Читать книгу Mach's dir selbst sonst macht's dir keiner - Christiane Hagn - Страница 8

FLUTSCHFINGER IM
OKAPI-WALD

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Ungefähr zwei Monate vor meinem Realschulabschluss verliebte ich mich erneut. Unter ziemlich ähnlichen Bedingungen wie beim ersten Mal. Ich war mal wieder mit meinen Eltern auf einer Feier. Diesmal allerdings auf einem privaten Fest von Freunden meines Vaters. Aber was soll ich sagen: Auf diesen Veranstaltungen gab es einfach immer die attraktivsten Männer. Allesamt vierzig plus und Geschäftsleute. Viele Männer waren im Anzug, weil sie es – so stellte ich mir das zumindest vor – nach einem stressigen Arbeitstag nicht mehr nach Hause zum Umziehen geschafft hatten. Ich konnte mich einfach nicht dagegen wehren: Mich interessierte ausschließlich dieser Schlag Männer. Ältere Kerle, die schon etwas in ihrem Leben erreicht hatten. Die – im Gegensatz zu mir – einfach selbstbewusst waren. Macher, deren Ausstrahlung mir sagte, dass ich in ihrer Höhle sicher wäre. Möglicherweise ist das irgendein archaisches Überbleibsel aus meiner Neandertalerseele. Vielleicht auch einfach nur ein ausgewachsener Vaterkomplex. Schließlich habe ich von meinem Erzeuger nie die Aufmerksamkeit bekommen, die ich mir gewünscht hatte. Also musste ich sie mir von anderen Männern im Alter meines Vaters holen. Und das war nicht besonders schwer. Denn natürlich fiel ich auf dieser Art von Partys immer etwas auf. Schon allein deshalb weil die wenigsten erwachsenen Menschen so wie meine Eltern ihre minderjährigen Kinder mitbrachten. Ich war zwar niemals die Schönste unter den weiblichen Gästen, aber immer die Jüngste. Und zwar mit Abstand.

Ralf und ich entdeckten uns mehr oder weniger gleichzeitig durch die Menschenmassen. Und ja, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich glaube, als sich unsere Blicke trafen, stand die Welt sogar für einige Sekunden still. Sie drehte sich einfach nicht mehr. Das Stimmengewirr wurde zu einem engelsgleichen Violinkonzert, ich verlor den Boden unter den Füßen und schwebte direkt in Ralfs Arme.

Nun gut. Ganz so war es nicht. Vielmehr grinste ich debil vor mich hin, was meinem kläglichen Versuch entsprach, Ralf einen wahnsinnig verführerischen Blick zuzuwerfen. Ich machte es genau so, wie ich es in vielen Filmen gesehen hatte. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich mit der Zunge über meine Lippen leckte. Das tat ich nicht. Und wenn doch, würde ich das jetzt nicht zugeben. So tollpatschig ich mich auch angestellt haben mochte, es funktionierte: Ralf verstand, mein nervöses Augenzwinkern zu deuten, und kam todesmutig auf mich zu. Fünf Minuten später standen wir mit einem Weißwein in der Ecke und unterhielten uns über Gott und die Welt. Also eigentlich nur über ihn. Aber in jenem Moment schien mir die Welt auch ausschließlich aus Ralf zu bestehen. Er war Gott und die Welt! Ich hing an seinen Lippen und lauschte seinen spannenden Ausführungen über seinen stressigen Arbeitsalltag. Denn Ralf war Eventmanager. Das klang schon so mondän. Ralf war zweifelsohne ein echter Macher. Ein Kerl, der rausging und machte. Also, in diesem Fall Veranstaltungen organisierte. Aber eben auch ein Mann, der schon etwas erreicht hatte und sich seiner Erfolge bewusst war. Ralf hatte eine derart selbstbewusste Ausstrahlung, dass mir ganz schummerig wurde vor lauter Begeisterung.

Ich kippte einen Wein nach dem anderen, versuchte, an den richtigen Stellen richtig zu lachen, und vergewisserte mich mit starrendem Blick, dass sich auch wirklich kein Ehering an Ralfs Finger befand. Auch kein Abdruck eines Ringes. Tatsächlich entdeckte ich nichts dergleichen. Ebenso sprach alles aus seinen Erzählungen dafür, dass Ralf unverheiratet war. Also drängte sich mir die Frage auf: Wo war der Haken? Ein derart weltgewandter, gutaussehender Mann in seinem Alter – unverheiratet?

»Bist du schwul?«, platzte es irgendwann und an unpassender Stelle aus mir heraus. Ralf begann, lauthals zu lachen und sagte nur, er hätte sich schon lange nicht mehr so amüsiert wie heute Abend. Ich deutete das als ein Nein und war überglücklich: Ralf amüsierte sich. Mit mir!

Diesmal ließen mich meine Eltern nicht völlig aus den Augen. Trotzdem schaffte es Ralf, mir ganz beiläufig seine Handy-nummer zuzustecken. Und keine 24 Stunden später machte ich davon auch schon Gebrauch. Ich rief Ralf von einem Münztelefon aus an und fragte ihn, ob er Lust auf ein Treffen hätte. Vorab wollte ich allerdings wissen, ob er verheiratet war oder Kinder hatte. Ralf lachte wieder in den Hörer, aber versicherte mir, dass er zwar ein paar Jährchen älter sei als ich, aber ansonsten ein kinderloser, heterosexueller Junggeselle. Und damit stand einem Treffen tatsächlich nichts mehr im Weg.

Ralf und ich sahen uns noch am selben Tag. Ich erklärte meiner Mutter, dass ich zur Lerngruppe müsste. Schließlich stand bald meine Abschlussprüfung an. Hätte mich meine Mutter etwas besser gekannt, hätte sie gewusst, dass man mich niemals in einer Lerngruppe finden würde. Aber in diesem Fall war ich sehr froh über ihre mangelnden Mutterinstinkte. Ralf schlug vor, einen Ausflug in den Zoo nach Leipzig zu machen. Ich fand das etwas infantil, aber stimmte natürlich zu. Vielleicht wusste ein über 40-jähriger Mann einfach nicht, wohin man eine – inzwischen – 17-Jährige so ausführte. Oder seine Wahl fiel deshalb auf den Zoo, da die Gefahr, mit mir in Leipzig gesehen und auch erkannt zu werden, natürlich viel geringer war als in Grimma. Wie dem auch sei: Ich wäre mit Ralf auch ins Bälleparadies zu IKEA gefahren. Ganz egal, wohin, Hauptsache mit ihm.

Ralf holte mich ab. Natürlich nicht von zu Hause, sondern von einem Café ein paar Ecken weiter. Meine Eltern wollte ich nach der Erfahrung mit Stefan gern aus meinem Privat- und Liebesleben raushalten. Die vierzig Kilometer nach Leipzig vergingen wie im Flug. Ralf und ich redeten ununterbrochen. Das heißt, eigentlich quasselte ich ununterbrochen. Das passiert mir immer, wenn ich aufgeregt bin. Ich rede wie ein Wasserfall. Ralf konzentrierte sich auf das Fahren, lächelte mich hin und wieder von der Seite an und hörte einfach nur zu. Er stellte mir auch keine großartigen Fragen, was ich damals als gutes Zeichen interpretierte. Heute würde ich ihm ein gewisses Desinteresse an meiner Person unterstellen. Aber damals hatte ich das Gefühl, Ralf mit meinem Geplapper einfach zu verzaubern. Alles, was ich sagte und erzählte, schien ihm zu gefallen. Obwohl wir uns kaum kannten, fühlte es sich sofort vertraut an, mit ihm zusammen zu sein.

Wir schlenderten den ganzen Nachmittag durch den Zoo. Vorbei an den Mantelpavianen, die uns ihre roten Hintern entgegenstreckten, dem Bartaffen, der mit seinem erigierten Glied spielte, und den afrikanischen Windhunden, die einander bestiegen. Möglicherweise ging es nur mir so, aber ich hatte das Gefühl, dass die gesamte Stimmung an diesem Tag im Leipziger Zoo ziemlich sexuell aufgeladen war. Es war noch dazu ein verdammt heißer Tag und ich spürte, wie der Schweiß zwischen meinen Beinen Tröpfchen für Tröpfchen nach unten rann. Wobei ich mir irgendwann nicht mehr ganz sicher war, ob es tatsächlich Schweiß war. Denn ich hatte so unglaubliche Lust, Ralf zu verführen.

Ralf fragte mich, ob ich gern ein Eis zur Abkühlung hätte. Und spätestens als ich mit meinem kurzen Jeansrock und dem Flutschfinger in der Hand leckenderweise neben Ralf entlang spazierte, muss der Gedanke an Sex auch Ralf in den Kopf gekommen sein. Obwohl er später behauptete, dass er schon im Auto an nichts anderes mehr hatte denken können, merkte ich ihm seine Erregung nicht an. Als wir uns im Okapi-Wald auf eine schattige Bank zurückzogen, wurde ich etwas offensiver. Ich lutschte sehr intensiv an meinem Flutschfinger und steckte ihn schließlich auch Ralf zwischen die Lippen. Er lutschte, ich lutsche und bald lutschten wir aneinander ohne lästiges Eis zwischen uns.

Zum Sex kam es allerdings an diesem Tag nicht mehr. Weder im Okapi-Wald noch im Auto. Auch nicht bei unserem nächsten oder übernächsten Treffen. Ralf und ich ließen uns Zeit. Nicht unbedingt, weil wir das gern wollten, sondern tatsächlich, weil uns mal wieder die Gelegenheiten fehlten. Meine Eltern sollten nach der Sache mit Stefan nichts von einer erneuten Beziehung mit einem Mann ihres Alters erfahren. Bei mir konnten wir uns also nicht treffen. Ralf war zwar tatsächlich Junggeselle mit eigener Wohnung, aber leider selten zu Hause. Er war beruflich derart eingespannt, dass wir uns meistens nur kurz, zwischen Tür und Angel, vor oder zwischen seinen Terminen treffen konnten. Doch dann, ungefähr drei Wochen nachdem wir uns kennengelernt hatten, gelang es mir, fast ein komplettes Wochenende bei ihm zu verbringen. Zu Hause erklärte ich, dass ich mich zusammen mit meiner Freundin bei ihr zu Hause einsperrte, um für die Abschlussprüfungen zu lernen, die unmittelbar vor der Tür standen. Spätestens hier hätten meine Eltern nun wirklich Verdacht schöpfen müssen. Taten sie aber nicht. Und so kam es, dass ich endlich all die Sex-Sachen ausprobieren konnte, die ich mit Stefan nicht mehr geschafft hatte. An diesem Wochenende mit Ralf habe ich sehr viel gelernt. Zum Beispiel, dass ich Sex im Wasser nicht so gern mag. Außerdem, dass Männer im Bett durchaus multi-tasking können. Sogar mehr als Frauen. Während ich mich bei der Stellung 69 schon schwer tat, mich auf Geben und Nehmen gleichzeitig zu konzentrieren, konnte Ralf nebenher telefonieren und sogar noch eine Zigarette rauchen. Ok, er bemühte sich nicht im Ansatz mit der Aufmerksamkeit um mich, wie Stefan das zuvor getan hatte. Aber seine nonchalante Art turnte mich irgendwie an. Ralf war ein absoluter Macho. Dass das Fluch und Segen zugleich war, konnte ich damals noch nicht ahnen.

Außerdem, dass Männer im Bett durchaus multi-tasking können.

Die Realschule schloss ich einige Wochen später mit einer Durchschnittsnote von 2,3 ab. Damit lag mir zwar nicht gerade die Welt zu Füßen, aber ich hatte eine faire Chance auf diverse Lehrstellen. Meine ursprüngliche Idee war es, in einem Versicherungsbüro zu arbeiten. Aber nach zwei Wochen eines eigentlich dreimonatigen Praktikums verwarf ich diese Idee wieder, weil ich fürchtete, vor Langeweile umzukommen. Ich brach das Praktikum ab und beschloss, Rechtsanwaltsgehilfin zu werden. Das klang in meinen Ohren irgendwie aufregend.

Ich stellte mir vor, wie ich Schriftsätze abtippte und dabei alles über Gesetze, Paragraphen und Gerechtigkeit erfuhr, was man bräuchte, um unbeschadet durch das Leben zu kommen. Aber meine Eltern redeten mir diesen Berufswunsch schnell wieder aus. Denn, so sagten sie, Rechtsanwaltsgehilfin wäre nichts anderes als eine Vorzeigetippse und noch dazu unterirdisch schlecht bezahlt. Mein Vater schlug deshalb vor, dass ich eine Lehre zur Hotelfachfrau machen sollte. Schließlich wäre meine Cousine Ariane so wahnsinnig erfolgreich in diesem Beruf. Natürlich war sie das. Meine Cousine Ariane war ja auch ständig mit ihren Eltern in der Weltgeschichte unterwegs. Sie lernte bis zu ihrem 16. Lebensjahr vier Sprachen und wahrscheinlich hätte es keinen Unterschied gemacht, ob sie im Hotelfach, als Rechtsanwaltsgehilfin, im Versicherungsbüro oder als Stripperin arbeitete. Ariane war immer erfolgreich – egal, was sie tat. Aber ich war nun mal nicht Ariane. Ich war und bin nur Melanie. Melanie, die allerdings immer noch versuchte, es allen recht zu machen. Also gab ich nach und bewarb mich um eine Lehrstelle als Hotelfachfrau, die mir auch prompt zugesagt wurde. Ich bekam einen Ausbildungsplatz in einem kleinen, familiär geführten Hotel. Und das war mir tausend Mal lieber, als in einem dieser Betonklötze unterzukommen, in denen sich gern große Hotelketten befanden. Der große Nachteil meines zukünftigen Ausbildungs- und Arbeitsplatzes allerdings war, wo er war. Nämlich in Füssen, mitten im Allgäu.

Nichts gegen das Allgäu! Ich liebe das Allgäu. Aber das Allgäu war nun einmal sechshundert Kilometer von Grimma und damit auch von Ralf entfernt. Und zu jenem Zeitpunkt war ich eben der festen Überzeugung, Ralf zu lieben. Sogar mehr als das Allgäu. Nämlich heiß und innig und für immer. Natürlich konnte ich mit diesem Argument bei meinen Eltern nicht ankommen. Meine Beziehung zu dem erneut über 20 Jahre älteren Mann behielt ich weiterhin streng für mich. Niemand wusste davon. Nicht mal Omi. Und da es außer meinem Herzschmerz nichts gab, was gegen diese hervorragende Lehrstelle sprach, trat ich tapfer wenige Wochen nach meinem Schulabschluss meine Reise nach Füssen an. Schließlich, so dachte ich, würde Ralf auf mich warten. Was waren schon sechshundert Kilometer Entfernung über die nächsten drei Jahre. Lächerlich war das! Denn Ralf und ich hatten uns doch jetzt gefunden und den Rest unseres Lebens noch vor uns. Und tatsächlich: Ralf wartete auf mich. Viel mehr tat er allerdings auch nicht.

Da meine Eltern ausgerechnet zum Zeitpunkt meines Umzugs mal wieder auf großer Reise waren, sollten – wie so oft – Oma und Opa ran. Denn irgendwer musste schließlich das Kind mit Sack und Pack nach Füssen fahren. Ralf war beruflich zu sehr eingebunden. Und eine derartige Unternehmung mit ihm hätte mich absolut in Erklärungsnot gebracht. Außerdem freute ich mich, dass meine Großeltern sofort zustimmten, mich zu meinem zukünftigen Zuhause zu fahren. An den Ort, an dem ich immerhin die nächsten drei Jahre verbringen sollte. Doch so sehr ich mich auf die Fahrt mit Oma und Opa auch freute, genauso enttäuscht war ich, dass meine Eltern überhaupt nicht daran dachten, ihren Urlaub nur einmal hinten anzustellen. Schließlich zog ich nach 17 Jahren aus. Das Küken verlässt das Nest! Alarm! Andere Mütter heulen an Tagen wie diesen Rotz und Wasser. Und riechen noch an der Bettwäsche, in der die geliebte Tochter genächtigt hat. Nicht so meine Mutter. Gerade, dass sie mir noch »Tschüss« sagte. Als Ratschlag gab sie mir mit auf den Weg: »Telefonier nicht so viel!« Denn sie war diejenige, die meine Telefonrechnung bezahlte. Immerhin. Trotzdem hätte ich mich sehr viel mehr über einen anderen Abschiedssatz gefreut. So etwas wie: »Kind, ruf jederzeit an, wenn was ist.« Oder: »Melanie, du weißt: Wir sind immer für dich da!« Pah, nichts da! Mama und Papa waren schon in der Wüste Sinai als Oma, Opa und ich den kleinen Transporter vollluden, um die lange Reise anzutreten.

Eigentlich wäre die Reise gar nicht so lang gewesen. Denn für die sechshundert Kilometer von Grimma nach Füssen braucht man normalerweise gute fünf Stunden. Normalerweise. Meine Großeltern gingen die ganze Sache jedoch etwas gemächlicher an. Sagen wir: Sie genossen sehr ausgiebig die Landschaft, die nicht gerade an uns vorüberzog. Eher noch überholte uns jede Schnecke am Wegesrand. Ich bin kein Freund davon, über die Autobahn zu rasen und habe auch nichts gegen Pinkelpausen während langer Autofahrten einzuwenden. Aber an diesem Tag hatte ich eher das Gefühl, dass sich meine Großeltern vorgenommen hatten, so langsam wie irgend möglich zu fahren und alle Autobahn-Raststätten zwischen Grimma und Füssen zu testen. »Deutsche Autobahnraststätten Undercover – ein Seniorenduo deckt auf!« Es war zum Wahnsinnigwerden. Aber auch irgendwie süß. Ich hatte den Eindruck, meine Großeltern versuchten, den Abschied noch ein wenig in die Ferne zu schieben.

Insgesamt dauerte die Fahrt dann über zehn Stunden. Und zehn Stunden können verdammt lange werden, wenn man sich nach seinem Liebsten sehnte. Denn kaum saß ich im Auto, rutschte mir das Herz in die Hose. Ich vermisste Ralf jetzt schon schrecklich und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, ihn die nächsten Wochen oder gar Monate nicht zu sehen. Drei Jahre schienen mir nun alles andere als eine absehbare Zeit zu sein. Drei Jahre ohne Ralf waren gleichzusetzen mit einer Ewigkeit in der Hölle. Ralf versprach mir zwar, mich sobald wie möglich besuchen zu kommen, aber »sobald wie möglich« fühlte sich von vornherein viel zu spät an.

So kam es, dass ich, kaum angekommen, trotz der schönen Natur und der ach so guten Luft im Allgäu todunglücklich war. Ich hatte nicht nur schrecklichen Liebeskummer, sondern fühlte mich obendrein von meinen Eltern weggeschafft und kläglich im Stich gelassen. Von Gott und der Welt komplett verarscht. Und als dann auch noch meiner Oma bei der Verabschiedung eine Träne über die Wange kullerte, heulte ich los wie ein Schlosshund. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als die beiden ein ganz tapferes Gesicht aufsetzten und wieder in den leeren Transporter stiegen.

»Sind ja nur zehn Stunden!«, sagte Opa und fügte hinzu: »Alte Leute haben viel Zeit!« Wie um mir Mut zu machen. Ich versuchte, tapfer zu sein und winkte ihnen fröhlich – wenn auch mit tränenverschmiertem Gesicht – hinterher. Sehr lange. Viel zu lange. Als der Transporter längst verschwunden war, winkte ich noch immer. Bis es irgendwann regnete. Aber ich winkte weiter. Ich winkte, wie Forrest Gump gelaufen war. Ich konnte einfach nicht aufhören. Vermutlich würde ich noch heute so dort stehen und winken, hätte mich das Ehepaar Berger, meine Vermieter und zugleich Arbeitgeber, nicht ins Haus geholt. Die beiden waren es auch, die es schafften, dass ich mich nach nur wenigen Tagen in Füssen doch ein bisschen zu Hause fühlte. Ich bezog eine Art Einsiedlerwohnung im Untergeschoss ihres Hauses. Dort hatte ich ein Bett, einen Kleiderschrank, einen kleinen Schreibtisch und ein Minibad. Nichts Großartiges aber meins. Leider war der Handyempfang miserabel. Daher musste ich mich immer durch das kleine Fenster nach draußen räkeln, wenn ich mit Ralf telefonieren wollte. Ab und an rief ich auch meine Eltern an. Schließlich bezahlte meine Mutter meine Handyrechnung. Das war allerdings auch alles, was ich ab Beginn meiner Lehre noch an finanzieller Unterstützung von meinen Eltern bekam. Damals fand ich das nicht so richtig prickelnd. Denn mein Lehrgehalt war lächerlich gering und ich musste auf alles, was ich haben wollte, wochenlang sparen. Im Nachhinein weiß ich diesen Teil meiner Erziehung sehr zu schätzen. Denn nur so lernte ich schon früh, mit Geld umzugehen und wusste immer, woher es kam: von Arbeit.

Denn nur so lernte ich schon früh, mit Geld umzugehen und wusste immer, woher es kam: von Arbeit.

Obwohl wir also regelmäßig telefonierten, kamen meine Eltern und ich über kurzen Smalltalk oder einen Plausch zum aktuellen Wetter nie hinaus. Denn das Interesse meiner Eltern an meiner Arbeit und meinem Leben war ebenso großzügig bemessen wie die finanzielle Unterstützung. Es hielt sich in sehr überschaubaren Grenzen. Nur das Nötigste eben.

Ich versuchte trotz meines Liebeskummers, das Beste aus meiner Zeit im Allgäu zu machen. Und das war eigentlich gar nicht so schwer. Denn das kleine Familienhotel war der beste Arbeitsplatz, den ich mir so schön nicht mal im Traum hätte ausmalen können. Ich hatte dort Gelegenheit, mich in allen Bereichen eines Hotelbetriebs auszuprobieren und zu lernen. Meine Kollegen waren hilfsbereit und entspannt. Es gab kein Konkurrenzdenken und keinen Druck von oben. Das Ehepaar Berger nahm mich fürsorglich in die Betriebsfamilie und auch in ihr Familienleben auf. Nach nur wenigen Wochen hatte ich fast vergessen, dass die Bergers auch meine Chefs waren. Denn wann immer es ging und das Hotel »gerade mal gut ohne uns auskam«, wie Herr Berger immer zu sagen pflegte, zogen wir los. Wir gingen zu dritt wandern, machten Ausflüge auf die Alm, fuhren mit den Inline-Skates oder plantschten in Bergseen.

Im Hotel wurden mir von den beiden die unterschiedlichsten Aufgaben anvertraut. Nach nur zwei Monaten stand ich regelmäßig an der Rezeption, begrüßte neue Gäste und kümmerte mich um deren Ein- und Auschecken. Im Allgäu war alles irgendwie so unbeschwert. Nicht nur Kollegen und Arbeitgeber, sondern auch die Gäste. Mir schien das Allgäu eine bessere und sehr heile Welt zu sein, in der die Menschen so glücklich waren wie die Kühe auf der grünen Alm. Sogar die Berufsschule machte mir Spaß. Sie lag etwas entfernt in einem Kurort, in dem ich daher in regelmäßigen Abständen ein bis zwei Wochen in einem Internat schlief. Ich fand problemlos Anschluss und fühlte mich zum ersten Mal unter Gleichaltrigen pudelwohl. Wahrscheinlich, weil wir alle Gleichgesinnte waren. Wir schliefen in einem Raum, teilten ein Bad und gingen morgens gemeinsam zum Frühstück. Dem ersten Frühstück folgte ein zweites. Später gab es Mittagessen, danach Kaffee und Kuchen und gegen späten Nachmittag die Brotzeit, ein kleiner Snack vor dem eigentlichen Abendessen, das es schon um 18 Uhr gab. Zwischendurch drückten wir die Schulbank. Wir taten also eigentlich nichts außer essen und sitzen. Nur abends, nach dem Abendessen zogen wir los. Denn wir hatten bis 22 Uhr Ausgang. Doch da wir uns inmitten eines Kurgebietes befanden, gab es nichts weiter außer einer Pizzeria auf dem Dorfplatz. Was blieb uns also übrig, als dort noch nach dem Abendessen Pizza zu essen und literweise Cola zu trinken? So war es nicht weiter verwunderlich, dass ich im Allgäu immer runder wurde. Um nicht zu sagen: fett. Denn sobald ich vom Internat zurückkam, gab es ein Festmahl mit den Bergers, die immer alles ganz genau wissen wollten. Was wir gelernt hatten oder wie die Prüfungen gelaufen waren. Sie interessierten sich einfach für mich. Ich war längst zu einer Art Ziehtochter für das kinderlose Ehepaar geworden. Und ich genoss die Aufmerksamkeit von den beiden sehr. Eine Aufmerksamkeit, die mir meine eigenen Eltern nicht im Ansatz hatten zukommen lassen. Plötzlich fühlte ich mich wie der Augenstern, der ich noch nie gewesen war. Wenn auch inzwischen ein sehr runder Augenstern.

Gerade weil mich die beiden so liebten, merkten sie auch, wie unglücklich ich trotz allem manchmal war. Und damit sie meinen Kummer nicht auf sich selbst zurückführten, erzählte ich ihnen schon früh von meiner heimlichen Beziehung zu einem sehr viel älteren Mann. Und von meiner Sehnsucht nach Ralf, die einfach nicht besser wurde – so sehr ich auch alles andere zu schätzen wusste.

Die beiden reagierten sehr verständnisvoll und boten mir an, dass mich Ralf jederzeit bei ihnen besuchen kommen könnte. Später erzählte mir Frau Berger, dass sie durch meine Telefonate aus dem Kellerfenster auch schon geahnt hatte, was los war. Sie hatte nur darauf gewartet, dass ich mich ihr von selbst anvertraute. Ich wusste ihr Angebot sehr zu schätzen und nahm ihnen außerdem das Versprechen ab, nichts davon meinen Eltern zu erzählen.

So kam mich Ralf in dem halben Jahr, das ich bei den Bergers lebte, auch tatsächlich zweimal über das Wochenende besuchen. Meine Eltern kamen übrigens kein einziges Mal. Sobald feststand, dass und wann Ralf kam, lebte ich ungeduldig auf diesen Tag hin. Ich überlegte mir ganz genau, was ich ihm alles zeigen wollte und machte fleißig Überstunden im Hotel, um am besagten Wochenende diese wieder abbummeln zu können. Ich konnte es nicht erwarten, ihm so vieles zu erzählen, zu zeigen, ihn anzufassen, zu küssen und endlich wieder von ihm angefasst zu werden. Denn das konnten selbst tägliche Telefonate nicht ersetzen. Allerdings hatte ich schon vor Ralfs erstem Besuch eine große Sorge: mein Gewicht. Denn bereits nach den ersten zwei Monaten meiner Allgäu-Zeit hatte ich knapp fünf Kilo zugenommen. Und ich hatte das Gefühl, dass sich diese fünf Kilo ausschließlich in meinem Gesicht festgesetzt hatten. Ich sah aus wie ein richtiges Mädchen von der Alm. Rundliches Gesicht, rote Wangen, kräftige Waden, hier und da ein bisschen Speck. Leider hatte sich nichts von den fünf Kilo im Brustbereich abgesetzt. Ich hatte immer noch kein »Holz vor der Hütte«. War ja klar.

Doch Ralf schienen diese fünf Kilo nicht weiter zu stören. Vielleicht hatte er sie auch wirklich nicht bemerkt. Er stellte nur irgendwann beiläufig fest, dass ich auf ihn einen rundum zufriedenen Eindruck machte. Natürlich interpretierte ich das »rundum« sofort in Richtung Gewichtszunahme. Doch Ralf versicherte mir, dass ich ihm gefiel, so wie ich war.

»Je mehr Melanie«, sagte er, »desto besser!« An jenem Tag schliefen wir miteinander in idyllischer Kulisse: mitten auf der grünen Bergwiese zwischen herumspringenden Ziegenböcken, begleitet von der untergehenden Sonne.

Zwischen Ralfs erstem und zweitem Besuch vergingen dann aber fast drei Monate. Anders ausgedrückt: weitere neun Kilo. Ich aß oft aus Langeweile, manchmal aus Kummer, aber auch deshalb, weil es einfach verdammt gut schmeckte im Allgäu. In Käsespätzle mit Speck hätte ich baden können. Doch nach insgesamt sechs Monaten und vierzehn Kilo mehr, gab ich auf. Ich entschied, die Lehre in Füssen schweren Herzens abzubrechen und zurückzugehen. Nicht nach Grimma, aber nach Leipzig. Ich wollte bei Ralf sein. So liebevoll die Bergers auch waren, so sehr mir die Arbeit im Hotel Spaß machte, so lustig ich sogar die Berufsschule im Kurgebiet fand und so lecker die Allgäuer Wurst- und Käsespezialitäten waren, ich gab auf und folgte meinem Herzen. Denn mein Herz war schon immer mein durchsetzungsstärkstes Organ. Wenn auch nicht gerade mein schlauestes ...

Denn mein Herz war schon immer mein durchsetzungsstärkstes Organ. Wenn auch nicht gerade mein schlauestes ...

Mach's dir selbst sonst macht's dir keiner

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