Читать книгу Magdalene und die Saaleweiber - Christina Auerswald - Страница 6

1. KAPITEL

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Eine Stimme zerschnitt die warme Küchenluft. »Else!« Niemand antwortete. Im Haus »Zu den Drei Rössern« blieb es still.

»Else, komm endlich in die Küche!«

Die Altmagd Else bewegte sich nicht. Sie stand sechs Ellen von ihrer Hausherrin entfernt reglos im Korridor zwischen Küche und Laden. Ihren Rücken hielt sie gerade wie eine junge Pappel, obwohl sie an die fünfzig war und viele Frauen in ihrem Alter längst einen Buckel besaßen. Else würde nie einen Buckel bekommen. Die weiße Haut ihres Gesichts war zart wie die einer Dreißigjährigen. Sie liebte es, ihren Leib mit einem engen Mieder zu betonen, und an diesem Tag trug sie unter ihrem grauen Arbeitskleid eine Bluse mit bauschigen Ärmeln aus hellem Leinen. Das war eine Aufmachung, als hätte sie etwas Besonderes vor und nicht bloß gewöhnliche Küchenarbeit. Eine Fliege summte an ihrem Kopf vorbei, Else hob lässig die Hand. Die Brauen über ihren blauen Augen zogen sich in einem spitzen Winkel zusammen, der Schönheitsfleck auf ihrem Jochbein zitterte. Die Fliege verschwand.

Magdalene Rehnikel, die Hausherrin, ließ die Hände von der eigenen Arbeit sinken und drehte sich zu ihrer Altmagd um. Sie folgte Elses Blick in den Laden, wo der Geselle Lichtenberg und ihr Mann, der Meister Rehnikel, standen und sich über eine Spezerei beugten. Die Türen zwischen der Küche, dem Treppenhaus und dem Laden standen weit offen. Das Geschäft war ein Spezereienhandel, der einzige in Halle. Else war versunken in die Betrachtung der beiden Männer, ihr Gesicht bewegte sich so wenig wie das einer Puppe. Der Geselle schüttete vorsichtig Körner aus einem Säckchen auf eine Schale der Waage, der Meister hielt seine Nase darüber und murmelte. Seine Worte waren kaum zu verstehen, etwas von »in trockenem Zustand annehmen, da die Beeren sonst schimmeln …«, und Lichtenberg nickte.

»Else!«, rief Magdalene ein drittes Mal.

Else drehte sich nicht um. Stattdessen faltete sie die Hände, wie um mitten im Korridor zu beten, und hob sie theatralisch vor die Brust. Solche Posen liebte Else. Sie tat, als würde sie in einer Andacht versinken, damit ihre Herrin auf eine Zurechtweisung verzichtete. Sie wusste, dass die beiden jungen Mägde im gleichen Moment Mangold wuschen und zupften, eine mühselige Arbeit, bei der ihre Hilfe gebraucht wurde.

Else seufzte.

Georg Rehnikel richtete sich auf. Er zog sein Wams über dem runden Bauch gerade und steckte die Börse fester in den Gürtel. Dann legte er dem Gesellen die Hand auf die Schulter und verließ den Laden mit großen Schritten. Er ging an Else vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blieb vor Magdalene stehen.

»Ich gehe die Apotheken ab, Lenchen«, sagte er. »Zum Abendessen bin ich wieder da.« Er lächelte, strich ihr über die Wange und beugte sich für einen trockenen Kuss hinüber. Im Gehen hob er grüßend die Hand.

Die Apotheken abgehen, das hieß die fälligen Rechnungen zu kassieren. Georg Rehnikel tat das jede Woche. Er lieferte viele Spezereien an Herrn Becker und Herrn Rudolph, die beiden Apotheker der Stadt. Das war ein zuverlässiges Geschäft. Kranke gibt es immer, in schlechten Zeiten sowieso, erst recht in guten Zeiten, da sich die Leute mehr um sich selbst kümmern können. Die guten Zeiten hatten noch nicht angefangen, obwohl man hier die größten Hoffnungen hegte, seit Halle 1680 zum Kurfürstentum Brandenburg gekommen war. Man schrieb mittlerweile den 15. September 1693. Obwohl der ersehnte Reichtum der Stadt auf sich warten ließ, hatte sich in den letzten Jahren manches getan. Seit einigen Tagen gab es eine dritte Apotheke in der Stadt, und Herr Hoffstadt, der pfälzische Apotheker, hatte schon ein paar Mineralien und Öle im Spezereienhandel bestellt. Vielleicht war das ein Beweis, dass es aufwärtsging.

Die Tür klappte hinter Georg Rehnikel, Else löste sich aus ihrer Erstarrung.

»Komm endlich in die Küche«, rief Magdalene. »Deine Arbeit wartet.«

Else antwortete nicht. Für den Bruchteil eines Augenblicks flatterten ihre Lider. Magdalene, im Vertrauen darauf, dass die Magd ihre Arbeit aufnehmen würde, streifte die klobigen Holzschuhe über und verließ das Haus durch die Hoftür. Sie holte den Rest des Mangolds aus dem Garten, der hinter dem Haus im tieferen Teil des Grundstückes lag. Er stand dort noch in seinem Beet, gut gewachsen, mit dicken Blättern. Dieses Jahr war weniger verregnet als die vergangenen und verwöhnte die Menschen mit Sonnenstrahlen. Das hatte Früchte und Gemüse im Garten gut wachsen lassen.

Magdalene legte gerade den dritten Arm Mangold in den Erntekorb, da kam die Magd Rosina atemlos aus dem Haus gelaufen. Rosina war auf einer Seite lahm, sie hinkte sonst; jetzt war sie so schnell, dass ihr verkrüppelter Fuß kaum den Boden berührte. Zehn Schritte von ihrer Herrin entfernt hob sie den Arm und winkte. In ihrem puterroten Gesicht standen die Augen groß.

»Frau Meisterin, kommt schnell«, rief sie, »mit Else stimmt etwas nicht!«

Magdalene stellte den Korb auf dem Gartenweg ab, schlüpfte aus den Holzpantinen und eilte hinter Rosina ins Haus.

Else saß in der Küche am Tisch. Im ersten Moment konnte Magdalene nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Spülstein war blank geputzt, der Suppentopf stand auf dem Herd, das Feuer im Ofenloch knisterte. Else trug noch dasselbe Arbeitskleid mit der Schürze darüber, die hellen Ärmel aufgekrempelt. Die Kleinmagd Gertrud, die atemlose Rosina und Lichtenberg, der Geselle, umringten sie. Ihnen standen die Mäuler offen. Else hatte, wie Magdalene im Näherkommen sah, weit aufgerissene Augen und einen starren Blick zum Fenster hinaus. Die Hände hielt sie erhoben wie ein Priester bei der Segnung. Sie gab merkwürdige Töne von sich, die dem Knurren eines Hundes glichen. Rosina fröstelte. Magdalene sah den Schauder, der über die nackten Unterarme ging und die Härchen auf ihrer Haut steil aufrichtete.

»Else, was treibst du für einen Unsinn«, fuhr Magdalene sie an. Else zuckte nicht, sie stieß weiterhin seltsame Töne aus. Ihre Herrin stemmte die Hände in die Seiten und versuchte es erneut. »Du hast uns lange genug von der Arbeit abgehalten. Steh auf und kümmere dich um die Suppe!«

Nichts geschah. Else brummte höher im Ton. Rosina und Gertrud zitterten. »Ich glaube, sie ist krank«, flüsterte Gertrud furchtsam.

»Ach was!«, winkte Magdalene ab. »Nicht so krank, dass es nicht mit einem Eimer kalten Wassers behoben werden könnte! Rosina, hol Wasser!« Rosina nickte und wollte den ersten Schritt tun, da fing Else an zu schreien.

Die Schreie klangen wie die eines verletzten Tieres. Sie dauerten einen Moment an und brachen unvermittelt ab.

Dann redete Else. Sie benutzte klare Worte, aber ihre Stimme klang wie die einer anderen Person, fremd und unheimlich. Ihr Blick ging über Magdalenes Kopf hinweg in unbestimmte Ferne. Sie zwinkerte nicht. Rosina war stehen geblieben und hörte mit offenem Mund zu, wie Else mit tiefer Stimme redete. »Siehe, der Herr wird kommen! Aus dem Mund seiner unschuldigen Dienerin wird er zu Euch sprechen, damit Ihr gewarnt werdet – vor Sodom und Gomorrha, vor Sünde und Bosheit.«

Else hob ihre Hände höher, reckte sich und fuhr in erhöhter Tonlage fort: »Der Herr wird mit allen sein, die sich ihm ergeben! Er spricht: Wehe denen, die nicht an mich glauben, die heucheln und Götzen dienen! Elisabeth Bauer, gehe hin und verkünde allen, die fest auf Gott vertrauen, dass der Herr nah ist! Und denen, die in Aberglauben leben, verkünde die Vergebung des Herrn, wenn sie umkehren und den rechten Weg beschreiten! Sonst wird es ein schlimmes Ende nehmen mit allen Gottlosen und denen, die ihnen Glauben schenken!«

Magdalene wurde es zu bunt. Ihr Gesinde stand verwirrt um die Altmagd herum und tat nichts. Sie musste selbst tun, was nötig war. Sie lief, so schnell der Zorn sie trieb, nach draußen und griff den vollen Wassereimer, der an der Zisterne stand. Else redete noch immer, als sie zurückkam, und Magdalene hörte wieder etwas von Aberglauben. Das eiskalte Wasser aus dem Eimer ging zusammen mit ihrer restlichen Wut über Elses Schädel nieder.

Else fuhr mit einem Schrei von ihrem Platz auf. Jetzt sah sie wieder aus wie die Altmagd Else, verkniffen und mit zorniger Stimme kreischend, nur, dass sie pudelnass in einer Pfütze stand. Die Haube lag platt auf ihrem Kopf, und die vormals geplusterten Ärmel hingen mit dem Kleid wie ein Sack an ihr herunter. Sie zwinkerte mit den nassen Wimpern und schüttelte sich wie die Hunde nach dem Bad. Magdalene war die Erste im Raum, die ihre Fassung wiederfand. Sie begann zu lachen, laut und herzhaft.

Die jungen Mägde und Lichtenberg stimmten ein. Ohne das Vorbild ihrer Herrin hätten sie das nicht gewagt, aber Magdalene konnte nicht an sich halten. Elses Anblick war zu komisch, um nicht lauthals zu lachen.

Else hörte zu kreischen auf und ließ die Hände sinken. Sie richtete ihren Blick auf Magdalene und sagte mit süßlichem Schmalz in der Stimme: »Frau Meisterin, etwas Wunderbares ist geschehen! Gott, der Herr, hat zu mir gesprochen! Ich habe sein Licht gesehen!« Sie lächelte verzückt.

Gertrud in ihrer sechzehnjährigen Schlichtheit fragte: »Was hast du mit dem Aberglauben gemeint?«

»Welcher Aberglauben?«, fragte Else und sah so verwundert aus, dass Magdalene beinahe selbst darauf hereingefallen wäre.

»Das, wovon du geredet hast«, forderte Gertrud.

Rosina fügte hinzu: »Dass der Herr durch deinen Mund spricht. Außerdem hast du gesagt, er habe Elisabeth Bauer seine Stimme gegeben. Das bist du selbst, Else, nicht wahr?«

»Ja, das bin ich«, erwiderte Else mit großer Freundlichkeit. Ein dicker Wassertropfen hing an ihrer Nasenspitze. Magdalene sprang die Heuchelei aus ihrem Lächeln entgegen, alle anderen schienen es nicht zu bemerken. »Was habe ich noch gesagt?«, fragte sie mit honigsüßer Stimme.

»Dass der Herr allen zur Umkehr rät, die in Aberglauben leben, dass er vor Gottlosen warnt und denen, die ihnen glauben, und dann hast du noch von Sünde und Nachlässigkeit gesprochen!« Gertrud schnaufte atemlos von dieser langen Rede, länger als alle Sätze, die sie bisher von sich gegeben hatte.

Else ergänzte: »Von Sodom und Gomorrha.«

Sanft entgegnete Magdalene: »Sieh an, du warst gar nicht entrückt. Du weißt genau, was du gesagt hast.«

Elses glückselige Grübchen in den Mundwinkeln verschwanden. Sie gab keine Antwort.

Magdalene zuckte die Schultern. »Genug der Schwatzerei. Else, zieh dir trockene Sachen an und gehe an deine Arbeit. Du bist spät dran.«

Die Morgensuppe wurde am Abend vorher zubereitet. Es war Elses Aufgabe, sie zu kochen, damit sie am Morgen bloß noch aufgewärmt werden musste. Draußen sank die Dämmerung, Kerzen und Öllichter waren teuer und sollten nur benutzt werden, wenn es dringend nötig war.

Die Mädchen protestierten. »Aber Frau Meisterin«, fing Gertrud an zu lamentieren, und Rosina fragte: »Was war das eben? Hatte Else eine Offenbarung? Offenbarungen sind dasselbe, als wenn Gott aus einem spricht. Gott, der Herr! Hier, in unserem Haus, vor unseren Ohren!«

Der Else legten sich zwei vergnügte Grübchen in die Mundwinkel.

»Der Herr war diesem dummen Gerede so fern wie ein Kalb dem Mond«, fuhr Magdalene die jungen Mägde an. Sie sah den Protest in ihren Augen flackern, aber die beiden Mädchen sagten keinen Ton mehr und gingen an ihre Arbeit. Berge von Mangold türmten sich auf dem Tisch. Gertrud und Rosina begannen wieder mit dem Grünzeug zu arbeiten.

Else tat gar nichts. Sie blieb stehen und lächelte Magdalene lammfromm an. »Ihr werdet entschuldigen, Frau Meisterin, ich empfinde in diesem Augenblick große Sehnsucht nach Gott. Ich muss in die Marktkirche gehen und ein Gebet verrichten, um dem Herrn für seine Wohltat zu danken.«

Die Altmagd setzte sich in Bewegung und verließ das Haus, ehe irgendjemand ein Wort zur Erwiderung gefunden hatte. Magdalene war so verblüfft, dass sie die Magd nicht, wie sie um ihrer Autorität willen verpflichtet gewesen wäre, zurückholte und zurechtwies. Stattdessen sank sie auf die Küchenbank und verstummte.

Lange passierte nichts. Rosina brachte den Eimer nach draußen, Gertrud wischte schweigend die Wasserlache vom Boden auf, dann arbeiteten die jungen Mägde weiter am Mangold. In der Küche lag das Schweigen wie Blei, nur vom Ratschen der Mangoldblätter unterbrochen. Magdalene sah aus dem Fenster zum Hof. Sie starrte auf die Wand des Stallgebäudes, die Hände lagen im Schoß, sie hielt die Finger ineinander geklammert.

Nach einer Weile schwenkte sie den Blick zum Herd. Sie wies Rosina an, sich um die Suppe zu kümmern, und sah zu, wie die Magd das Hafermehl anrührte. Gertrud stand auf, räumte die Reste des Gemüses zusammen und verschwand mit dem Abfall zum Hühnerfüttern nach draußen.

Magdalene blieb reglos auf der Bank am Küchentisch sitzen. Sie fragte sich, was Else im Schilde führte, denn es gab keinen Zweifel, dass irgendetwas hinter ihrem Auftritt steckte. Es war nichts Gutes, das wusste Magdalene. Ihr Blick war wieder auf den kümmerlichen Ausblick gerichtet, als könnte sie dort ein Mittel finden, um Else in eine freundliche, gutmütige Frau zu verwandeln.

Magdalene und die Saaleweiber

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