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DIE TOCHTER DES
SCHORNSTEINFEGERS

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»Es wird ein Mädchen!«

Ich kann mir ganz genau vorstellen, wie meine Mutter damals mit 26 Jahren und hochschwanger dieses Ultraschall-Ergebnis stolz wie Lotte ihren Freundinnen verkündete. Ein Mädchen! Zum Glück. Vermutlich träumte sie schon davon, wie wir später zusammen shoppen und zur Kosmetikerin gehen würden. Wie wir uns zusammen gegen Papa und die gesamte Männerwelt verschwören würden, weil wir Frauen eben einfach zusammenhielten. Aber daraus wurde leider nichts.

Die erste Überraschung legte ich schon mit meiner Geburt hin. Ja, ich wurde ein Mädchen. Aber ich ließ auf mich warten. So kam ich am 10. Juni 1988 zwei Wochen zu spät in Oschatz auf die Welt. Vermutlich wurde ich deshalb ein so ungeduldiger Mensch, weil ich seit meiner Geburt versuche, die zwei verpassten Wochen wieder aufzuholen. Meine Mutter hatte schon gar nicht mehr mit mir gerechnet. Denn sie stand an diesem Tag bereits früh morgens mit Lockenwicklern auf dem Kopf im Garten und pflückte nichts ahnend Süßkirschen. Diese wanderten allerdings mehr in ihren Mund als in den Korb, was ich wiederum sehr zu schätzen wusste. Offensichtlich machte mir die Süße dieser Früchte dann doch Lust auf mehr, auf das Licht der Welt. Denn plötzlich platzte Mamas Fruchtblase und Papa musste sie so wie sie war ins Krankenhaus fahren. Und ganz ehrlich: Welche Frau bringt schon gern mit Lockenwicklern auf dem Kopf ein Kind in die Welt? Schlimm genug, mit Lockenwicklern dem Postboten zu begegnen. Aber bei einer Geburt, bei der die Frau eh schon vor lauter Schmerzen die Kontrolle über ihren gesamten Körper und dessen Ausscheidungen verliert, da sollten doch wenigstens die Haare schön sitzen.

Zur Wiedergutmachung ließ ich meine Mutter dafür nicht allzu lange leiden. Ich rutschte prompt auf die Welt und überraschte als nächstes mit meinem Gewicht. Denn ich war mit knapp 4000 Gramm ein richtig dicker Wonneproppen. Papa kippte sich auf den Schrecken erst einmal einen hinter die Binde und stieß mit seinen Kollegen an: Auf seine Tochter! Auf die Tochter des Schornsteinfegers!

Allerdings war und wurde ich nie das Mädchen, das sich meine Mutter vielleicht gewünscht hatte. Vielmehr der Sohn, der niemals folgte. Denn ich blieb ein Einzelkind. Doch da ich es vom ersten Atemzug meines Lebens an immer allen recht machen wollte, habe ich schon früh versucht, beide Rollen zu erfüllen: Ich wollte zugleich Lieblingstochter und Lieblingssohn sein. Zwei in einem. Leider ging das völlig nach hinten los. Denn obwohl ich ohne Geschwister aufwuchs und völlig konkurrenzlos um die Liebe meiner Eltern buhlen konnte, wurde ich nie zu dem Augenstern, um den sich die volle Aufmerksamkeit liebender Eltern normalerweise dreht. Aber fangen wir ganz von vorne an:

Bis zu meinem zweiten Lebensjahr wohnte ich zusammen mit Mama und Papa bei Oma und Opa im Dachgeschoss ihres Dreiseitenhofes in Ganzig. Erst als sich mein Vater als Bezirksschornsteinfeger mit seiner eigenen kleinen Firma selbstständig machte, reichte die Kohle – im wahrsten Sinne des Wortes – für ein kleines Häuschen in Grimma, das wir zu dritt bezogen. An die ersten Jahre nach meiner Geburt kann ich mich verständlicherweise nicht erinnern. Mir wurde allerdings berichtet, dass ich am liebsten im Hof saß und auf hölzernen Wäscheklammern herumkaute. Scheinbar steckte ich schon von klein auf alles gern erst einmal in den Mund. Aber wie gesagt, das sind nur Erzählungen, auf die ich mich hier berufe. Woran ich mich tatsächlich zu erinnern glaube, ist, dass ich auch schon als Zweijährige gern weiterhin bei Oma und Opa auf dem Hof gelebt hätte. Denn ich war – und bin bis heute – völlig in meine Großeltern vernarrt. Aber mit zwei Jahren hatte ich eben noch kein Mitspracherecht. Also zogen wir um und ich tat – wenigstens in meinen ersten Lebensjahren – das, was alle taten: sabbern, in die Windeln kacken, Brei essen, schreien und an Brüsten saugen. »An Brüsten saugen« habe ich später noch einmal ausprobiert. Und auch »Schreien« habe ich bis heute als liebgewonnene Angewohnheit beibehalten.

Doch sobald ich laufen und später sprechen konnte, tat ich für Mädchen eher untypische Dinge. Aus dem einfachen Grund, weil das, was Jungs so machten, irgendwie interessanter war und viel mehr Spaß machte. Und ich rede jetzt nicht davon, im Stehen zu pinkeln. Obwohl auch das mehr Spaß macht und nicht so sehr die Oberschenkelmuskulatur beansprucht. Ich spielte lieber wie ein Junge und verbrachte schon in der Kinderkrippe die meiste Zeit in der Bauecke. Und zwar am liebsten allein. Ich wollte nicht mit anderen Kindern spielen. Schon gleich gar nicht mit Mädchen und ihren bescheuerten Puppen. Wenn ich schon jemanden großzügigerweise in mein Freizeitprogramm integrierte, dann noch am ehesten einen männlichen Gegner, mit dem ich wenigstens Autorennen fahren konnte. Das hieß im Klartext, kleine Spielzeugautos über die wildesten Rampen zu schießen, die wir natürlich selbst gebaut hatten. Das Ganze war dann auch kein Spiel mehr. Denn alle Spiele, in denen es um Geschwindigkeit ging, sind für mich bis heute keine Spiele, sondern knallharter Wettkampf. Und das bedeutete: Ich muss gewinnen. Damals wie heute. Im seltenen Fall, dass ich ein Rennen verlor, habe ich den männlichen Konkurrenten kurzerhand verhauen. Ich weiß, das war nicht richtig. Und ja, ich bin eine schlechte Verliererin. Aber ich musste doch wenigstens meine Ehre verteidigen. So kam es auch, dass ich meistens in aller Ruhe allein spielen konnte. Denn die Mädchen fanden mich komisch und die Jungs hatten schon bald Angst vor mir. Vielleicht war es auch andersherum? Da bin ich mir bis heute nicht sicher. Allerdings hat sich daran auch nicht so viel geändert. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich den Angstfaktor von damals heute besser nachvollziehen kann. Denn ich glaube, es lag auch stark an meiner Frisur, dass sich andere Kinder vor mir fürchteten. Wenn ich mir jetzt Kinderbilder ansehe, bekomme ich selbst Angst vor mir, denn ich trug über Jahre hinweg eine Vokuhila. Warum das so war, kann ich nicht erklären. Diese Frisur war selbst laut Wikipedia nur von 1982–1987 als trendy zu bewerten. Ich vermute also, es war ein stummer Protest gegen meine Mutter, die mir bestimmt sehr gern tolle Mädchenfrisuren geflochten hätte. Oder die Rache meiner Mutter, die mir mit diesem Haarschnitt heimzahlen wollte, dass ich nicht das liebreizende Mädchen wurde, das sie sich eigentlich gewünscht hatte.

Die andere Sache, an die ich mich aus der Kinderkrippenzeit noch erinnere, ist der Mittagsschlaf. Der war Pflicht. Alle Kinder mussten mittags schlafen. Gehorsam und so. Und obwohl bis heute Schlafen eines meiner größten Talente und liebsten Freizeitbeschäftigungen ist, tat ich in diesem scheiß Schlafsaal kein Auge zu. Ich hatte zu große Sorge, im Schlaf angegriffen oder gar vergiftet zu werden. Also hielt ich stets mit leicht geöffnetem Auge Wache. Ja, meine Vertrauensprobleme haben schon sehr früh eingesetzt. Das erklärt wohl auch, warum ich bis heute keinen wirklich großen Freundeskreis habe. Ich vertraue nur wenigen Menschen, denen aber dafür zu hundert Prozent.

Ich vertraue nur wenigen Menschen, denen aber dafür zu hundert Prozent.

Auch außerhalb der Kinderkrippe war ich am liebsten für mich allein. So dachte ich nicht im Traum daran, mich mit anderen Mädchen zum gemeinsamen Basteln oder Puppenfrisieren zu verabreden. Nein, ich tat andere und – zugegeben – komische Dinge. Einmal brachte ich eine tote Katze mit nach Hause. Ich hatte den festen Vorsatz, diese wieder gesund zu pflegen. Natürlich tat ich das heimlich hinter dem Rücken meiner Eltern, denen allerdings irgendwann der seltsame Geruch aus meinem Kinderzimmer in die Nase stieg. Die Katze verschwand im Biomüll – schneller als ich schauen konnte. Dabei hatte ich schon deutliche Fortschritte bezüglich ihrer Genesung erkennen können. Um meine Studie an toten Tieren trotz elterlicher Verbote fortzusetzen, buddelte ich kurzerhand meinen toten Hamster wieder aus. Damit mir die Problematik mit dem Geruch nicht erneut einen Strich durch die Rechnung machte, trennte ich dem Hamster den Kopf ab und kochte diesen in Mamas Suppentopf ab (was sie bis heute übrigens nicht weiß). Sinn und Zweck dieser Sektion war es, den Kopf geruchsneutral für die Ewigkeit zu konservieren. Ich wollte eigentlich nur das Skelett des Hamsterkopfes behalten und dieses zu meinen Milchzähnen in die Schmuckschatulle unter meinem Bett packen. Warum ich das tat? Ich vermute, dass ich von klein auf Schwierigkeiten hatte, mich von geliebten Tieren, später auch Menschen, zu trennen. Ich konnte schon immer ganz schlecht loslassen. Leider wurde aus dem Hamsterkopf für die Ewigkeit vielmehr Knochenbrei für die Mülltonne. Und in meinem Kopf schrieb ich gleichzeitig den Traumberuf Tierärztin wieder ab.

Mit sieben Jahren wurde das Leben etwas ernster. Ich wurde in die Grundschule in Hohnstädt eingeschult und damit auch – gezwungenermaßen – etwas sozialer. Allerdings war ich nach wie vor kein großer Fan von Gruppendynamik und an schulischen Inhalten auch nicht sonderlich interessiert. Doch ich saß meine Zeit brav ab und lernte dabei, wenn auch eher zufällig, lesen und schreiben. Etwas aufregender ging es zwischen den Unterrichtsstunden auf dem Pausenhof zu. Da mir meine Eltern nahelegten, mehr Kontakt zu anderen Kindern zu haben, gründete ich im Handumdrehen eine Schul-Gang. Natürlich war ich die Anführerin und nur die schönsten und stärksten Jungen wurden in meine Gang aufgenommen. Keine Mädchen, das versteht sich von selbst. Es gab Aufnahmeprüfungen, Mutproben, die bestanden werden mussten.

Meistens bestanden diese Prüfungen darin, die einzige Schaukel auf dem Pausenhof, die an einem Baum befestigt war, zu verteidigen. Niemand durfte die Schaukel benutzen, außer uns: der Gang. Damit wollte ich sicherlich nicht gemein sein. Nur eben mein Revier markieren. Außerdem waren wir eine gute Gang. So eine Art sächsisches »A-Team«, das Menschen in Not half. Und notfalls eben auch mit Gewalt. So kam es, dass, sobald es zu Ungerechtigkeiten in der Klasse kam, ich in meiner Funktion als Gang-Anführerin aufgesucht wurde. Denn ich, Melanie Müller, war bekannt dafür, kurzen Prozess zu machen. Diesen Ruf hatte ich der Sache mit dem gemeinen Klaus zu verdanken, der unvernünftigerweise der dicken Monika ihren Füller geklaut hatte. Grundlos. Und grundlose Ungerechtigkeiten habe ich noch nie ertragen. Also bat ich Klaus sehr eindringlich, den Füller umgehend zurückzugeben. Erst habe ich ihn mündlich verwarnt. Doch als er nicht hören wollte, sah ich mich gezwungen, seinen Frontzahn mit nach Hause zu nehmen. Natürlich bekamen meine Eltern davon schnell Wind, in Form einer Verwarnung vom Schuldirektor höchstpersönlich. Aber Monika hatte ihren Füller zurück und nie wieder Probleme mit Klaus. Das war mir die Woche Hausarrest schon wert gewesen.

Und grundlose Ungerechtigkeiten habe ich noch nie ertragen.

Nach der Schule verbrachte ich eher wenig Zeit zu Hause. Papa war als Bezirksschornsteinfegermeister mit eigener Firma ständig auf Achse. Mama, die eigentlich Pädagogik studiert hatte, gab ihren Job als Kinderheimleiterin zwar schon nach meiner Geburt auf, aber trotzdem bekam ich sie selten zu Gesicht, da sie Papa im Büro half. Irgendwie schien es mir, meine Eltern waren am liebsten dort, wo ich nicht war. Also musste ich mir Alternativen zu einer Familie suchen. Freundinnen hatte ich ja keine und ehrlich gesagt wollte ich auch keine. Vermutlich lag das daran, dass die Mädchen in meiner Umgebung alle auf Pferden reiten wollte. Ich dagegen wollte Pferde lieber essen. So kam es, dass ich die meiste Zeit mit dem Nachbarsjungen abhing, mit meinem besten Kumpel Max.

Max und ich sahen uns jeden Tag. Wir bastelten zusammen an Seifenkisten, schnitzen Pfeil und Bogen oder schwangen uns wie Tarzan und Jane im Park von Grimma von Ast zu Ast. Wir spielten auch gern »etwas kaputt machen«, »etwas anzünden« oder »Hühner besoffen machen«. Letzteres machte am meisten Spaß. Dazu tunkten wir Brot in Reste von Bier- oder Schnapsflaschen, die wir auf Hinterhöfen zusammengesammelt hatten. Die getränkten Brotkrumen verfütterten wir dann an Hühner, die es in unserer Kleinstadt wie Sand am Meer gab. Allerdings hat meistens der Hahn alles allein gefressen, der dann rotzeblau durch die Gegend wankte und uns so zum Lachen brachte, dass ich mir einmal dabei sogar in die Hosen pinkelte.

Zwischen »kaputt machen«, »anzünden« und »abfüllen« absolvierte ich ganz vornehm Klavierstunden, die zu meinem Alltag gehörten, seitdem ich sechs war. Meine Eltern versuchten nämlich stets, vornehme Menschen zu sein und auch einen solchen aus mir zu machen. Daher sollte mir, ihrem einzigen Kind, eine akademische Erziehung samt anständiger Freizeitgestaltung zugute kommen. Allerdings kamen mir die Klavierstunden mehr und mehr wie eine lästige Unterbrechung meines abenteuerlichen Alltags mit Max vor. So beschloss ich eines Tages im Alter von acht Jahren, das Klavierspielen wieder an den Nagel zu hängen, und kündigte diese Entscheidung auch umgehend meinem Vater an. Er reagierte prompt. Papa kehrte mir wortlos den Rücken zu und verließ das Zimmer. Als er wieder zurückkam, hatte er eine Axt bei sich. Die drückte er mir in die Hand und sagte: »Wenn du nicht mehr spielen willst, dann hack dein Klavier zusammen und trag es selbst raus.« Von diesem Tag an habe ich weiterhin brav und ohne Rebellion in die Tasten gehauen. Und tatsächlich, mir blieb immer noch genug Zeit für Max und betrunkene Hühner.

Ich hatte mich inzwischen von der Obduktion von Tierkadavern distanziert, interessierte mich aber zunehmend für den menschlichen, lebendigen Körper. Auch und vor allem sehr für den männlichen. Und Max zeigte mir alles, was ich sehen wollte. Dasselbe galt natürlich auch umgekehrt. Max und ich machten Doktorspielchen und probierten alles Mögliche zusammen aus. Zum Beispiel, in welchen Körperöffnungen ein Bleistift verschwinden konnte. Mit etwas über acht Jahren hatte ich das Gefühl, dass es an der Zeit war für meinen ersten Kuss. Und diesen wollte ich natürlich von Max. Also vereinbarte ich mit ihm kurzerhand einen Termin für dieses besondere Ereignis. Solche Dinge habe ich schon immer gern selbst in die Hand genommen und strikt geplant. Vom ersten Kuss bis zum ersten Mal. Da wollte ich nichts dem Zufall überlassen und mich außerdem ausgiebig darauf vorbereiten können. Max sagte mir den Termin, am Freitagnachmittag im Park von Grimma am zweiten Baum von links, zwar zu, tauchte aber einfach nicht auf. Er kniff auch noch ein zweites Mal, bis ich mich eines Tages gezwungen sah, ihn zu überlisten. So kam es eines Montags nach der Schule zu einem Überraschungsangriff meinerseits. Ich überwältigte Max von hinten, stürzte ihn zu Boden und holte mir meinen ersten Kuss mit aller Gewalt. Zugegeben, es war eine regelrechte Kuss-Vergewaltigung und fühlte sich auch genauso an. Wir fanden es beide furchtbar eklig. So eklig, dass wir danach sofort ein paar Käsebrote verdrückten, um den Geschmack wieder von den Lippen zu kauen. Nach diesem Tag ließen wir das mit dem Küssen für die nächsten zwei bis drei Jahre sein und konzentrierten uns wieder auf »Sachen kaputt machen«. Das konnten wir einfach am besten.

Solche Dinge habe ich schon immer gern selbst in die Hand genommen und strikt geplant.

Max war also mein bester Freund, meine beste Freundin und mein erster Liebhaber in einem. Nur an den Wochenenden kehrte ich ihm regelmäßig den Rücken zu. Wochenende war Familienzeit. Für mich bedeutete das: Oma und Opa besuchen! Und das war jedes Wochenende schöner als Weihnachten und Geburtstag zusammen. Noch schöner als ein Wochenende bei Oma und Opa war nur, ganze Ferien bei Oma und Opa zu verbringen. Und das kam relativ oft vor. Nämlich immer dann, wenn meine Eltern – mal wieder – allein in den Urlaub fuhren. Während also Mama und Papa China, Amerika oder Südafrika entdeckten, eroberte ich den Dreiseitenhof meiner Großeltern in Ganzig. Und damit konnte kein exotisches Land dieser Welt mithalten. Denn dort gab es Hühner, Katzen und sogar Ochsen. Letztere durfte ich allerdings nur mit Abstand durch das Katzenloch in der Tür beobachten. Alles dort war abenteuerlich und heimelig zugleich. Bei Oma fühlte ich mich immer sehr geborgen. Wenn ich Sorgen hatte, egal, ob mit acht oder mit 18 Jahren: Oma konnte ich alles erzählen. Sie sagte meist nicht besonders viel zu meinen Nöten. Nein, meine Oma war keine Plaudertasche. Aber das, was sie sagte, hatte Hand und Fuß. Sie schaffte es jedes Mal, mir mit wenigen Worten den richtigen Ratschlag zu geben. Ich liebte und bewunderte meine Oma von klein auf. Sie war eine hübsche Frau. In ihren besten Zeiten muss sie die Männer ganz sicher in den Wahnsinn getrieben haben mit ihrer Schönheit. Aber Opa hatte sie bekommen. Bestimmt auch deshalb, weil er so geschickt mit seinen Händen war. Denn mein handwerkliches Talent habe ich ganz sicher von Opa geerbt. Alles, was es zu lernen gab, brachte er mir bei. Sobald ich Samstagmorgen bei Oma und Opa in der Wohnstube stand, teilte ich Opa – noch bevor ich überhaupt Hallo gesagt hatte – meine neueste Bastel-idee mit. Egal, ob es ein Hamsterrad oder ein Vogelhäuschen war, mit Opas Hilfe konnte ich alle meine Wünsche in seinem Bastelkeller in die Tat umsetzen. Und während wir sägten, bohrten, klebten oder hämmerten, kochte Oma, was ich mir gewünscht hatte. Meist also etwas Blutiges oder zumindest Deftiges. Denn ganz im Gegensatz zu anderen Kindern in meinem Alter verabscheute ich Schokolade und Süßigkeiten. Sobald ich laufen konnte, klaute ich Oma die Rouladenfüllung vom Küchentisch. Ich liebte diese Masse aus Speck, Zwiebeln und Senf. Überhaupt mochte ich alles, was fettig, herzhaft oder scharf war. Milchreis, Grießpudding und anderer Baba-schmatz konnten mir gestohlen bleiben. In Ausnahmefällen aß ich auch Linsen, Spinat und Fischstäbchen. Aber am liebsten wollte ich immer nur Fleisch und Wurst. Herzhaft und handfest. Damals wie heute. So war auch meine Zuckertüte zur Einschulung nicht mit Süßigkeiten, sondern mit Bifi und Knackern gefüllt. Es war eine herrliche Zeit. Oma machte Wurst, Opa bastelte mit mir im Keller. Somit wurde jeder Tag auf dem Hof meiner Großeltern für mich zum Paradies auf Erden. Es war wie Urlaub vom Leben.

Leider kamen meine Eltern irgendwann auf die Idee, mich in den Schulferien in betreute Ferienlager zu stecken. Ich verstand überhaupt nicht, warum. Ich wollte nicht nach Südfrankreich oder Italien. Schon gleich gar nicht mit anderen Kindern. Ich wollte nach Ganzig, zu Oma und Opa, ihren Hühnern und Ochsen. Und zu Omas Wurstwaren. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. Kaum im Ferienlager gefangen, stellte mein Körper sofort auf Protest um. Ich verweigerte Nahrung und Schlaf. Aber wie sollte ich auch in einer Herde fremder Kinder zur Ruhe kommen? Da ich schon in der Kinderkrippe im gemeinsamen Schlafsaal kein Auge zubekommen hatte, war im Ferienlager überhaupt nicht an Schlaf zu denken. Auch tagsüber fühlte ich mich unwohl. Und das nicht nur aus Schlafmangel. Ich wollte nicht mit anderen Kindern spielen und heulte so lange, bis mich meine Eltern wieder abholen kommen mussten. Das passierte zwei Mal. Danach war die Sache mit den Ferienlagern endgültig abgeschrieben.

Aber was sollte ich tun? Ich vermisste Oma und Opa, Max und seit Neuestem auch meinen Hopseball »Willi«. Denn mit Willi fing ich an, meine Sexualität zu entdecken. Ich hopste auf Willi, um dieses unglaubliche Gefühl zwischen meinen Beinen zu erzeugen, das ich nicht so recht einordnen konnte. Fast war es mir unheimlich. Es fühlte sich so verdammt gut an, aber ich hatte keine Ahnung, was es war. Deshalb machte es mir auch ein bisschen Angst. Und da ich mich in diesem Fall irgendwie nicht mal Oma anvertrauen wollte, fragte ich Max, ob er Ähnliches schon erlebt hätte. Bei Max allerdings zeigte sich keine Regung, wenn er auf Willi hopste. Dafür aber sobald er sich auf mich legte und sich an mir rieb. Statt also wertvolle Lebenszeit in betreuten Ferienlagern mit gemeinsamen Liedernachmittagen zu verschwenden, entdeckte ich mit Max die Sphären unserer Körper bei kindlichen Doktorspielchen. Wir küssten uns, inzwischen auch mit Zunge, fummelten und rieben uns aneinander, was das Zeug hielt. Und zugegeben, das machte wirklich Spaß. Allerdings wusste ich nicht, warum mir Max immer an die Brust fasste. Denn da war nichts zu finden. Ich war flach wie ein Brett – und sollte es auch für die nächsten Jahre noch bleiben.

Ab und an kam es auch vor, dass meine Eltern tatsächlich Zeit für mich fanden. Und da ich betreute Ferienlager auch mit zunehmendem Alter vehement ablehnte, mussten wir sogar gemeinsam in den Urlaub fahren. Wir fuhren oft nach Mallorca, aber auch mal nach Österreich, in die Türkei, nach Kroatien, Tunesien oder Griechenland. In Griechenland gefiel es mir am besten. Ich spielte den ganzen Tag mit den Dorfjungen und lernte dabei im Handumdrehen Griechisch. Auf Platz zwei meiner Lieblings-Ferienziele rangierten Österreich und Bayern. Ich liebte die Berge und das Wandern von Kindesbeinen an. Das Tollste am Wandern war es, zusammen mit Papa den Berghang runterzukullern. Eine weitere sehr beliebte Vater-Tochter-Aktivität war das von uns erfundene »Kuhfladen-Hopping«. Das bedeutete, von Kuhfladen zu Kuhfladen zu springen. Wer zuerst daneben sprang, der hatte verloren.

Ich war und blieb ein Papakind. Mit Papa war es eben oft sehr viel lustiger als mit Mama. Wir gingen zusammen auf die Jagd, kneteten aus Fleischmassen in eigener Herstellung Wurst oder verbrachten ganze Nachmittage in der hauseigenen Sauna. Mama kam dahin auch ab und an mal mit. Allerdings konnte sie nie lange bleiben, wegen ihrer Herz-, Kreislaufschwäche. Ein Ausdruck, den ich als Kind nie so wirklich verstand. Übersetzt hieß das für mich nur, dass ich Mama in Ruhe lassen sollte. Ich dagegen liebte die Sauna und schwitzte immer meine 15 Pflichtminuten ab. Denn Papa bläute mir ein, dass ich dann später niemals krank werden würde. Und auch wenn ich ihm in sehr vielen Sachen heute leider widersprechen muss: In diesem Punkt hatte er recht. Ich habe ein Immunsystem wie ein Elefant und werde nie krank. Das war nicht immer gut. Denn nie krank zu sein, bedeutete auch, immer in die Schule gehen zu müssen. Und das war nach wie vor der Ort, an dem ich mich am wenigsten gern aufhielt.

Mit zehn Jahren war die Schonzeit endgültig vorbei. Von nun an blieb noch weniger Zeit für Wurstmachen, Kuhfladenhüpfen, Saunaschwitzen, Bastelstunden mit Opa oder Quatsch-machen mit Max. Denn ich kam an die Realschule in Grimma. Meine Noten aus der Grundschule hätten zwar gerade so für das Gymnasium gereicht, aber damit hätte man mir keinen Gefallen getan. Ich war einfach keine gute und noch dazu eine sehr faule Schülerin. So bissen meine Eltern in den sauren Apfel und gaben den Traum einer Akademiker-Tochter endgültig auf. Derweil drückte ich weiterhin eher desinteressiert die Schulbank und verfolgte das schulische Geschehen mit so wenig Engagement wie nur irgend möglich. Ein Spieler auf der Ersatzbank war das reinste Energiebündel im Vergleich zu mir. Aber die Schule wurde für mich immer unerträglicher. Auf der Realschule war ich nicht mal mehr Anführerin einer coolen Schul-Gang, sondern litt unter schrecklichen Fächern wie »Popgymnastik« und »Musik«. Ich hasste es, vorzusingen und auch vorzutanzen. Denn trotz meiner musikalischen Früh-erziehung setzte mein Rhythmusgefühl aus, sobald ich unter Beobachtung stand. Das einzige Fach, bei dem ich mitarbeitete und mich sogar freiwillig meldete, war Wirtschaft. Nicht dass mich dieser trockene Kram auch nur im Ansatz interessiert hätte. Aber der Lehrer, Herr Schmidtbauer, war einfach verdammt heiß. Ansonsten wehrte ich mich noch immer vehement gegen Gruppenarbeiten und zog es vor, alles allein zu machen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es allein besser zu schaffen. Ich vermute, das lag auch daran, dass ich mich in keiner Weise mit den anderen Mädchen vergleichen wollte – weder was unsere schulischen Leistungen betraf noch was unsere Körpermaße anging. Ich wurde zwar älter und schoss auch ein wenig in die Höhe, aber sonst änderte sich an meinem Körper nichts. Keine Brüste in Sicht. Von der fünften bis fast zur zehnten Klasse tat sich hier nahezu nichts. So war ich mit 15 Jahren immer noch flach wie ein Brett, während sich bei allen anderen Mädchen schon mindestens der Ansatz von Brüsten zeigte.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, es allein besser zu schaffen.

Im Turnunterricht zog ich mich in der hintersten Ecke um und beim Schwimmunterricht war ich regelmäßig krank. Oder ich behauptete, dass ich meine Tage hätte. Und das war nicht nur gelogen, sondern völlig an den Haaren herbeigezogen. Denn auch in dieser Hinsicht war bei mir noch nichts passiert. Ich hatte das Gefühl, die Pubertät hatte mich vergessen.

Während sich meine Klassenkameradinnen noch einigermaßen zurückhielten und mich – abgesehen von abfälligen Blicken und ein bisschen Tuscheln – nicht weiter auf das Thema ansprachen, fand es mein Vater ganz großartig, mich in aller Öffentlichkeit auf das Ausbleiben meiner Brüste hinzuweisen: »Mensch, Melli!«, sagte er schon etwas angetrunken auf dem Stadtfest und zwickte mir in die Brust. »Meinst du, da kommt noch was? Kein Wunder, dass du dich in der Sauna immer so schämst!« Selbst wenn ich mich nicht geschämt hätte, ab diesem Zeitpunkt hätte ich es getan. In die Sauna konnte er von nun an allein gehen.

Vermutlich war auch dieser Spruch meines Vaters der Auslöser dafür, dass ich im Alter von 15 Jahren eine Art Waschtick entwickelte. Das führte so weit, dass ich mich bis zu acht Mal am Tag duschte. Und zwar gut und gern eine halbe Stunde lang. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die das Badezimmer auch gern einmal benutzt hätte und mir daher sehr schnell einen Riegel vorschob, beziehungsweise mir kurzerhand das Wasser abdrehte. Ich atmete erst ein bisschen auf, als ich mit 16 Jahren endlich meine Tage bekam. Immerhin. Natürlich erzählte ich das weder meinem Vater noch meiner Mutter. Da ich zu Hause nie wirklich aufgeklärt wurde, schämte ich mich dafür. Dennoch musste ich selbstverständlich die Blutungen stoppen. Doch der Gedanke, mir eine halbe Windel in die Unterhose zu kleben, gefiel mir gar nicht. So führte ich mir meinen ersten Tampon im Alter von 16 Jahren autodidaktisch ganz allein ein. Schließlich hatte ich das mit Max schon anhand von Bleistiften geübt.

Mach's dir selbst sonst macht's dir keiner

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