Читать книгу Geschichten aus Friedstatt Band 1: Glutherz - Christian Voss - Страница 7

Kapitel 4 Tod auf Zeit

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Melanore fühlte sich den ganzen Morgen schon nicht wohl. Sie war fiebrig und schwach. Schon der Gang über den langen Flur zum Abort war eine Tortur. Überrascht stellte sie fest, dass sie vergessen hatte ihr Haarnetz anzulegen. Der Hinterkopf entpuppte sich, bei näherer Betrachtung, als ein regelrechtes Vogelnest. Vergeblich versuchte sie die Haare zu bändigen. Wirr hingen ihr die roten Locken ins Gesicht. Sie pustete, wütend über ihre Nachlässigkeit. Sie war eitel, das stand außer Frage, und der Zuspruch, der ihr aus allen Winkeln der Stadt zuflog, verstärkte noch ihre Eigenliebe.

Sie war drauf und dran die Bodenhaftung zu verlieren – aber nicht ihren erlesenen Geschmack, besonders bei der Wahl ihrer Partner. Blumfink hofierte sie schon seit langem, doch er war ein hässlicher Kerl, grob gewachsen, von kleiner Statur – mit einer hohen Fistelstimme. Sein Reichtum imponierte ihr nicht, Gold hatte sie genug. Einzig und allein seine Stellung war für sie von Interesse, er war adliger Abstammung mit besten Verbindungen ins reiche Bürgertum von Friedstatt.

Blumfink überschüttete sie, drangsalierte sie mit Höflichkeiten, tagein tagaus. Es fiel ihr zeitweise schwer ihn brüsk zurückzuweisen, da einige seiner Aufmerksamkeiten tatsächlich ihren Nerv trafen. Ein blinder Bogenschütze musste nur genügend Pfeile abschießen, um irgendwann einmal ins Schwarze zu treffen. Und er traf in letzter Zeit mehr als einmal. Ein Wein wurde angeliefert – und schon nach einem Schluck dieser Köstlichkeit wurde klar: Diese Flasche würde sich, im Laufe des Abends, vollständig leeren. Er war süß, so süß wie Trauben nur sein konnten, und schon allein die Farbe dieser erlesenen Köstlichkeit war berauschend und außergewöhnlich. Das hatte sie jetzt davon. Der Gestank, der ihr von der Straße entgegenwehte, bereitete ihr Übelkeit, sie würgte und schwitzte dabei. Schnell schloss sie den Deckel des Aborts. Heute war sie blasser als gewöhnlich. Das Etikett riss sie einfach ab, ohne es eines Blickes zu würdigen – aber wer außer Blumfink konnte ihr die Aufwartung machen – mit so einer kostspieligen Dummheit? Melanore taumelte hinaus. Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihr war schwindelig, schwarze Punkte tanzten losgelöst vor ihren Augen. Wo war nur diese dumme Kammerzofe von Eldtiha? Vergeblich rief sie nach ihr. Melanore positionierte sich abwartend vor den großen Kristallspiegel in ihrem Zimmer. Sie streckte ihren Körper – für einen Moment fühlte sie sich besser. Die Fenster waren offen und so fächelte eine kühle, morgendliche Brise hinein. Es roch nach Schwertelblumen, süß und erfrischend zugleich. Gerade als sie einen prüfenden Blick in den Spiegel warf und damit beginnen wollte ihr zerzaustes Haar zu kämmen, schlüpfte Eldtiha in den Raum. Entschuldigend machte sie einen Knicks. Sie mied den zornigen Blick ihrer Herrin.

"Nun – endlich, warum kommst du grundsätzlich zu spät?" Melanore gab sich Mühe besonders zornig zu wirken, denn im Grunde mochte sie dieses naive Ding. Eldthia erinnerte sie an ihre eigenen ersten Tage in Friedstatt. Gott, war sie aufgeregt und verunsichert. Ihre Haltung devot, wenig damenhaft immer den Kopf gesenkt. Kleinlaut und immer eine gewisse Schamesröte im Gesicht.

Die Zofe reagierte nicht, keine Regung, vielmehr stand sie dumm in der Gegend herum und gaffte zum offenen Fenster.

"Hallo? – Ja, hörst du mich nicht?"

Eldtiha schloss die Fenster, flink widmete sie sich der Bettwäsche, mit ein paar geschickten Griffen waren Decke und Kissen gerichtet.

"Mädchen, was ist los mit dir?" Melanore ging auf ihre Bedienstete zu, immer noch die goldene Bürste in der Hand. "Muss ich dir erst eine kleben, damit du mit mir sprichst?"

Eldtiha reagierte nicht, vielmehr lief sie durch ihre Herrin hindurch, als diese sich bedrohlich vor ihr aufstellte.

Verblüfft sah Melanore an sich hinunter. Die Zofe schloss schweigend die Tür vor ihrer Nase, ohne sie überhaupt zu bemerken.

Mei Fah saß auf ihrem Thron. Diesen klangvollen Namen trug sie noch nicht lang. Trotz dieses Umstandes erinnerte sie sich kaum noch an ihren wirklichen Namen. Dieser Zauber, der auf sie wirkte war enorm stark und nahm ihr, ohne es zu merken, ihre Erinnerungen. Thrama Weinberg hieß sie, so wurde sie in einem kleinen Dorf weit ab von Friedstatt geboren – als Tochter eines erfolglosen Winzers. Damals waren die Zeiten hart – heute befehligte sie eine kleine Gruppe von Gleichgesinnten, sie war das Oberhaupt, die Priesterin des Schlangenordens. Eine Institution mit zahllosen Anhängern im ganzen Reich. Nach mühevoller Suche und einigen Rückschlägen fand sie eine kleine, unscheinbare Kiste. Sie war gut versteckt in einem abgelegnen Winkel des Weinkellers auf dem Gut ihres verstorbenen Vaters. Das Land stand zur Versteigerung. In einer Nacht – und Nebelaktion war es ihr gelungen, die Kiste ungesehen zu entwenden. Das weitläufige Grundstück stand unter Aufsicht und niemand Unbefugtes sollte es mehr betreten. Die Truhe war nicht groß, nicht größer als eine Schublade.

Thrama, alias Mei Fah, erinnerte sich blass. Die Kiste war verstaubt und mit einem reich verzierten Schloss versehen.

"Nimm diesen Schlüssel meine Kleine – er wird dir über schlechte Zeiten hinweghelfen." Vielmehr konnte ihr Vater nicht mehr sagen, da er tags darauf von einigen Banditen zu Tode geprügelt wurde. Niemand war bemüht das Verbrechen aufzuklären. Man munkelte im Dorf, dass es sich um gedungene Mörder handelte, aus der nahegelegenen Stadt, beauftragt vom Bürgermeister, der ein Hauptschuldner von ihrem Vater war. Nach diesem tragischen Zwischenspiel kam es unabwendbar zur Versteigerung. Ehrengeist hatte seine schmutzigen Finger in jedem Geschäft, und so war es nicht verwunderlich das er Anteilseigner im beauftragten Auktionshaus war und sicher seinen Schnitt machte.

Thrama beugte sich nach vorn. Der Schlüssel baumelte aus ihrem Ausschnitt und fand eigenständig den Weg ins Schloss. Der Deckel schwang auf. Licht strömte aus der Kiste und erleuchtete ihre kleine dunkle Kammer unter der Treppe des Schuppens, in dem sie zur Zeit wohnte. Ihr erschien es, als sei ein Stern geboren und eine kindliche Freude durchwirkte sie.

Fortan trug sie das gefundene Diadem und legte es nicht mehr ab. In ihm brannte ein ungeheures Feuer, das niemals versiegte. Der hühnereigroße Stein funkelte facettenreich im Licht der Feuerschalen. Ein junges Mädchen wurde soeben vorgeführt. Mai Fah´s Wachen warfen sie grob zu Boden. Sie wimmerte kläglich und flehte, doch die Sklaven der hohen Priesterin zeigten kein Pardon. Grombscher zog seinen langen und krummen Zeremoniendolch und strich mit einer fließenden Bewegung über ihren Hals. Augenblicklich verstummte ihr Flehen und wurde durch ein lautes Gurgeln ersetzt. Der Leichnam der jungen Frau fiel kopfüber, in das auf den Boden gezeichnete Pentagramm. Mai Fah war vor Anspannung aufgesprungen. Nichts! – das Blut verlief sich auf den eingravierten Linien und sprudelte zur Mitte des Drudenfußes, in dem sich eine Art Abfluss befand. Das Blut lief durch ein Rohr in die unteren Kammern des Tempels. Wandler lechzten gierig nach dem von oben herabtropfenden Blut, ihre Münder waren weit aufgerissen und ihre spitzen, grauen Zungen tasteten wild erregt durch die Dunkelheit, immer auf der Suche nach einem Tropfen Blut.

Es war zum aus der Haut fahren – ein weiteres, vergebliches Blutopfer. Die Priester traten vor und ergriffen routiniert den blutleeren Körper. Sie zogen den Leichnam hinter sich her, die ehemalige Magd hinterließ eine blutige Spur quer über den grauen Steinboden des Altarraumes.

Grombscher und Etekir nahmen wieder ihren Platz ein – direkt neben dem prachtvollen Thron ihrer Herrin, der einzig und allein aus einer aufgerichteten und am Ende halb zusammengerollten Schlange bestand. Der Kamm der Brettschlange diente dabei als Rückenlehne.

"Herrin können wir noch etwas tun?"

Einer der Priester war vorsichtig in den Lichtkegel getreten, er wusste um die Laune seiner Herrin, deshalb wählte er seine Worte mit Bedacht.

"Nein – verschwindet und verfüttert die Leiche wie gehabt an meine Halbtoten im Verlies!" sie winkte spöttisch und abweisend, der Priester verzog sich, zwar rückwärts gehend aber trotz allem leichtfüßig, ins Zwielicht zwischen den hohen Säulen.

Nachdenklich, mit starrer Miene betastete sie das schwere und reich verzierte Kollier um ihren Hals. Es musste doch möglich sein, ein gescheites Opfer in dieser riesigen Stadt zu finden.

Schon Monate waren ihre Häscher auf der Suche nach geeignetem Material, doch all ihre Anstrengungen blieben vergeblich. Der perfide Plan ging nur insoweit auf, dass es gelang, unbemerkt Frauen aus der Stadt zu entführen, um sie dem Stern der Schlange darzubringen. War das Blut in dieser Stadt so hinfällig schwach? Vollkommen marklos?

Mei Fah besah sich den großen grünen Stein, der in der Brust von Etekir im Gleichtakt zu seinem Herzen pulsierte. Das gleichmäßige und langsame Pulsieren beruhigte sie für einen Moment. So hatte sie sich ihre neue Position nicht vorgestellt – sie wurde eingeleitet durch Fehlschläge. Primanoss musste bei Vollmond erscheinen – doch ohne das Blut einer Schlangengeborenen war der Ritus nicht zu vollziehen und mehr noch: Zu diesem Zeitpunkt war das Erscheinen ihres Gottes fragwürdig. Was würden die Priester tun? Ihre Macht beruhte nur auf das gefundene Geschmeide. Ein unvermutetes Geschenk ihres Vaters – ihr eigener Machtanspruch wurde dabei nur geduldet. Doch bis zu welchem Punkt?

Mei fühlte sich unbehaglich in ihrer Haut. Ihre Handflächen waren anhaltend feucht vor innerer Anspannung.

Ihre Bediensteten verteilten schon seit Wochen heimlich ein Serum in den Krügen und Gläsern einiger Frauen – oder flößten es ihnen im Schlaf ein. Danach kam ihre Brut zum Einsatz: Wandler. Sie waren grausige Wesen der Nacht, ein Fleisch gewordener Alptraum. Niemand wusste von ihrer Existenz, außer den Mitgliedern des Schlangenordens. Dieses Wissen führte unter anderem zu einer sklavischen Ergebenheit unter den Mitgliedern. Der Begründer des Kultes: Xantia Lumen, der Begründer des Kultes, erbte diese formlosen Geschöpfe von seinem Mentor – woher die Scheusale ursprünglich kamen, wusste niemand so genau. Einige gelehrte Priester meinten ihren Ursprung auf den Geisterinseln ausgemacht zu haben, die weit entfernt im Nebelmeer lagen – doch stichhaltige Belege gab es für diese kühne Annahme nicht.

Ihr Profil blieb schwammig, ständig in Bewegung, und gesehen wurden sie nur, wenn sie sich zeigen wollten.

Unsichtbar stahlen sie sich durch die Stadt und niemand ahnte auch nur etwas von ihrer Existenz oder den perfiden Plänen ihrer Meisterin. Sie waren einzelne, versprengte Seelen, die ihrem Hort, von deren Existenz, in der Stadt niemand etwas ahnte, vor langer Zeit entrissen wurden.

Melanore trat beherzt auf die Strasse – niemand nahm Notiz von ihr bis auf Brecht, dem sie, im Vorbeigehen, gewohnheitsmäßig ein paar Münzen zusteckte. Sollte sie sich Brecht anvertrauen? Sie eilte die belebte Gasse hinauf, nur um zu überprüfen, ob ihr Zustand weiter anhielt. Sie lief durch die Menge, sie tauchte durch eine Schar Frauen hindurch und ließ sie unberührt hinter sich zurück. Tote Gegenstände blieben ein Hindernis, das musste sie schmerzhaft erfahren, als sie gegen ein aufgestelltes Weinfass stieß.

Sie rieb sich mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht das Schienbein und fluchte – hören konnte sie augenscheinlich auch niemand, denn nicht einer reagierte mit einem tadelnden Blick oder schelte sie zur Ruhe und Beherrschung, wie es einer Dame in ihren Stand zuträglich war – jedenfalls den Ortsfremden.

Niemand sah und bewunderte ihr elegantes Kleid, das prunkvoller nicht sein konnte.

Sie war ein Geist – war sie bereits tot? Nein, ihren Körper trug sie bei sich und lag nicht regungslos in ihrem Bett.

Gerade als sie zu Brecht zurückging, um ihn anzusprechen, wurde sie gewahr, dass er bereits den Weg zur nächsten Taverne ansteuerte. Sie beobachtete ihn von weitem, wie er seinen Weg zielsicher durch die Menge suchte. Melanore beschleunigte ihren Schritt und kurz bevor sie bei ihm anlangte, stolperte sie erneut, aber diesmal über ihre eigenen Füße. Sie fiel und glitt ohne Widerstand durch den Bettler hindurch. Melanore fluchte und schelte sich eine Idiotin. Anscheinend hatte sich ihr Zustand verändert, nicht mal der liebenswerte Brecht konnte sie mehr sehen. Was war das nur für eine Teufelei? Sie blieb einen Moment im Staub der Straße sitzen und sah sich eingehend um. Ein voll beladener Pferdekarren kam heran. Der Gaul, der ihn zog, lahmte bereits. Die Menge machte Platz, nur Melanore blieb sitzen. Der aufgebrachte Händler trieb das arme Tier zu Höchstleistungen an. Sie hörte bereits sein Schnaufen über sich und das Knarren der Holzräder allzu deutlich. Das Pferd glitt durch sie hindurch, der Wagen folgte rumpelnd. Ihr Zustand war besorgniserregend – ganz ohne Frage. Nicht mal ein Prickeln verspürte sie. Jetzt, so schien es, war sie vollkommen aus der Welt getilgt. Wie sollte sie etwas essen? – beunruhigt legte sie ihre manikürten Finger auf den bereits knurrenden Bauch. Keine Brateier, keine Würstchen und keine gut belegte Semmel an diesem verfluchten Morgen. Melanore fühlte sich ganz elend – und wie angeflogen spürte sie einen bohrenden Hunger. Sie stand mühsam auf, klopfte sich das weit ausladende Kleid ab und folgte der Krämergasse, die irgendwann im Hafenviertel und am Hafenbecken mündete. Sie brauchte Luft, ihre Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt und die Gassen und die Menschen schienen sie zu beengen – was natürlich albern war, in ihrem Zustand. Mit leerem Blick machte sie sich auf den Weg. Als sie endlich an den Rand des Kai´s gelangte, fühlte sie sich auf wundersame Weise beruhigt und fühlbar besser. Sie sah in den blauen Himmel, einige Möwen kreisten ruhelos in der warmen Luft, es roch nach Fisch und schmeckte nach Salz. Taue schlugen gegen Masten. Segel spannten sich oder blähten sich knatternd auf. Fischhändler boten ihre frisch gefangenen Schätze feil. Wasserhändler verkauften ihre frische Ware – Süßwasser der Bucht, das aus dem Fluss Stich hierher strömte. Sie schöpften es in den frühen Morgenstunden auf der Meeresoberfläche ab und füllten es, an Bord, direkt in Flaschen. Es war ein belebter Ort voller Farben und Betriebsamkeit. Die Sklavenhändler, die ihre menschliche Ware an Ketten gebunden im Gänsemarsch zur täglichen Auktion führten, verdarben ihr den Tag vollends. Für diese armen Seelen verspürte sie Sympathie und Mitleid, ihr Schicksal war dem ihren sehr ähnlich. Unbewusst lief sie den Kai entlang in Richtung Altstadt.

Der unwegsame Pfad stieg an und das Kleid erwies sich als absolut störend. Mühselig raffte sie ihren Rock und ging vorsichtig weiter. Hoffentlich tat sich nicht der Boden unter ihr auf und würde sie verschlingen. Aber nach ein paar weiteren Schritten in Richtung Friedhof fasste sie neuen Mut. Immer wenn sie verzweifelt war, unternahm sie diesen Ausflug. Ihr Bruder lag dort oben. Er war schon sehr früh an Pocken erkrankt – mit zehn Jahren verstarb er und hinterließ in der Familie pure Verzweiflung. Er sollte das Oberhaupt der Familie sein, jetzt war er nur noch Staub. Wenn es schwierig wurde oder sie unbedingt einen Rat brauchte, suchte sie sein Grab auf. Dort saß sie dann und erzählte Stunde um Stunde, bis die Nacht sich silbrig auf die Grabsteine legte. Ihre Klagen blieben zwar ungehört – dennoch fühlte sie sie danach erleichtert und gestärkt.

Ihre Mutter war nie eine Hilfe. Nach dem Tod ihres Sohnes verkaufte sie Melanore leichtfertig an einen Puffbesitzer. Vater war schon längst über alle Berge, schon nach der Geburt Melanores suchte er das Weite. Vielleicht war dies auch besser – denn sie schwor ihm die Eier abzuschneiden, sollte sie ihm jemals wieder begegnen. Müde und leicht erhitzt erreichte sie den Friedhof. Er befand sich auf einer Anhöhe. Die verschiedenartigsten Grabsteine blickten in den Norden Richtung Stadtzentrum. Von hier oben war die Aussicht wirklich außergewöhnlich. Aus dem Häusermeer erhob sich bleich und stolz der Turm der Einstigen, der jedes Bauwerk in der Stadt majestätisch überragte. Er war der Stadt ein Rätsel, ein allgegenwärtiges Geheimnis, denn niemand vermochte in sein Inneres zu gelangen, indem sich angeblich die Weltenbibliothek befand. Jedes Jahr fanden sich Unmengen von Wesen der unterschiedlichsten Couleur ein. Sie lagen in einem Wettstreit – die Teilnehmer maßen ihre Kräfte und versuchten in den Turm einzudringen, doch schon mehr als 500 Jahre war es niemanden der unzähligen Freiwilligen gelungen. Der Turm wahrte entschlossen sein Geheimnis. Freiwillige stürzten in den Tod, bei dem Versuch die Fassade hinaufzuklettern und die oberen Kammern zu erreichen. Ein Ring aus Erkern thronte dort und für jedermann ersichtlich gab es dort Fenster in luftiger Höhe, doch bisher hatte sie niemand auch nur annähernd erreicht. Kein Mensch konnte dem Turm sein Geheimnis entreißen und das Benutzen von Flugtieren war strikt verboten. Einmal, so sagte man, habe ein Dieb versucht, mit Hilfe eines Drachen dort einzudringen. Als er die Erker erreichte, ging er prompt in Flammen auf. Der Feuerball senkte sich kometenhaft zu Boden und entzündete das nahe gelegene Rathaus. Nach diesem gescheiterten Versuch waren Flugtiere jeder Art untersagt und alle, die sich dieser Geschichte entsannen, verzichteten freimütig auf derartige Eskapaden.

Melanore setzte sich vor das Grab ihres Bruders. Der Stein war in einem tadellosen Zustand, der Rosenbewuchs gepflegt. Unkraut hatte hier das Nachsehen. Sie seufzte, die Sonne neigte sich und das Licht nahm stetig ab. Die umstehenden Bäume rauschten eigenwillig. Es hieß, es würde auf diesem Grund spuken. Seelen von der Küste aufsteigen. Der Friedhof wurde durch die stete Brandung unterhöhlt. Es gab Katakomben, endlose Röhren, die die Stadt von unten aushöhlte. Diese Anlage war alt und marode, viele Gänge des weit verzweigten Labyrinths unterspült. Stellenweise brachen diese Katakomben ein und rissen ganze Häuserblocks in die stinkende Tiefe. Leichen wurden vom eindringenden Meerwasser fortgetragen, hinaus in die Bucht. Und so mancher kehrte wieder – die Magie im Wasser ließ sie auferstehen, so glaubte man. Schon oft trottete einer dieser Wiedergänger mitten am Tage durch die belebten Gassen der Slums. Einige Frauen meinten tatsächlich ihren vermissten und längst verstorbenen Ehemann wieder zu erkennen. Die Untoten wurden von der Stadtwache gestellt und kurzerhand in Asche verwandelt – oftmals unter den Tränen einiger Beistehender, angeblicher Angehöriger. Ja, so war das, die Magie war außer Rand und Band – und sie brachte in diesen Tagen mehr Kummer als Nutzen. Melanore stimmte eine Melodie an. Ein Wiegenlied, das dumpf in ihrem Inneren nachhallte, ausgesprochen schlechte Gefühle wurden an diesem Abend heraufgespült. Ihr Mund war trocken – sie ängstigte sich. Wie lange würde dieser Zustand der Unsichtbarkeit anhalten? Selbst der Gärtner, der den klangvollen Namen "Brim Kundwar" trug und den sie schon seit Jahren kannte, war unverdrossen an ihr vorbei geschlichen. Er hatte ein böses Knie, irgendeine Verletzung aus den Drachenkriegen, wodurch sein Gang grotesk und irgendwie unmenschlich wirkte. Wie sollte sie etwas essen? Sie nahm die Kanne, die zum Gießen der Blumen diente – vergeblich, ihre Hand wischte widerstandslos durch das Tongefäß. Also mit trinken wurde es auch nichts, stellte sie resigniert fest: "Bruder – sterbe ich? Ich kann nichts mehr anfassen und niemand scheint mich zu sehen – ist so der Tod? Ich weiß, du hörst mich irgendwo da draußen – bitte sei so gnädig und antworte mir. Ich hab eine scheiß Angst. Wo ist der Tod? Das Licht, von dem die Priester mit glasigen, entrückten Augen schwärmerisch sprechen?"

Melanore wurde kalt, der Boden war feucht und durchnässte die Seide ihres Überrockes: "Keine Antwort? – ich weiß das habe ich nie von dir verlangt – aber jetzt bräuchte ich wirklich Hilfe – mehr als nur einen guten Zuhörer." Melanore stand auf. Die Schatten wurden lang und irgendetwas beunruhigte sie. Sie glaubte etwas zu sehen: Ein Schatten, Umrisse, schwammige Konturen. Präsenter, dunkler – sie hoben sich deutlich ab, von den anderen, natürlichen Schatten der umstehenden Eichen. "Ich glaube, es ist so weit – Bruder wir sehen uns."

Melanore stand auf, zupfte gewohnheitsmäßig an ihrem Kleid um es zu richten und beobachtete, mit entschlossener Miene, den Pfad. Tatsächlich bewegte sich dort etwas, heimlich, bedacht darauf nicht gesehen zu werden. Melanore wunderte sich. Hatte der Tod es nötig sich im Schatten einiger Bäume herumzudrücken? Etwas stimmte ganz und gar nicht. Der Geruch, der ihr jetzt entgegenwehte, verschlug ihr den Atem. Es roch nach Verwesung, wurmzerfressendem Fleisch. "Ben – irgendetwas stimmt nicht.", geschickt zog sie ihren Dolch, der versteckt unter ihrem Kleid in einem Ledergehänge ruhte. Das Wesen kam näher – es sah aus wie der Tod persönlich. Wächsernes Gesicht, Venen durchfurcht, unfertige Züge. Sie vermutete einen der Wiedergänger vom Meer. Eine weitere Gestalt trat aus den Schatten. Insgesamt zeigten sich drei dieser Wesen. Sie trollten voran in äffischer Haltung – schnell wurde klar: sie konnten Melanore sehen, zielstrebig kam diese übel riechende Bande näher. Die starren, ausdruckslosen, roten Augen ruhten auf ihr. Kommt nur ihr Mistviecher, dachte sie trotzig, sie blieb mit gezücktem Dolch angriffslustig stehen. War sie verdammt? Waren dies die Häscher des Teufels? Die ihr nachstellten nach ihrem Tod? Lauf! Eine Stimme gab Laut, sie bellte beinahe in ihrem Innersten, die Stimme eines Jungen.

Melanore steckte ihren Dolch ein und lief, die Jagd hatte begonnen.

Der Abend war bereits weit fortgeschritten und noch immer stellten ihr diese Viecher nach. Wenn sie tot war – wo war dann ihre Leiche? Melanore erinnerte sich an so manches Ammenmärchen. In diesen gab es immer irgendwelche geisterhaften Erscheinungen von Frauen, die entweder betrogen wurden oder sich für ihre Ermordung durch einen bekannten Menschen rächen wollten und das kalte Grab verschmähten, bis die Schuld gesühnt war oder ein gedungener Magier ihre Gebeine endgültig vernichtete.

Jetzt war sie selbst so ein Geist, und sie lief völlig kopflos, bildlich gesprochen, durch die Straßen von Friedstatt . Diesen Teil des schier endlosen Häusermeers hatte sie in ihrem Leben noch nicht betreten. Nun für einen ausgelassenen Bummel war nicht die Zeit. Ihre Häscher klebten ihr an den Fersen. Sie schienen verdammt schlau und immer einen Schritt voraus. Sie teilten sich auf und jagten aus verschiedenen Richtungen. Melanore war zwar tot, so glaubte sie jedenfalls, aber sehr sportlich war sie nie, ihre Lungen brannten und die Waden schmerzten bereits von dieser ungewohnten Kraftanstrengung. Sie hetzte von Haus zu Haus, doch was nützte ihr das? Nichts, jedenfalls fand sie zur Nacht Unterschlupf in einer der vielen Abwasserkanäle – nur widerwillig stieg sie hinab, es gab so einige Bordsteinschwalben die so ähnlich ihr Leben fristeten. Am Tag schafften sie an und nachts verkrochen sie sich in Holzverschläge, die sie in der Kanalisation notdürftig in Eigenregie zusammenzimmerten.

Die Jagd schien erst einmal beendet. Die Schatten waren plötzlich fort, genauso unvermittelt wie sie aufgetaucht waren.

"Gut gemacht! – weiter so!" Die Wandler standen regungslos vor ihrer Herrin. Sie hatten ihre Gestalt verloren, jetzt waren sie alles und nichts. Eine amorphe silbrige Masse, die konturlos vor sich hin plätscherte.

"Morgen dasselbe Spiel, ihr wisst – sie muss freiwillig um Hilfe bitten. Erhöht den Druck ein wenig – nur dann gibt sie ein geeignetes Opfer für Primanoss und die Zeit drängt. Ich hoffe inständig sie ist den Aufwand wert." Die Wandler glucksten und blubberten, einer floss bereits durch das Bodengitter ab.

Mei, duldete diese Pflichtvergessenheit, wer sollte diesen Wesen auch ihr unbotmäßiges Verhalten abgewöhnen? Mei stand auf und wies ihren Diener an, sie zu ihren Gemächern zu geleiten. Die Wandler waren bereits verschwunden als sie endlich ihre Kammer erreichte. Die Einrichtung war spartanisch – genau wie die Versorgung. Es ging nicht um Luxus, sondern um Macht. Wenn es ihr gelänge ihren Gott auf Erden zu manifestieren, wäre ihre Machtfülle unbegrenzt. So stand es jedenfalls geschrieben, im schwarzen Buch der Schlangen. Sie fand keinen Schlaf, wie schon seit Tagen – es war einfach so aufregend, endlich hatten sie eine Probandin gefunden, eine Probandin aus dem alten Geschlecht. Reinen Blutes, hoffte sie inständig. Mei schloss die Augen, sie seufzte. Diesmal musste es klappen, die Sterne standen günstig und das war nur alle vierhundert Jahre der Fall. Es blieb nur bei diesem einen Versuch, auch mit lebensverlängernden Maßnahmen blieb der nächste Zyklus unerreichbar für sie, da gab sie sich keinen Illusionen hin.

Am nächsten Tag sollte die Jagd von Neuen beginnen. Das Gift verlor an Kraft, aber die ahnungslose Probandin würde auch den morgigen Tag über unsichtbar bleiben und danach wäre die Hure Wachs in ihren Händen – so hoffte sie inständig. Voller Vorfreude legte sie sich in ihr süßlich nach Brombeeren duftendes Lager. Ihr Blick wanderte zur Decke. Endlich würde das prophezeite Opferfest stattfinden und ihr Gott nach so langem vergeblichen Bangen den Weg zu ihr finden, in die Stadt der Götter. Er würde die Konkurrenz herausfordern, seinen rechtmäßigen Platz erstreiten und sie würde sein treuester und untertänigster Diener sein. Mit einem freudigen Lächeln auf den vollen Lippen schlief sie erschöpft ein, die vergangenen, enttäuschenden Wochen forderten ihren Tribut.

Geschichten aus Friedstatt Band 1: Glutherz

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