Читать книгу Geschichten aus Friedstatt Band 1: Glutherz - Christian Voss - Страница 8

Kapitel 5 Transporte Vivan Klusch

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"Verdammter Kerl, wo ist meine Ware? Du hast doch nicht allen Ernstes gedacht, dass du mich übers Ohr hauen kannst, oder?" Vivan war ratlos. Er wusste nicht, wo sich die ersehnte Ware befand. Noch vor einer Stunde war seine Welt, wie gewohnt, in Ordnung. Der Drache war, wie üblich, von seiner Plattform am Schluchtberg gestartet. Die Ware hing gut verschnürt in einem Transportkorb und pünktlich, wie ein Drachen – Transport Unternehmen nur sein konnte, war das Reptil auf den Punkt genau gestartet. Eigentlich musste sein Schützling schon längst die Ware am verabredeten Ort an der Schädelküste abgeliefert haben. Nur leider war weder die Ware noch der Drache auffindbar. Mit fragendem Blick starrte Vivan in den nebligen Abgrund. Er war wirklich überfordert. Pesch Langhals belagerte ihn schon seit einer Stunde. Lauthals forderte dieser dicke Kerl Ersatz. Vivan schwitzte, obwohl hier am Ende der Stadt ein steter Wind von Nordosten für angenehme Kühlung sorgte. Er bugsierte seinen zeternden Stammkunden in seinen Holzverschlag in dem sich, in luftiger Höhe, sein bescheidenes Büro befand. Er wimmelte die neugierigen Gaffer durch das Fenster ab und ließ es beim Schließen im Rahmen krachen.

Pesch war immer noch nicht bereit sein Organ zu drosseln. Er schrie, als würde Vivan ihm an die Gurgel gehen. "Ein Glas Meschlar?" Vivan hob eine kunstvoll gestaltete Kraffe ins Kerzenlicht. Die Bude war dunkel und eng. "Meschlar?!" Pesch machte große Augen, er verstummte augenblicklich. Meschlar hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Das Blut der Elben. Wie war dieser räudige Hund an Meschlar gekommen? Vivan schenkte großzügig ein, er war erleichtert – endlich herrschte eine vertretbare Stille. Das Glas füllte er zügig bis zum Rand und reichte es seinem Gast etwas ungeschickt zwischen zwei Stößen Papier hindurch, die sich links und rechts von ihm auftürmten. Um alles in der Welt wollte Vivan verhindern, dass Pesch wieder losblökte und ihm die Kundschaft madig machte – da war er gerne bereit etwas von diesem wertvollen Tropfen zu investieren. Pesch ließ sich schwer in einen Stuhl fallen. Er schwitzte, sein Atem ging kurz. Argwöhnisch betrachtete er das Glas, bevor er gierig einen Schluck nahm: "Köstlich, ausgesprochen köstlich – so etwas habe ich noch nie getrunken." Krampfhaft hielt er das Glas fest, als erwarte er einen Dieb, der ihm das göttliche Getränk unter der Nase weg stahl. Vivan musterte ängstlich seinen Lehnstuhl. Er befürchtete, er würde jeden Moment unter dem Gewicht des fetten Kaufmann einbrechen. Er knirschte verdächtig als sich Pesch schwerfällig regte und seinen klobigen Körper neu ausrichtete, um einen weiteren Schluck des Meschlar zu genießen. Er stöhnte voller Verzückung, als würde ihn seine Lieblingshure melken. "Nun, kommen wir wieder zum Wesentlichen. Du glaubst doch nicht, dass ich meine Ware einfach so vergesse? Wo ist dein vermaledeiter Drache mit meinem Stoff abgeblieben? Hat er ihn sich selbst durch die Nüstern gezogen?" Vivan verkniff sich ein Grinsen – die Lage war einfach zu ernst. Pesch war einer seiner besten und prominentesten Kunden. So ein Fehltritt konnte ihm ohne Weiteres seinen Ruf versauen. Und ohne das Wohlwollen von Pesch war es so gut wie unmöglich lukrative Geschäfte in Friedstatt abzuschließen, obwohl sein Transportmittel mehr als ungewöhnlich war, ja im Grunde einzigartig. Keleran war ein Drache, ein Lindwurm, der die Hexerkriege zwar nicht selbst erlebt, aber aus dem Wurf einer der letzten Drachenweibchen stammte, die diesen Konflikt unbeschadet überlebte. Er wurde verschenkt als Ei. Es war damals ein übliches Geschenk an Hochgeborene. Wertvoll und äußerst beliebt. Nur leider verstanden sich die meisten dieser Technokraten nicht darauf sie auszubrüten. So blieben diese Artefakte ein lebloses Andenken, ein Ding welches in dunklen, vergessenen Ecken einstaubte und dessen wahrer Wert mit der Zeit in Vergessenheit geriet. Der Adel fristete ein kümmerliches Dasein im dritten Zeitalter nach den Hexenkriegen und so geschah es, dass ein Ei nach dem anderen veräußert wurde. Windige Geschäftsleute, skrupellose Zwischenhändler brachten sie auf den freien Markt wo sie Höchstpreise erzielten. Doch auch die neuen Besitzer wurden ihrer überdrüssig und so wanderten sie von Hand zu Hand, bis man ihren Wert nach Jahrhunderten, mit schnöder Keramik aufwog. Vivan war da anders. Er war ein Suchender, ein Autodidakt. Alles und jeder war für ihn von Interesse. So stieß er bald auf alte Schriften. Er kaufte sie einem Piraten ab, der nicht um ihren Wert wusste. Ahnungslos verschleuderte dieser Halunke diese wertvollen Zeugnisse aus einer längst vergangenen Epoche. Jemand hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, den Aufenthaltsort der Eier ausfindig zu machen und auf einer Karte deren Standorte feinsäuberlich einzuzeichnen. Eines der Eier erregte umgehend das Interesse von Vivan Klusch, angeblich ruhte es in der Kanalisation von Friedstatt. Vivan kannte sich aus – er fand schnell Zugang zu dem verwitterten Labyrinth unterhalb der Stadt. Einige Vertraute rieten ihm von seinem Plan ab das Ei zu bergen, doch Vivan blieb dickköpfig und nahm die Suche auf. Nach einer gefährlichen und entbehrungsreichen Exkursion, die Keller waren voller unbekannter Ungetüme, fand er schlussendlich wonach es ihm begehrte. Ein Ei der alten Zeit. Nun, es war gefunden – nur wie sollte er es ausbrüten? Viele seiner Versuche scheiterten. Feuer war das Nächstliegende – es schlug fehl. Vivan nahm sogar das Ei mit ins Bett, doch auch diese künstliche Nestwärme bewirkte nichts. Warum sollte ausgerechnet er das bewerkstelligen, was nicht einmal die Weisesten seines Landes geschafft hatten? Frustriert schleuderte er das Ei fort. Es rollte die Stiege hinab und purzelte seinen Hausschweinen zwischen die Beine. Erst spielten sie neugierig mit dem Neuankömmling, dann nahm die Sau es unter ihre Fittiche, und siehe da, dieses einfache Hausschwein bewirkte das Wunder. Nach einer Woche schon brach die Schale entzwei. Vivan wäre bei diesem Ereignis fast in Ohnmacht gefallen. Er beobachtete diese wunderliche Veränderung aus der Ferne seines Kamins vor dem er saß und seine allabendliche Pfeife rauchte. Die Schweine grunzten aufgebracht und die Sau flüchtete sich verschreckt in eine Ecke. Das Ei zersprang lautstark und ein dreieckiger Kopf mit gelben Echsenaugen kam zum Vorschein und reckte sich empor. Das Neugeborene fauchte und zeigte stolz Reihen von spitzen Zähnen. So kam es, dass eine gewöhnliche Sau das Ei ausbrütete und ein königliches Wesen gebar. Wie kam dieses Wunder zustande? Vivan konnte es sich nicht erklären, und er hatte auch nicht große Lust und nicht die Möglichkeit ausreichend Rat einzuholen. Die Konkurrenz schlief nicht, und bei einem derart wertvollen Kleinod wurden vermeintliche Freunde schnell zu erbitterten Feinden. Nur einen weihte er ein, einen ortsansässigen Arzt und Freund. Glombicher glaubte, dass es an dem Herzschlag lag, denn auffällig war, dass das Herz im Gleichtakt pochte, also vollkommen synchron zum Herzen seiner vermeintlichen Mutter. War es eine glückliche Verwechselung, die das Ei veranlasste zu neuem Leben zu erwachen? Nun, er beließ es bei dieser Annahme und begann das kleine Echsenwesen liebevoll aufzuziehen. Bis es etwa 10 Jahre alt war, konnte er seine Existenz geheim halten, danach war es aufgrund der immensen Größe nicht mehr möglich. Niemand versuchte ihm mehr den Raufbold im Jungenalter zu entreißen – er wehrte sich schon wie ein Großer und offenbarte bereits Züge seiner bis dahin unreifen Zerstörungskraft.

Ein benachbarter Kaufmann versuchte es: sein Haus ging in Flammen auf. Die hiesige Stadtmiliz musste nach mehreren massakrierten Wachen ebenfalls einsehen, dass es kein Rankommen an diesen verdorbenen Lindwurm gab, wie sie ihn verächtlich schimpften. Vivan entwickelte eine Idee, wie man den unwegsamen Straßen des Landes entgehen konnte. Nun, man flog die Ware, statt sie mühselig über marode Pfade zu transportieren, flankiert von Gefahren und Unwegsamkeiten. Der Luftraum war fraglos die Zukunft. Die Kaufleute von Friedstatt waren entzückt und zeigten sich überraschend umgänglich, so stand Vivan und der Drache zügig unter dem Schutz der einflussreichen Händlergilde. Das strikte Flugverbot wurde teilweise aufgeweicht, eigens um die lukrativen Flüge zu ermöglichen. Die Ersparnisse an Zoll waren immens, die Verluste durch Raub nahmen ab und so wurde der Drache zu einem Helden stilisiert und Vivan zum erfolgreichsten Transporteur der Stadt oder sogar, aller verbliebener Städte im Reiche Udür.

Doch heute war der Wurm drin. Vivan beobachtete besorgt, wie Pesch den letzten Schluck Meschlar gierig hinunterstürzte. "Hm, sehr schön – und nun?" Pesch fixierte sein Gegenüber feindselig aus zusammengekniffenen Augen. "Ich werde mich darum kümmern, Höchstselbst!" Vivan vollzog fast einen Knicks. Wo war nur dieser Drache geblieben? Er war all die Jahre, bis auf ein paar Ausnahmen, erfreulich zuverlässig gewesen.

"Ist dir irgendetwas Absonderliches aufgefallen an deinem Schützling?" Vivan verneinte kopfschüttelnd. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster. Nebel stieg aus den angrenzenden Schluchten, dick wie Watte. Nur unwillig reagierte Vivan auf weitere Fragen. Er wusste genau, dass Pesch ihm den Einfluss neidete den auf den Drachen neidete und schon oft hatte sich der dicke Kaufmann dafür eingesetzt, dass er selbst Pate des Tieres werden sollte. Nur war es nicht möglich mit einem trotzigen und unwilligen Drachen zu arbeiten, und einen gesunden Kooperationswillen legte er nur, und ausschließlich, Vivan gegenüber an den Tag.

"Das hoffen wir für dich – du weißt so ein Eigensinn schadet dem reibungslosen Ablauf – oder willst du, dass die Küstenpiraten hier auftauchen? Du weißt sehr gut, dass wir sie mit unseren Lieferungen beschwichtigen und von für uns alle schmerzhaften Dummheiten abhalten." Vivan nickte geistesabwesend. Ja, diese verdammten Kerle.

Pesch gab keinen Laut von sich, er nickte nur bestätigend: "Also – sorge dafür, dass die Ware ausgeliefert wird, suche diesen verdammten Drachen und flöße ihm Vernunft ein!"

Peschs Stimme blieb verhältnismäßig ruhig – was umso schlimmer war, denn Vivan kannte die Stimmlagen seines Gegenübers nur zu gut. Pesch sprach mit tödlichem Ernst. "Vielleicht will dir wieder jemand den Drachen abspenstig machen – oder Keleran ist im Streik?" Pesch grinste kalt. Seine Augen strahlten eine insektenartige Gelassenheit aus. Die Geste war so künstlich wie die Fingernägel seiner Frau. "Nun, gut das wir uns verstehen – sorge dafür, dass die Ware auftaucht und dieser Hundsfott von einem Reptil noch dazu! Sehe es als einen wohlgemeinten Rat!"

Mühsam erhob sich Pesch, er wankte etwas. Vivan fühlte sich veranlasst aufzuspringen – doch Pesch winkte mürrisch ab. Er zupfte sein seidenes Gewand zurecht, das ihm unfreiwillig einen femininen Ausdruck verlieh, und verließ stöhnend den Holzverschlag. Die Stiege ächzte unwillig unter seinem Gewicht.

Vivan griff entschlossen nach seinem speckigen Mantel. Er wusste, was jetzt zu tun war. Er wartete einen Moment. Er beobachtete Pesch ungeduldig, der endlich mit seiner Leibwache abzog. Vivan steuerte seinen Schuppen an. Er lag etwas abseits auf einer Rampe, die weit in die Schlucht hineinreichte. Bärte von Pflanzen, die hier in dem Nebel vortrefflich gediehen, schwangen im Aufwind träge hin und her. "Licht!" Die Runen die ringsum, feinsäuberlich, in die Wände geschnitzt waren, reagierten augenblicklich und begannen fröhlich zu leuchten. Da war es – ein Apparat, ein Fluggerät. Monate hatte er gebraucht es zu bauen. Die Pläne waren unvollständig und der Dialekt kaum zu verstehen – dennoch er war zufrieden mit seiner Arbeit. Heute wäre dann wohl der Jungfernflug. Ängstlich stand er vor der Flugmaschine. Ehrfürchtig lief er ihre Linie ab und berührte behutsam sein Machwerk aus Holz und Metall. Grandios – endlich hatte er einen triftigen Grund es zu testen. Mit ein paar Handgriffen war das Gefährt aus der Deckenverankerung gelöst. Er betrat ehrfürchtig die Kanzel. Kleine Propeller befanden sich auf jeder Seite – ein Schaltpult verriet ihm den Zustand der Kettenspannung. Vivan schloss die Augen. Irgendwann kam der Punkt und man musste bei aller Annahme und theoretischer Vorbereitung das Gerät einfach einschalten. Vivan drückte den Hebel nach vorn. Die Propeller nahmen brummend und summend ihre Arbeit auf. Das Gefährt löste sich aus seiner Fesselung und flog geradewegs in den Nebel. Es war magisch. Das zwergische Gerät speiste seine Kraft aus Röhren, angefüllt mit einer unbekannten Substanz. Die Batterien knisterten und sprühten vereinzelt grelle Funken. Der Flug blieb ruhig, die Sicht besserte sich. Um Haaresbreite steuerte er das windige Gefährt an einer Felsmoräne vorbei, die überraschend schnell aus dem Nebel auftauchte. Unter ihm zeichnete sich gut sichtbar eine Felsschneise ab, ein klaffender Riss, der in einem Tal mündete. Der Blick reichte nicht bis hinunter auf die Sohle der Schlucht. Von überall her kamen neugierige Krähen angeflogen. Sie krächzten aufgebracht, hielten aber respektvollen Abstand zu dem seltsamen Neuankömmling.

Vivan wurde unruhig – er hielt ständig Ausschau, aber der Drache war nirgendwo auszumachen. Auch nach Stunden vergeblicher Suche blieb er unauffindbar. Gerade passierte er wankend das Schädeltal. Der Wind nahm zu und das Fluggerät schwang stark aus. Nur mit Mühe konnte Vivan sich halten. Geröll fiel von oben herab. Ein Stein, scharf wie eine Klinge, bohrte sich durch seine Überdachung und zerriss die mit Flicken übersäte Plane lautstark. Vivan betrachtete den scharfkantigen Steinzapfen fassungslos. Sein Gewicht zog die Kanzel ein ganzes Stück hinab. Vivan versuchte gegenzusteuern und an Höhe zu gewinnen, doch das klaffende Loch in der Flügelplane verminderte den Auftrieb. Vivan packte den Brocken und versuchte ihn hinauszuwerfen, was ihm nach einiger Anstrengung auch gelang, doch sein Weg nach unten blieb unaufhaltsam. Krähen begleiteten seinen Sinkflug, sie schienen seine Situation richtig einzuschätzen und krächzten schadenfroh über seine amateurhafte Darbietung. Die Lenkung setzte aus, eine Führungskette war gerissen. Er war dem Wind nun voll und ganz ausgesetzt, eine Kontrolle gab es nicht mehr. Wie ein Blatt im Wind strauchelte das Gefährt führungslos hin und her. Das Vordere wendete sich nach oben, bald darauf senkte sich die Spitze ab und es ging rasant hinunter ins Tal. Der Boden war nur zu erahnen, da der kriechende Bodennebel sehr dicht war und den Untergrund für das Auge gnädig abschirmte. Vivan hielt den Atem an. Er krallte sich verzweifelt an die Armaturen und erwartete jeden Moment am Boden zu zerschellen. Genau in diesem Moment der Todesangst tauchte ein Schatten aus dem Nebel, ein Rauschen zischte vorbei. Etwas ergriff das abstürzende Fluggerät, denn augenblicklich stoppte der rasante Sturz. Vivan wurde durch den plötzlichen Stoß beinahe aus der Kanzel geschleudert. Mit gestreckten Armen hing er hinaus. Er baumelte wie ein Stück nasser Wäsche an einer Leine, die Tiefe des Abgrunds, die unter ihm gähnte, konnte er nicht begreifen. Endlich, nach endlosen bangen Minuten, berührten seine Füße festen Boden. Er zitterte, die Flugmaschine schwebte über seinen Kopf und verschwand funkensprühend im dichten Waschküchen Nebel.

Vivan atmete aus. Er zitterte immer noch am ganzen Leib. Mühevoll gewann er seine Körperspannung zurück. Wo war er? Im Schädeltal. Es war kalt, der Wind pfiff durch seine schweißnasse Tunika. Vivan war sich bewusst – die Rettung verdankte er seinem Drachen, doch warum war er so einfach wieder verschwunden? Vivan hörte in der Ferne ein Krachen. Sein Fluggerät war wohl so eben an der gegenüberliegenden Felswand zerschellt. Mühsam tastete er sich vor, der Nebel war immens, die Sicht war gleich null. Von Zeit zu Zeit tauchte eine Felsstele aus den Wolken. Bedrohlich ragten sie auf – sie schienen von Menschenhand geschaffen, einige dieser Steinriesen wiesen seltsame Einkerbungen auf, die einer Schrift nicht unähnlich waren. Ein Weg breitete sich vor Vivan aus. Der Nebel wich etwas und gab den Blick frei auf eine Anhöhe an dessen Ende sich ein Einschnitt in der Felswand befand. Ein Höhleneingang. Vivan stolperte. Hier lagen Fässer und Kisten, alle sehr verwittert, teilweise in sich zusammengebrochen, was darauf schließen ließ, dass sie schon sehr lange hier lagerten.

Vivan erkannte einige der Kisten, sie stammten eindeutig von seinen illustren Kunden. "Pesch Handelsland" stand schwerlich lesbar auf einer der überwucherten Kisten. Verdammt, er hatte wirklich ein Wörtchen mit seinem getreuen Boten zu reden. Vivan wurde unwohl, jeder weitere Schritt förderte weitere Kisten zu tage. Hier lag ganz offensichtlich Ware der letzten Monate – das hieß die Piraten waren ganz unweigerlich wieder nüchtern und nüchterne Piraten waren mehr als gefährlich für den städtischen Frieden. Vivan erreichte endlich den Höhleneingang. Überall türmten sich die Schädel. Es waren auf den ersten Blick nur menschliche Gebeine, die sich hier zu einer massiven Wand auftürmten. Aber bei näherem Hinsehen fand er auch Schädel von Zwergen und die Gebeine von den viel seltneren Elfen. Sie waren gut unterscheidbar in ihrer Ausprägung, insbesondere was die Ohren anging. Vivan war sich gewiss, er betrat einen Friedhof von Generationen. Der Name dieser Schlucht war nicht mehr rätselhaft eher ganz offensichtlich – plausibel. Langsam bahnte er sich einen Weg durch die Gebeine, er ängstigte sich nicht vor den Überresten der zahllosen Toten, vielmehr drang er immer tiefer in die Höhle ein. Sie war geräumig, fast wie ein Felsendom. Von überall her drang Licht auf den vielschichtigen und unebenen Knochenboden der Höhle. Es roch unangenehm und stellenweise gab es ganze Haufen von einem undefinierbaren Kraut, das Stroh ähnelte. Allerlei Getier wimmelte in den Hügeln aus Gräsern und getrocknetem? – Kot? Vivan sah forschend hinauf. Er musterte die Umgebung ganz genau. In der Mitte der unterirdischen Kammer entdeckte er über sich eine kreisrunde Öffnung, hoch oben im Felsgestein. Ein gähnender Mund an dem schwere, grauen Wolken vorbeizogen.

Vivan schmunzelte. Ein Geräusch riss ihn aus seiner nachdenklichen Stille. Da lag es. Ein bronzefarbender Lindwurm gebettet auf Stroh. Sein Kopf erhob sich majestätisch. Bedrohlich überragte das Reptil den überraschten Händler. Sein Kopfschmuck, bestehend aus einem Fächer aus Hornspitzen, reichte beinahe bis an die Decke der geräumigen Höhle. Diese Knochenkrone unterstrich noch seine adlige Haltung zusätzlich. Die blauen Augen fixierten Vivan, der ganz still stehen blieb und sich voller Bewunderung nicht mehr rührte. Das Wesen war voller Anmut und Schönheit. "Nun, mein Freund, es hat ja nicht lang gedauert bis du dich auf den Weg gemacht hast." Vivan erkannte die Stimme sofort – sie dröhnte durch die felsige Halle und ließ Fledermäuse aufschrecken. Es war die warme Stimme seines Schützlings und Freundes Keleran. Vivan nickte verhalten, er konnte den Blick nicht von dem Drachenweibchen abwenden, das sich entspannt ausstreckte um sich auf die goldenen Eier zu legen, die feinsäuberlich angehäuft direkt vor ihr im Nest ruhten.

"Ja, – du siehst es richtig, ich werde tatsächlich Vater!"

Stolz schritt Keleran zu seinem Weibchen. Zärtlich breitete er seine Flügel aus und schirmte die ersten Regentropfen, die von oben hereindrängten, von seinem Gelege ab.

Vivan setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht verriet Erstaunen, er lächelte von Zeit zu Zeit geistlos.

"Es ist unglaublich, wie ist das nur möglich? Nie hätte ich gedacht, dass so etwas geschehen kann."

"Ich auch nicht Herr – ich war genauso überrascht in dieser Riesenkanalisation einen Drachen zu finden, und noch dazu ein läufiges Weibchen. Ich hab sie gerochen, schon vor Wochen. Aber ich habe es falsch interpretiert, diese Fäkalien haben den Geruch übertönt und ich bin ein unerfahrener und…"

"Trotteliger!" ergänzte das Weibchen mit einem liebevollen Seitenhieb und grinste dabei zum Verlieben.

"Und trotteliger Drachenjüngling!" bestätigte Keleran.

"Und die Kisten? Ich meine, Deine Arbeit."

"Arbeit?" Die Drachen sahen sich betroffen an.

"Ich meine den Stoff für die Piraten?" Vivan sah die beiden Geschöpfe herausfordernd an.

"Leider – ich hatte anderes zu tun, du verstehst?" Kelerans Blick pendelte verschwörerisch zwischen ihm und seinem Weibchen.

Vivan stöhnte – bei allem was ihm lieb war, aber das war eine Katastrophe. Die Piraten waren in der Zwischenzeit nüchtern wie nie zuvor. Die Gilde war eindeutig eidbrüchig geworden, hatte versäumt die Piraten mit Peschkamer zu versorgen. Das bedeutete ganz ohne Zweifel: Krieg. Ihre neu gewonnene Kraft und Motivation würden sie ohne Umscheife an der Stadt auslassen und insbesondere an der Handelsgilde. Bilder von Zerstörung und Gewalt spulten sich vor Vivans innerem Auge ab und ängstigten ihn.

"Herr ihr seid ganz weiß geworden!"

"Allerdings!" Vivans Stimme klang ungewohnt schrill. Diese Hiobsbotschaft und die Hitze ließen ihn fast kollabieren – denn ringsum lagen Felsen, die rot glühten und eine ungeheure Wärme abstrahlten. Vivan kannte diese Vorgehensweise. Felsen wurden durch das Drachenodem erwärmt und gaben die Hitze nach und nach ab, so war ein natürlicher Ofen entstanden.

"Ganz ruhig!" Keleran war herangetreten und fächerte dem verzweifelten Vivan frische Luft zu.

"Der Mensch muss übrigens sterben! Das weißt du hoffentlich!" Das Weibchen hatte sich wieder aufgerichtet und streckte ihren langen Hals bedrohlich nach vorn. Ihr Atem kam näher und es roch betäubend nach halbverdautem Fleisch.

Keleran schien genauso erschrocken über die Äußerung seiner Gefährtin wie Vivan selbst. Lange sahen sich die Freunde prüfend an. "Er wird uns nicht verraten!"

Der mächtige Kopf des Weibchens war noch näher gekommen. Misstrauisch beäugte sie den Fremdling, der vor ihr immer kleiner wurde und sogar zu zittern begann.

"Er hat mich großgezogen und ich werde es nicht zulassen, dass du ihm ein Leid antust! Fairlenor – glaube mir, er ist absolut vertrauenswürdig." Das Weibchen fauchte unwillig. Der Geruch ließ Vivan fast in Ohnmacht fallen.

Keleran sah seine Gefährtin flehend an.

"Ich stehe in seiner Schuld – übrigens Schuld, ich weiß was zu tun ist!" Kelerans Stimme klang enthusiastisch.

Vivan richtete sich wieder auf, dieser Stoß aus den Nüstern des Weibchens hatte ihn glatt umgeworfen.

"Was, was meinst du?" fragte das Weibchen misstrauisch.

"Die Piraten, um sie werde ich mich kümmern!" Kelerans Stimme klang fest und entschlossen.

Der Drache spreizte seine mächtigen Flügel und mit einem lautlosen Hüpfer flog er empor. Vivan sah ihm ratlos nach, während sich der schlanke Körper des Lindwurms zielsicher einen Weg durch die Deckenöffnung bahnte.

"Was soll das?" Vivan wurde erst jetzt gewahr, dass er mit dem Weibchen allein in der Höhle stand.

"Er bleibt dir nichts schuldig Menschlein!" zischte Fairlenor hervor, bedrohlich ragte sie vor ihm auf.

"Er wird die Pläne der Piraten vereiteln – niemand wird überleben." Ihre blauen Augen suchten den Blick des Kaufmanns. "Alles wird brennen!"

Der Abend dämmerte. Der Vorposten der Küstenpiraten schrie wie von Sinnen als sich die rätselhaften Schatten am Himmel abzeichneten.

Ein Feuer kam über sie. Die Menschen gingen auf wie Fackeln. Asche regnete es und ein beißender Nebel nahm ihnen den Atem. Noch eh sie wussten, wen, von ihren Kumpanen sie gerade einatmeten oder was über sie hinwegfegte, erloschen sie im Augenblick ihrer Zweifel. Eingeäschert an Ort und Stelle. Viel wurde über dieses Drama geschrieben – doch niemand der Überlebenden konnte mit Gewissheit sagen, was an diesem Abend den Tod brachte. Nur ein Zischen gefolgt von einer Flammensäule, mehr wurde nicht beobachtet. Keleran leistete ganze Arbeit. Nur wenige überlebten dieses Flammeninferno. Der Angriff erfolgte in drei Schüben. Dazwischen suchte sich der Drache, in einiger Entfernung, einen Aussichtpunkt und besah sich die Arbeit seines Drachenodems aus sicherer Ferne.

Verheerend wütete das entfesselte Feuer in der Stadt der Piraten. Dabei handelte es sich eigentlich um keine Stadt, dem Sinne eher ein Umschlagplatz, an dem mehr und mehr Leute sich mit der Zeit ansiedelten. Die wild zusammengezimmerten Baracken brannten wie Zunder. Ein gefundenes Fressen für den zerstörerischen Speichel der Lindwürmer.

Keleran war zufrieden. Nach dem dritten Angriff ließ er von der Stadt ab.

Der Feuersturm übernahm jetzt den Rest. Einigen versprengten Gruppen von Überlebenden jagte er am Strand hinterher bis auch sie wie Strohpuppen in Flammen aufgingen. Das Flehen und die erbärmlichen Schreie rührten ihn nicht an. Er war jetzt Jäger – ganz in seinem Element. Nach menschlichen Maßstäben war es grausam was er tat, doch für einen Drachen ein wahres Vergnügen – seine uralten Instinkte liefen auf Hochtouren. Vivan ahnte was geschah und auch er nahm diesen Holocaust ungerührt hin, es war wie es war, wenn nicht sie, dann würde Friedstatt auf kurz oder lang in Flammen aufgehen, und vielleicht Freunde oder sogar geliebte Menschen das zeitliche segnen. Es war bloßes Kalkül. Nicht einer würde die Piraten vermissen, die in der Vergangenheit marodierend die Küsten unsicher machten und Städte wie Friedstatt regelmäßig belagerten um sie zu erpressen. Abschaum, mehr nicht. Hauptsache war, dass wirklich niemand überlebte – und wenn überhaupt, dann nur eine kleine, nichtige Gruppe, von der in Zukunft keine Gefahr mehr ausging.

"Es ist getan!" Keleran setzte Vivan am Steg nahe seiner Baracke ab. Es war bereits dunkel und die Sterne funkelten blass und starr am Himmel. Vivan nickte stumm.

"Herr, ich muss jetzt gehen!" Keleran sah zu seinem Meister, er beugte sich herunter, sodass er ihn mit seiner breiten Schnauze beinahe berührte. In einem Anflug von Sympathie umarmte Vivan sein langes Mundwerk. Keleran lächelte und schloss seine großen gelben Augen. Er ließ seinen Herrn diese unerwartete Gefühlsduselei durchgehen. "So, mein Freund – ich will dich auch gar nicht weiter aufhalten, du hast jetzt andere Verpflichtungen!" Mit ernstem Blick wich er ein paar Schritte zurück.

Der Drache nickte nur. Er lächelte fortwährend, auch ohne Worte verstanden sich die Gefährten. Die Stimmung war bedrückt – beide waren traurig. Keleran öffnete entschlossen seine mächtigen Flügel.

"Geh bevor dich noch jemand sieht – offiziell bist du verschwunden und bleibst es auch, bis auf weiteres."

"Trotz allem, wenn du Hilfe brauchst rufe mich!"

Der Drache nickte. Er ließ dieses Angebot kommentarlos stehen und hob sich mit langsamen Flügelschlag lautlos in den Nachthimmel.

Stimmen wurden laut, allerlei Volk drängte an den Rand der Klippe. Die Feuer waren in der Ferne gut auszumachen. Die Piratenstadt brannte und viele Schaulustige fanden sich hier an den Klippen ein. Sie kicherten und lachten, ausgelassen feierten sie den Tod, dieser Bürde – denn nichts anderes konnten diese ausufernden Feuer am Horizont bedeuten.

Vivan stimmte nicht mit ein, in diese allgemeine Fröhlichkeit. Er verzog sich beinahe unsichtbar in seinen Holzverschlag. Schenkte sich ein letztes Glas Meschlar ein und prostete aus dem Fenster. Die Feuer glitzerten und Rauchfahnen stiegen grau in den nächtlichen Himmel – so wie es aussah, musste er sich auf kurz oder lang eine neue Arbeit suchen.

Geschichten aus Friedstatt Band 1: Glutherz

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