sang und ein Orchester spielte, das aus Lauten, Violen, Hörnern, Dudelsäcken, Pfeifen und einer kleinen Orgel bestand.
Es war Arturo Toscanini, der Ende des 19. Jahrhunderts gegen enorme Widerstände begann, das in Italien mit unverhohlener Lebensfreude genossene Unterhaltungstheater auf ernstes Bildungstheater umzustellen und mit den erwähnten liebgewonnenen Gewohnheiten, die er als der Kunst abträgliche Mißstände betrachtete, aufzuräumen. Die mangels anderer Treffpunkte für das gehobene gesellschaftliche Leben relevanten und darüber hinaus wirtschaftlich bedeutenden Theaterkasinos waren bereits früher von anderen geschlossen worden:
Die öffentlichen giochi{45}machten den Glanz der [Mailänder] Scala und des [Teatro] San Carlo [in Neapel] aus. In den riesigen Sälen, die dem Theater angeschlossen waren, gab es [Spiel-]Tische für Pharao oder Trente-et-quarante{46}. Da der Italiener seiner Veranlagung nach Spieler ist, machten jene, die die Bank hielten, ausgezeichnete Geschäfte und brachten den Theaterkassen beträchtliche Summen ein. Die giochi waren vor allem an der Scala notwendig, die im feuchten Winterklima zum allgemeinen Treffpunkt der vornehmen Gesellschaft geworden ist. Ein gut geheiztes, gut beleuchtetes Ambiente, wo man sicher sein kann, jeden Abend die ganze elegante Welt zu finden, ist eine überaus bequeme Einrichtung. Die österreichische Regierung hat die giochi an der Scala verboten; auch die kurzlebige neapolitanische Revolution hat die Kasinos abgeschafft, und König Ferdinand hat sie nicht wieder eingeführt. Diese beiden Theater werden herunterkommen und mit ihnen wird die Kunst der Musik herunterkommen. Es war [nur] dank der Kasinos, daß Viganò{47} in Mailand (1805–1821) seine wunderbaren Ballette geben konnte; es war eine neue Kunst, die mit diesem großen Mann gestorben ist.{48}
Der dem Unseriösen und Spielerischen abholde Toscanini führte Probespiele für Orchestermusiker ein, unterband Wiederholungen, so lautstark sie vom Publikum auch verlangt werden mochten und schaffte das Ballett nach der Vorstellung ab. Abgesehen davon ließ er den Zuschauerraum während der Vorstellung verdunkeln. Er hatte dies erstmals unter heftigen Publikumsprotesten bei einer Tristan-Vorstellung 1897 in Turin versucht (man einigte sich dann während der Vorstellung auf den Kompromiss einer Halbverdunkelung) und setzte es konsequent bei der Eröffnung der Scala am 26. Dezember 1898 (Die Meistersinger von Nürnberg) durch. Bei dieser Gelegenheit ordnete er auch an, dass im Parkett sitzende Damen keine Hüte tragen durften.
Außerdem setzte Toscanini den Willen der Komponisten durch und führte die Werke so auf, wie sie komponiert waren. Giacomo Puccini begrüßte diesen Umstand anhand einer Rigoletto-Interpretation Toscaninis:
Rigoletto wird wirklich gut gespielt, ohne Fermaten oder Veränderungen von Verdi[s Partitur]. [...] Toscaninis Tempi sind klar und richtig, der dritte [= zweite] Akt ausgezeichnet, sogar in dramatischer Hinsicht. Der vierte [= dritte] Akt nicht außergewöhnlich; dennoch eine Aufführung, die fesselt.{49}
Dass Toscaninis Texttreue nicht so besinnungslos rigoros war, wie ihm manchmal nachgesagt wird, zeigen einige Veränderungen, die seiner Auffassung nach entweder die Wirkung eines Werkes verbesserten oder – wie im Falle der Götterdämmerung – auf das Publikum Rücksicht nahmen: Er strich bei seinen Aufführungen von Glucks Orfeo ed Euridice (1910 und 1924) nicht nur die Ouverture, sondern fügte Nummern aus Alceste (die Arie „Divinités du Styx“), Paride ed Elena (ein Trio) und Echo et Narcisse (einen Chor) ein. Bei Aufführungen der Götterdämmerung strich er für gewöhnlich die Waltraute-Episode. Den Boris Godunow dirigierte er ausschließlich in der Rimski-Korsakow-Fassung (sie war die einzige, die er gelten ließ). Für das berühmte Violinsolo in Verdis I lombardi alla prima crociata komponierte er eigene virtuose Variationen. Die Passacaglia und Fuge in c-Moll von J.S. Bach ließ er von Ottorino Respighi bombastisch orchestrieren, um auf einer Tournée die Brillanz des New York Philharmonic demonstrieren zu können. Für die große Sopranistin Lotte Lehmann transponierte er im Salzburger Fidelio (1937) widerspruchslos die Arie der Leonore nach unten, da die Sängerin Höhenprobleme hatte. Und als der Chorleiter Robert Shaw ihm für eine Aufführung von Beethovens Neunter vorschlug, einige Altstimmen die hohen Tenorstellen mitsingen zu lassen und die Tenöre gelegentlich bei tiefen Altstellen verstärkend einzusetzen, antwortete Toscanini: „Alles, was die Partitur zum Klingen bringt, ist mir recht.“
Zu Beginn von Verdis Karriere, rund sechzig Jahre zuvor, war weit und breit noch niemand in Sicht, der im täglichen Chaos des Musikbetriebs mit Sachverstand und Autorität aufgeräumt hätte. Daß Zustände wie die oben angedeuteten einem Künstler wie Verdi verbesserungswürdig erschienen, ist nur allzu verständlich.
Verdi setzte seine Reformen bei den am meisten im Rampenlicht stehenden Interpreten an: bei den Sängern. Er war nach dem Durchfall seiner nach der ersten Vorstellung abgesetzten Oper Un giorno di regno (Mailand, 5. September 1840) ein gebranntes Kind. Die Sänger waren bei dieser Gelegenheit nicht nur unlustig gewesen, sondern hatten die Aufführung geradezu boykottiert.
Außerdem kann man noch hinzufügen, daß selbst dann, wenn die Oper nicht gefällt, die Darsteller sie dennoch dem Publikum mit unverändert gutem Willen darbieten müssen, denn aufzuhören zu singen oder nur die Lippen bei den Musiknummern zu bewegen, beweist eine schuldhafte Unkenntnis der eigenen Pflicht; denn das Publikum gibt kein Geld für die Bühnenhelden aus, damit sie nur nach Lust und Laune in den von ihnen bevorzugten Augenblicken singen; und schließlich kann die Gleichgültigkeit und die Lässigkeit eines Sängers auch in einer nicht genehmen Oper als eine Hauptursache für deren Durchfall angesehen werden.{50}