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Zwei Liebhaber

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Schon bei der ersten Begegnung am Abend des 26. Januar 1926 in Zürich hatte Greti Roffler das starke Gefühl einer Schicksalshaftig­keit. Sie war neunzehn, studierte im ersten Semester an der Universität und fühlte sich in der Stadt verloren. Welch ein Verkehr, was für eine Betriebsamkeit! Die leuchtenden Schaufenster, die eleganten Herren und geschminkten Damen, die Prostituierten im Niederdorf – all das befremdete sie. Selbst Chur, wo sie die Kantonsschule besucht hatte, wirkte im Vergleich wie ein beschauliches Dorf, das Strassenbild geprägt durch Pferdekutschen. Sie hatte kaum je ein Automobil gesehen – die lärmenden Gefährte waren in Graubünden erst vor wenigen Monate zugelassen worden. Mehr noch wunderte sie sich über die Anonymität in der Grossstadt. Von den vielen Menschen, die mir begegnen, kenne ich fast nie einen, klagte sie einer Freundin. Ich habe mich dran gewöhnt, sie überhaupt nicht mehr zu sehen.59 Um sie in Zürich in guten Händen zu wissen, hatte ihr Vater sie bei seinem Kollegen Paul Schmid, dem Pfarrer am St. Peter, einquartiert. Von dessen Wohnung am Talacker wanderte sie jeden Morgen zur Hochschule hinauf. Der Austausch mit ihrer Cousine Gretly Puorger, die hier Medizin studierte, linderte das Heimweh.

Sie war es, die Greti bat, sie an den Bündnerball ins Restaurant Kaufleuten zu begleiten. Doch Greti zögerte: Sie habe sich am ­Finger verletzt und ausserdem gar kein passendes Kleid.60 Womöglich war sie aber auch einfach schüchtern, fühlte sich zu wenig schön für den Ball und fand in der Verletzung eine willkommene Aus­rede. Am Ende sagte sie doch zu. Ihre Studentenbude lag nur einen Katzensprung vom Kaufleuten weg, so dass sie jederzeit nach Hause gehen konnte. Im repräsentativen Saal mit dem Parkett, der Kassettendecke und den Balkonen, von denen aus man das Geschehen auf der Tanzfläche verfolgen konnte,61 trafen sich Studie­rende aus allen Fachrichtungen und allen Ecken Graubündens. Das Gefühl, weit weg von der vertrauten Umgebung zu sein, einte die jungen Frauen und Männer. Auf der Tanzfläche drehten sich immer neu zusammengewürfelte Paare, eine Tombola versprach Preise. Greti zog das grosse Los: eine Flasche Cherry Brandy, die sie mit allen am Tisch teilte. In der Runde sass auch Gian Caprez, Sohn eines Baumeisters aus Pontresina und Ingenieursstudent. Sie kannten sich flüchtig von der Kantonsschule in Chur, wo er die Klasse über ihr besucht hatte. Nun begegneten sie einander das erste Mal von Angesicht zu Angesicht. In dieser Nacht aber wurde daraus eine Liebe, die nicht mehr aufhörte,62 erinnerte sich Greti Jahrzehnte später, mit über siebzig Jahren, in ihren Memoiren.

Nach dem Bündnerball wanderten Gretis Gedanken immer wieder zu Gian. Eigentlich kam ihr die Begegnung mit ihm ganz und gar nicht gelegen. Sie hatte schon an der Kantonsschule den einen oder anderen Schwarm gehabt, hatte geschmachtet und ­gelitten. Nun wollte sie sich auf das Studium konzentrieren und wehrte sich dagegen, wieder dem Strudel der Leidenschaft ausgeliefert zu sein.63 Gegen den Willen des Vaters hatte sie sich für Alte Sprachen und nicht für Theologie entschieden, denn sie litt an Selbstzweifeln und konnte sich nicht vorstellen, jemals auf einer Kanzel zu stehen. Statt dessen stellte sie sich vor, später Lehre­rin an einem Töchtergymnasium zu werden.64 Doch schon im Lauf des ersten Semesters stellte sie ihre Wahl in Frage. Sie fand es öde, stundenlang über Griechisch- und Lateintexten zu brüten und nach der genauen Bedeutung eines Wortes zu suchen. Unter der Woche verirrte sie sich darum immer öfter in die Räume der theologischen Fakultät gleich neben den Altphilologen, wo über Fragen diskutiert wurde, die Greti brennend interessierten: Was war der Sinn von Leben und Tod? Worin bestand die menschliche Existenz? Fragen, die sich ihr in der Einsamkeit noch drängender stellten.65 Abends nahm ihr Zimmerwirt Paul Schmid sie zu ­religiösen Gesprächsabenden für junge Frauen mit, und sonntags hörte sie gebannt seinen Predigten zu.66 Die Religion wurde in der Grossstadt zur Nische, in der sie sich aufgehoben fühlte – und immer öfter fragte sie sich, ob sie nicht doch zur Theologie wechseln sollte. Um kein Semester zu verlieren, müsste sie ihre ganze Freizeit in das versäumte Hebräisch stecken.67 Doch ausgerechnet jetzt tauchte dieser Gian Caprez auf und stellte ihre Pläne in Frage.

Tagebuch, 2. Februar 192668

Es geht mir so viel im Kopf herum und doch weiss ich nicht, was oder auch wie schreiben, am allerwenigsten aber was tun.

Was soll ich zur Theologie umsatteln, denn ich will nicht ­ledig bleiben. Und wenn ich auch umsatteln würde, was wird später mein Los sein? Pfarrhelferin, wie ich auch ohne Uni werden könnte69, denn predigen kann und will ich nicht.

Dann darf ich aber nicht mehr tanzen, auch nicht mehr lieben und werde zu einer versauerten alten Jungfer, oder bringe es höchstens noch zu einer Pfarrfrau, wovon mir keines passt. Wenn ich aber heiraten würde, wie könnte ich es verantworten, andere Menschen, meine Nachkommen in den gleichen Wirrwarr, die gleiche Not, in denen ich bin, hineinzufallen. Könnte ich es dann ertragen, wenn sie mir eines Tages sagen würden: Warum nur hast du uns geboren?

Und was ist schuld an der Geschichte? Der Bündnerball! Er hat uns beide verrückt gemacht! Ich war vorher so ruhig, hatte mit ­allem abgeschlossen und mich ganz auf zukünftiges Altjungferntum eingestellt. Und da muss mir dieser Gianin in den Weg laufen.

Der Konflikt, der sie ein Leben lang begleiten sollte, zeigte sich ihr jetzt, im Februar 1926, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Noch versuchte sie ihn kleinzuhalten, indem sie ihre Liebeswünsche als unrealistisch abtat.

Tagebuch, 14. Februar 1926

In zwei Wochen bin ich hoffentlich zu Hause. Er wird auch heimreisen, später, nach mir, und wir werden uns nie mehr sehen. Denn Architekten, stud. ing., bauen doch gern Luftschlösser, und wer auf Luftschlösser traut und hofft, ist ein Narr! (…) Ich werde überhaupt nicht heiraten; ich weiss, dass dies in meinem Schicksal liegt. Wie ich mich dann durchs Leben schlage, weiss ich noch nicht, vielleicht alt und vergrämt, vielleicht froh und glücklich (…). Wer weiss? Wo bin ich in zwanzig Jahren?

Nachts

Himmlischer Herre hilf mir aus meiner Not und Verzweiflung (…). Hilf mir das Rechte zu wählen, den Weg zu gehen, den Du willst. Sag mir, ob ich Theologie studieren solle. Herr führe mich, Herr erlöse mich!

In den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft gab sich Gian Caprez tatsächlich gar reserviert. Zwar traf er sich mit ihr, doch er war weitaus distanzierter als andere junge Männer, denen sie begegne­te, versuchte nicht, sie zu küssen, sondern legte höchstens scheu seinen Arm um sie. Sie interpretierte es als mangelndes Inte­resse – schliesslich war er mit seinen Mitstudenten überaus gesellig und humorvoll. Wie viel forscher trat da ein zweiter Student auf, den sie zur gleichen Zeit kennenlernte. Ernst Bener, angehender Maschinenbauer, ebenfalls aus Graubünden, machte ihr richtiggehend den Hof, und Greti, neugierig auf das Leben und hungrig nach Erfahrung, liess sich mit beiden ein. Jeder der Männer weckte ihr Interesse auf ganz unterschiedliche Weise: Gian berührte sie tief in der Seele, Ernst sprach ihr erwachendes Begehren an. Wie es sich für eine Theologiestudentin gehörte, wehrte sie Ernsts Avancen jedoch zunächst ab und versteckte das eigene Verlangen hinter der Konvention.

Tagebuch, 4. April 1926 (Ostern)

Obwohl ich in dem Augenblick, da du dich niederbeugtest, von heissester Angst erfüllt war, du solltest mich nicht gleich auf die Lippen küssen, und obwohl ich dich nachher hasste und mit gar bittern, bösen Gedanken neben dir schritt, war ich in diesem ­Augenblick Dein und bin jetzt noch Dein.

Den ersten Kuss mit Gian auf der Halbinsel Au erlebte sie ganz anders.70 Schon die Kulisse – der Zürichsee – war ganz nach Gretis Geschmack. Nach den Vorlesungen mietete sie ab und zu ein Boot und ruderte in die Dämmerung hinaus, manchmal zusammen mit Gian.71 Am Maibummel der Ingenieure waren die beiden in ihrem Element und holten beim Ruderwettbewerb der Paare den ersten Platz. Nach dem Essen im Landgasthof auf der Au tanzten sie in die Nacht hinein. Um zwei Uhr nachts, als die Musik aufhörte zu spielen und die jungen Männer und Frauen paarweise den Saal verliessen, verschwanden auch Gian und Greti Hand in Hand in der Dunkelheit des Wäldchens am See.72 Am Landungssteg fanden sie eine Bank unter dem ausladenden Blätterdach einer Kastanie, die sie vor dem aufkommenden Regen schützte. Wie schon bei Ernst war Greti hin- und hergerissen zwischen ihrer Lust und dem, was sie zu wollen hatte. Doch nun ergriff sie selber die Initiative. Sie nahm Gian in ihre Arme und liebkoste sein Gesicht. Als sie sich dann küssten, gestand er ihr, dass dies sein erster Kuss sei, er aber schon ahne, dass sie keine Philisterin, keine Spiessbürgerin sei.73

Greti spürte, dass sie beide etwas Besonderes verband. Vielleicht biegen hier unsere Wege auseinander, vielleicht aber werden wir zu wirklichen Freunden, die einander alles bringen können ohne Hinterhalt, ohne dass immer dieser ekelhafte Unterschied da ist, um dessentwillen die nettesten Dinge nicht getan werden dürfen.74 Seit ihrer Jugend störte sie sich an der Kluft zwischen Mädchen und Jungen. Als Kind hatte sie unbeschwert mit den Nachbarsbuben gespielt, doch mit zwölf war die Leichtigkeit verflogen. Mit dem Wechsel auf die ­Sekundarstufe liefen die Kinder nach Geschlechtern getrennt zur Schule. Greti wäre am liebsten ein Neutrum geblieben, doch es gab keinen Raum für ein verbindendes Dazwischen.75 Nun aber, mit Gian, hoffte sie, die Grenze zwischen ihm, dem Mann, und ihr, der Frau, aufzulösen.

Tagebuch, Zürich, 16. Mai 1926

Aber gibt es denn wirkliche Freundschaft zwischen Buben und Mädchen? Ich (…) glaube, hier, zwischen uns beiden ist es möglich, denn er ist noch viel stärker und sicher auch viel besser als ich, wenn wir nur ehrlich sein wollten, uns immer sagen würden, was dem einen am andern missfällt und damit den reichen ­Segen einer Freundschaft einheimsen wollten!76

Trotz ihres Vertrauens in Gian fürchtete Greti, er und Ernst könnten sich abgesprochen und ihr eine Falle gestellt haben: Die beiden Männer wüssten ganz genau, wie weit der andere mit ihr gegangen sei, und stellten Gretis Tugendhaftigkeit bewusst auf die Probe. Die Angst, keine ehrbare Frau zu sein, sass tief und überschattete die Erkundung des eigenen Begehrens. Wenn sie küssen, verachte ich mich nachher immer mehr oder minder, weil ich das ­Gefühl habe, irgendwie «gebraucht» worden zu sein.77 Und doch – da war dieses Verlangen, und da waren auch die Gefühle, die sie für beide Männer hatte. Emotionen, die sie verwirrten, weil sie sie nicht ein­ordnen konnte. Man kann78 doch nicht beide mit seinem ganzen Sein lieben. (…) Es geht, solange ich vor keine Entscheidung gestellt werde. Was aber dann?,79 fragte sie ihr stummes Tagebuch. Dann beschwich­tigte sie die kritische Stimme in sich. Wenn sie beide an mir etwas lieb haben, wenn ich beiden etwas sein könnte, warum sollte ich dann nicht mit beiden gehen? Von mir aus wäre es ja keine Lüge.80 Und als der Sommer begann und die doppelte Liason mittlerweile fünf Mona­te andauerte, hatte sie mit ihren Gefühlen Frieden geschlossen. Ich bin ganz wahnsinnig zufrieden und glücklich, freue mich zu leben, studieren zu dürfen und die Liebe zweier Menschen in meinen Händen tragen zu dürfen. Sie glauben beide an mich, haben mich beide lieb. Was brauche ich danach zu fragen, dass es zwei sind! Ich habe sie ja auch beide lieb.81

Ihre Freundinnen verfolgten Gretis Liebesabenteuer mit Anteil­nahme und verurteilten sie nicht. Emmy Sonderegger, die sie in der Haushaltungsschule82 kennengelernt hatte, sprach ihr Mut zu. Man soll lieber recht viele kennenlernen, um dann später nicht hineinzufallen.83 Auch Cousine Gretly Puorger, die Medizinstudentin, ermutigte Greti. Du erlebst dabei eigentlich doppelt viel Schönes, lebst eigentlich zweifach.84 Die experimentierfreudige Hildi Hügli, Freundin aus der Kantonsschule, hatte erst recht keine moralischen ­Bedenken. Sie war mit ihrem Liebsten schon viel weiter gegangen – was kümmerte sie da, dass Greti zwei Männer küsste. Wenn sie der Freundin dennoch riet, sich von Gian zu trennen, dann tat sie dies aus anderen Motiven: Sie fand den Ingenieursstudenten zu streng, zu geradlinig und ernsthaft, kurz: zu farblos für Greti.85 Die verteidigte ihre Liebe: Mit Gian verbinde sie vielleicht nicht die grosse Leidenschaft, aber: Er ist doch der Einzige, den ich je liebte. (…) Er ist der Einzige, der einigermassen dem Fragen nach mir selbst Antwort gab. Sie, Greti, könne nur einen wie ihn heiraten: In ihm hätte ich einen Menschen, der meiner Unruhe die Ruhe, der meiner Furcht vor dem Morgen die Sicherheit im Jetzt, meiner unzuverlässigen Toleranz die unbedingte Zuverlässigkeit und Treue entgegenzusetzen hätte.86

Eine vergleichbare Nähe spürte sie zu ihrem zweiten Lieb­ha­ber, Ernst Bener, nicht. Dem Frauenstudium stand er skeptisch ge­genüber, und als Greti in den Herbstferien der Grossmutter in Furna im Haushalt und im Stall half, spottete er über die Haus-, Schwein- und Hühnermutter. Dies seien eben keine Arbeiten für einen Mann!87 Greti spürte immer deutlicher, dass es mit Ernst nicht das Rechte war. Bei ihm war sie froh, einen zu haben, während sie bei Gian glücklich war, ihn zu haben. Doch Gianins Liebe schien ihr alles andere als gewiss. Er hielt sich immer noch bedeckt über seine ­Gefühle für sie und genoss einfach das Zusammensein mit ihr. Sie hingegen wünschte sich immer drängender ein Bekenntnis. Schliesslich stand für sie viel mehr auf dem Spiel als für ihn. Sie wünschte sich Kinder und brauchte dazu einen zuverlässigen Mann. Zugleich war es unausweichlich, dass sie die Theologie der Familie würde opfern müssen – und wenn sie gezwungen war, dieses Opfer zu erbringen, so wollte sie sich ihrer Sache zu hundert Prozent sicher sein. In ihrer Not schrieb sie ihm kurzerhand, ihr scheine es, ihre Beziehung habe ihr Ende erreicht. Diese Intervention provozierte ein offenes Gespräch zwischen den beiden, bei dem sie einander ihr Seelenleben offenbarten. Es stellte sich her­aus: Auch er hatte sie als distanziert wahrgenommen.

Tagebuch, 3. Dezember 1926

«Nun wirst du nicht mehr so kalt sein», sagtest Du. Du Giannin fühltest Du denn die ganze lange Zeit nicht, dass hinter der Maske meiner Kälte ein zages, schwaches Herz in heissestem Sehnen Dich rief? Weisst Du denn nicht, dass ich auch nur ein Weib bin mit einem kleinen, zitternden Herzen?

Zürich, 7. Dezember 1926, Gian an Greti

Du liebes Greti,

Ich finde gerade auch in diesem Scheusein, das meinerseits gewiss ebensogross war, etwas Feines. Nun ist etwas geschehen, etwas Grosses, dass diese böse «Maske der Kälte» genommen hat (…).

Nun, da die Verhältnisse zwischen ihr und Gian geklärt waren, wollte Greti ihn ihren Eltern vorstellen. Als der Vater davon erfuhr, reagierte er wutentbrannt. Du sollst studieren, und ausser dem Stu­­dium hat weder jetzt noch später irgendwann irgendetwas zu existieren für Dich!,88 herrschte er sie an und versagte ihr in seiner Eifersucht den üblichen Kuss vor dem Schlafengehen.89 Joos Roffler fürchtete, den ersten Platz im Gefühlsleben der Tochter zu verlieren, ihr nicht mehr Anker und Orientierungspunkt zu sein. Ausserdem sah er seine Ambitionen in Gefahr: Wenn sie heiratete, würde sie dereinst nicht in seine Fussstapfen treten.

Seine Frau Betty brachte der Tochter mehr Verständnis entge­gen. Sie hatte selber als Jugendliche Schule und Liebe gegeneinander abgewogen. Ihr Vater Tobias Luk war Kantonsbuchhalter in Chur, ein fortschrittlich denkender Mann, der in jungen Jahren in Russland und Amerika sein Glück versucht hatte90 und die Tochter auf die Kantonsschule schicken wollte – Anfang der 1890er-Jahre ein unerhörtes Ansinnen, noch waren Mädchen nicht zur Matur zugelassen. Doch Betty, so erzählt es Greti später in der Familienchronik, mochte nicht stillsitzen und lernen. Lieber ging sie mit ihren Freundinnen zum Tanz. Die Liebeslust der eigenen Tochter konnte sie darum nachvollziehen.

Nicht so die Grosseltern in Furna, die sich um Gretis Ruf als ehrbare Jungfrau sorgten.91 Der Enkelin blieb neben dem Studium ohnehin zu wenig Zeit für die Entwicklung ihrer hausfraulichen Fähigkeiten.

Elsi Aliesch-Nett, geb. 1925, Gretis Cousine

zweiten Grades, aufgewachsen in Furna92

Gretis Grossmutter maulte, ein Studium brauche eine Frau nicht, das gebe dann keine gute Hausfrau. Greti konterte, das wolle sie dann schauen, ob sie keine rechte Hausfrau sein könne. Sie hatte dann ja sechs Kinder. Sie hat schon bewiesen, dass man das alles kann!

Im Dezember 1926, fast ein Jahr nach dem Bündnerball, gelang es Greti dennoch, die Einwilligung des Vaters für den Antrittsbesuch des Liebsten in Igis zu erlangen. Zu Beginn der Weihnachtsferien, auf dem Weg nach Pontresina, besuchte Gian sie im elterlichen Pfarrhaus. Sie zeigte ihm das Dorf ihrer Kindheit und führte ihn ins leere Kirchenschiff, wo sich die beiden unter der Kanzel von Gretis Vater lange küssten. Dies aber war der schönste Gottesdienst, den ich erlebt. Von der Wand winkte tröstlich der Spruch: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.» Und meine Augen entdeckten auf der andern Seite den Psalm: «Dein Wort ist meinem Mund süsser denn Honig», den er viel logischer las: «Dein Mund ist süsser denn Honig.» Was Wunder, dass wir lange hatten, die Kirche anzusehen!93 Siehe da: Mit seinem Charme und Humor eroberte Gian die Herzen sämtlicher Pfarrhausbewohner.94 Nur Joos Roffler hoffte insgeheim, die Flamme der Tochter werde bald erlöschen.

Tina Münger, 1925–2017, Pflegekind bei Gretis Eltern

vom ersten Lebensjahr bis zur Konfirmation95

Meine Eltern litten beide unter Tuberkulose und starben bald nach meiner Geburt. Ich kam dann als Pflegekind ins Pfarrhaus von Igis. Die Pfarrerskinder waren schon gross, Greti studierte in Zürich, Christa, der jüngste, war zehn Jahre alt.96 Papa Roffler war ein hochintelligenter Mensch, er hatte ein grosses Wissen, und er konnte sehr charmant sein. Aber er war sehr jähzornig, und er führte ein strenges Regime. Man ist nicht an ihn herangekommen. Er hatte recht und damit basta. Punktum, hat er immer gesagt. Punktum. Ich war sehr empfindlich, laute Diskussionen waren für mich tödlich. Einmal fragte ich die Mama: Warum hast Du diesen Mann geheiratet? Der hat ja immer schlechte Laune, Tag für Tag schlechte Laune! Sie sagte dann: Weisst Du, er ist ja sonst ein Lieber. Erst später habe ich gemerkt, dass nicht überall so eine Atmosphäre herrscht wie bei uns. Non und Nona etwa, die Eltern von Gianin, die waren ganz andere Leute. Für mich war das wie ein Sonnenaufgang, wenn die kamen. Die brüllten und stritten nicht wie Rofflers. Sie waren immer ruhig und nahmen es gemächlich.

Elsi Jenny-Roffler, 1911–1998, Schwester von Greti,

in einem selbst verfassten Lebenslauf97

Der Vater war ein strenger, aber sehr besorgter Patriarch, die Mutter war ein liebevolles Aufstehmännchen. Sie hatten sich sehr gut ergänzt.

Für Greti war der Vater die dominante Figur, Gian hatte zu seiner Mutter die engere Beziehung. Christina Lendi war in Celerina als Tochter eines Hoteliers, Pferdefuhrhalters und Weinhändlers ­aufgewachsen. Vor Gians Geburt hatte es das Schicksal nicht gut gemeint mit ihr: Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter bei der Geburt eines jüngeren Geschwisters.98 Die zweite Ehe des Vaters war unglücklich, er begann zu trinken und nahm sich schliesslich im Inn das Leben. Christina hatte damals gerade den Baumeister ­Johann Caprez aus Pontresina geheiratet und ihr erstes Kind gebo­ren. Kurze Zeit später wurde das Kind krank und starb ebenfalls. Voller Sorge war sie bald schwanger mit ihrem zweiten Kind. Der 5. Mai 1905 wurde zu ihrem Glückstag: Sie gebar Johann Rudolf, den alle nur rätoromanisch Gian nannten und der ihr Ein und ­Alles wurde.

Materiell hatten Gians Eltern keine Sorgen, das Baumeister­geschäft lief in Zeiten des boomenden Tourismus im Oberengadin prächtig, und Johann Caprez war ein geschickter Geschäftsmann, der durch Spekulation zu einem beachtlichen Vermögen kam.99 Nicht mit Geld zu kaufen war die Gesundheit. Kinderkrankheiten wurden lebensbedrohlich. In einer kritischen Nacht gaben ihn die Ärzte auf, doch das Kind war zäh. Allerdings verursachte ein Gelenkrheuma ein Herzleiden, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Trotz seiner zarten Konstitution und der überbehütenden Mutter war Gian kein vorsichtiges Kind. Auf dem Flachdach des Elternhauses ging er mit Freunden gefährliche Mutproben ein, sprang zwischen Kamin und Dachkännel hin und her oder wetteiferte darum, die Starkstromleitung zu berühren, ohne vom Schlag getroffen zu werden. Um sich ein Taschengeld zu verdienen, pflückte er auf dem Friedhof Edelweiss und verkaufte sie an Touristen. Bei Skirennen war er meist der Schnellste, und auch im Bergsteigen entwickelte er einen grossen Ehrgeiz und kletterte allein durch exponierte Felswände.

Als Greti später Gians Familiengeschichte erfuhr, meinte sie zu verstehen, wo seine Schüchternheit und Wohlanständigkeit, seine Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe herkamen. Schuld daran war in ihren Augen seine zu enge Mutterbindung. In Tat und Wahrheit, so war Greti überzeugt, schlummerte in ihm ein wildes Kind, das von seinen Eltern beschnitten worden war. Es wurde eingeschüchtert und eingeschlossen in die (…) Nützlichkeits- und Anstandsregeln, die da Convention heissen. (…) Da ging er lieber unten auf dem festen Erdboden, lieber – Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, lieber Knecht in Wohlbehütetheit als eigener Herr in Gefahr. (…) Er lernte ein Mädchen kennen, dessen Liebe voller Widersprüche und Heftigkeit und heissem Sehnen war. All das Wilde, das an ihm abgetan worden und das er selber abgetan, fand er in ihm wieder. Sie war auch wirklich nicht lebenstüchtig, für das Leben, wie er es bis jetzt verstanden. Denn sie sah zu viel, sagte zu viel, schwieg zu wenig und versuchte immer wieder, sich durchzusetzen. (…) Vielleicht dass er sie (…) von ihrer Masslosigkeit und Rohsein erlösen konnte, in ihrer Demut des liebenden Weibes und süssen Beugens unter seinen Willen, unter das Feine und Zarte, das neben seinem Herrentum sein Wesen ausmacht. Feine und zarte, selbstsichere und selbstbewusste Eigenwilligkeit – dies ist er. Und in Liebe zu ihm verfeinerte, ausgeglichene Eigenwilligkeit – dies ist sie: beide in ihrem anzustrebenden Ziel.100

Christian Caprez, geb. 1942, Sohn von Greti und Gian Caprez101

Ich war als Kind oft in den Ferien bei meinen Grosseltern Johann und Christina Caprez-Lendi in Pontresina, die ich Non und Nona nannte. Der Zvieri hiess bei Nona Afternoon Tea, mit Biskuits, englischem Kuchen und Birnenbrot. Die Butter servierte Nona in einem schönen Geschirr mit einem Buttermesser. Manchmal kam ihre Cousine aus Celerina zu Besuch, und wenn Nona ihr das Butter­geschirr über den Tisch schob, machte die Cousine mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, schob das Buttermesser zur Seite und nahm ihr eigenes Messer, um sich ein Stück Butter abzu­schneiden. Nona sagte nichts, schob ihr aber Geschirr und Buttermesser noch einmal hinüber. So ging es hin und her, aber es wurde nie ein Wort gewechselt.

Die illegale Pfarrerin

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