Читать книгу Giuseppe Verdi als Interpret seiner Werke und Verdis Opern als Gegenstand von Interpretation - Christian Springer - Страница 8
AUFFÜHRUNGSANWEISUNGEN, MISSVERSTÄNDNISSE UND UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN
ОглавлениеInterpretationsanweisungen sind im Laufe der Musikgeschichte generell von einer gewissen Unschärfe gekennzeichnet. Ihre Bedeutung ist einem ständigen Wandel unterworfen. Um nur ein Beispiel von vielen herauszugreifen: Die Tempobezeichnung Andante (ital. „gehend“) hat im 18. Jahrhundert ein schnelleres Tempo bezeichnet als im 19. Jahrhundert, was nicht von allen Interpreten berücksichtigt wird. Abgesehen von der langsam schreitenden oder etwas lebhafter gehenden Bewegung der Zählzeiten ist für den Eindruck des Zeitmaßes auch der Rhythmus von Bedeutung, der eine „gehende“ Empfindung der Unterteilungswerte (z.B. die Achtelnoten eines 4/4-Taktes) zulässt.
Ungeachtet der sich im Laufe der Zeit wandelnden Interpretationsanweisungen können Mißverständnisse auch aufgrund sich verändernder sprachlicher Voraussetzungen zustandekommen. Das zeigt folgendes Beispiel{18}: Wenn Schubert die Tempobezeichnung „ziemlich langsam“ angibt, verstehen heutige Interpreten das zumeist als „recht langsam“. Das angeschlagene Tempo ist also meist „langsamer als langsam“. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte „ziemlich“ aber die Bedeutung „geziemend“, „angemessen“, „gebührend“, was bei der Tempobezeichnung „ziemlich langsam“ nichts anderes als „schneller als langsam“ oder „etwas langsam“ bedeutet. Wenn Schubert mit „langsam“ überschriebene Stellen metronomisierte, bezeichnete er sie mit Metronomzahlen zwischen 50 und 54, „ziemlich langsam“ hingegen mit 63–66. Dasselbe gilt für „ziemlich schnell“, was eben auch nur „etwas schnell“ oder „langsamer als schnell“ bedeutet. Interessant ist, daß italienische Musiker die deutschsprachige Anweisung „ziemlich“ generell mit „un poco“ übersetzen und somit den Intentionen Schuberts näherkommen als Musiker mit deutscher Muttersprache, die die Anweisungen nach modernem Sprachverständnis deuten. Der Unterschied, den Schubert zwischen „schnell“ und „geschwind“ macht, sei hier nur am Rande erwähnt.{19}
Wie sensibel Verständnis und Handhabung von Interpretationsanweisungen sind, soll – eine Begebenheit aus einer sehr späten Phase von Verdis Karriere vorwegnehmend – anhand des Te Deum aus den Pezzi sacri, die am am 7. April 1898 in Paris{20} uraufgeführt wurden, illustriert werden. In diesem Monat besuchte der 31jährige Dirigent Arturo Toscanini den 85jährigen Komponisten in Genua, um von ihm Anweisungen zu den Pezzi sacri, deren Aufführung unter seiner Leitung in Turin bevorstand, zu erbitten.
[Verdi] hatte zum Te Deum folgende Erläuterung dazugeschrieben: „Dieses ganze Stück muß in einem Tempo ausgeführt werden, laut metronomischen Angaben“ und er fügte hinzu, daß „es an gewissen Stellen wegen des Ausdrucks und des Kolorits erforderlich sein wird, das Tempo breiter oder rascher zu nehmen, wobei jedoch immer zum Ausgangstempo zurückzukehren ist“. Schneller gesagt als getan. Der skrupulöse und von Zweifeln befallene Toscanini wollte den Autor konsultieren, besonders zu einer Stelle, von der er glaubte, sie durch Verzögerung des Tempos gut ausdrücken zu können.
Er hoffte, daß Verdi das Stück [die gesamten Pezzi sacri] selbst spielen würde. So hätte er seine Interpretation aus der authentischen Quelle beziehen können. Aber der alte Maestro wollte sich nicht die Mühe machen. Toscanini mußte das Stück spielen. Zögernd begann er mit dem Te Deum, dann faßte er Mut und gab es mit jener Elastizität wieder, die ihm sein Gefühl eingab. Am Ende des Stückes wartete Verdi nicht ab, bis ihn der junge Dirigent nach seinem Urteil fragte: „Tüchtig, genauso habe ich es gewollt“, rief er aus und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. Erfreut wagte der Dirigent zu fragen: „Maestro, warum haben sie es nicht so geschrieben?“ Verdi antwortete: „Aus Furcht, es könnte zu langsam aufgeführt werden.”{21}
Bei der erwähnten „Elastizität“ handelte es sich, wie Toscanini erzählte, um ein allargando, das er instinktiv ausführte, obwohl es in der Partitur nicht verzeichnet ist. Verdis Unterlassung bei der Niederschrift der Noten war durchaus absichtsvoll gewesen, wie der Komponist dem Dirigenten erklärte: „Wißt Ihr, weshalb ich das allargando, das Ihr richtigerweise angebracht habt, nicht geschrieben habe? Denn wer weiß, wie gewisse Interpreten es aufgefaßt und wie übertrieben sie es wiedergegeben hätten.“{22}
Obwohl Verdi aus langer Erfahrung genau wußte, was er vorschreiben konnte oder mußte bzw. was er besser nicht vorschreiben sollte, um die von ihm gewünschten bzw. keine unerwünschten Wirkungen zu erzielen, zeigt ein solches Detail, auf welch unsicherem Terrain sich Interpretationsanweisungen bewegen und wie schwierig es für einen Autor sein kann, seine Vorstellungen umzusetzen.
Selbstverständlich war das Problem nicht neu. Mehr als hundert Jahre zuvor hatte Mozart dasselbe wie Verdi getan: „[...] und so ist diese dreystimmige Fuge entstanden. Ich habe mit Fleiss Andante maestoso hierauf geschrieben, damit man sie nur nicht geschwind spiele; denn wenn eine Fuge nicht langsam gespielt wird, so kann sich das eintretende Subject nicht deutlich und klar ausnehmen, und ist folglich von keiner Wirkung.“{23} Sein Biograph Nissen zitiert den Komponisten an anderer Stelle: „Ueber Nichts klagte Mozart heftiger als über „Verhunzung“ seiner Compositionen, hauptsächlich durch Uebertreibung der Schnelligkeit des Tempo. ‚Da glauben sie, hierdurch soll’s feurig werden; ja, wenn’s Feuer nicht in der Composition steckt, so wird’s durch’s Abjagen wahrlich nicht hinein gebracht.’“{24}
Verdi war sich schon in einem frühen Stadium seiner Karriere solcher Schwierigkeiten bewußt. Er entwickelte sich aufgrund der Position, die er erreicht hatte, rasch zu jenem Komponisten, der zur Erreichung seiner Ziele mehr als seine Kollegen vor ihm und zu seiner Zeit Einfluß auf alle Elemente der Aufführung seiner Werke zu nehmen trachtete: auf die Auswahl der Sänger und auf deren musikalische Vorbereitung, hierauf auf Bühnenbilder, Kostüme und Beleuchtung, in einer späteren Phase auch auf die Zusammensetzung und Anordnung der Orchester und Chöre sowie auf die aufkommende Generation von Dirigenten und deren Arbeit.