Читать книгу Die illegale Pfarrerin - Christina Caprez - Страница 20
Warten
ОглавлениеMitte Oktober 1930, nach dem letzten Examen, fuhr Greti Caprez-Roffler nach Igis zu ihren Eltern. Bis zur Geburt blieben ihr drei Monate. Sie quartierte sich im Pfarrhaus in ihrem Mädchenzimmer ein, dem geliebten blaugestrichenen Zimmer, in dem sie und Gian vor anderthalb Jahren die Hochzeitsnacht256 verbracht hatten. Wie viel war seither geschehen! Nun hiess es nur noch warten, bis das Kind kam.
Sie vertrieb sich die Zeit mit Hausarbeiten und Besuchen im Dorf, sie half der Mutter und den Schwestern Käti und Elsi bei der Buchi (Wäsche), und bei der Metzg257, sie knackte Nüsse für das geliebte Birnbrot258, strickte weisse Wollhöschen für das Kind und richtete ihm einen Korb259. Im Dorf sprach man sie nun mit Frau Pfarrer oder Frau Caprez an. Die verheirateten Frauen nahmen sie in ihren Kreis auf und erzählten ihr von den Problemen mit ihren Männern, von sexueller Frustration, von Schwangerschaften und Geburten. Zu Hause geriet sie immer wieder mit ihrem Vater aneinander, sie stritten über theologische Fragen und über die Erziehung des Bruders Christa, der zehn Jahre jünger war als Greti.260
Als Erstgeborene hatte Greti das Sagen unter den Geschwistern. Die dreieinhalb Jahre jüngere Käti besass zwar ebenfalls einen harten Schädel, doch der Älteren folgte sie ohne Murren.261 Elsi, fünf Jahre nach Greti geboren, war der Wildfang. Als die Mutter mit ihr schwanger war, wünschten sich alle in der Familie einen Jungen. Bei der Geburt schickte der Vater seinen Eltern eine Karte nach Furna: Unser Bub ist angelangt, und es heisst Elsi.262 Erst fünf Jahre später kam mit Christa der ersehnte Sohn zur Welt. Doch da hatten zwei der älteren Schwestern seinen Platz schon besetzt, jede auf ihre Art: Elsi, an der so gar nichts Mädchenhaftes war,263 und Greti, die durch ihre Intelligenz herausstach.264 Alle drei Mädchen hatten die Sekundarschule besucht, doch nur Greti auch das Gymnasium. Die musikalische Käti hatte ein Jahr am Konservatorium in Neuenburg Gesang studiert. Nun sass sie wieder zu Hause im Pfarrhaus und verbrachte die meiste Zeit mit Lesen. Tauchte ein Verehrer auf, verkündete sie, die Männer seien ihr so gleichgültig wie Telefonstangen.265 Elsi, gerade zurückgekehrt von einem Welschlandjahr an einem Töchterinstitut, wartete auf ihren zwanzigsten Geburtstag, das Mindesteintrittsalter für die soziale Frauenschule in Zürich.266 Elsi ist fortwährend unzufrieden, reizbar, ärgerte sich Greti in einem Brief an Gian. Dass es für sie (…) nicht leicht ist, Haustochter zu sein, begreife ich gut. Ich wollte und könnte es nicht sein, Du auch nicht. Hausfrau ist schon etwas Anderes, Selbständigeres, Berufhafteres.
Abends lasen die drei Schwestern mit ihrer Mutter Eine Frau allein, einen Roman der Amerikanerin Agnes Smedley. Begeistert berichtete Greti Gian davon. Das musst Du auch einmal lesen. Eine Frau aus den untersten Volksschichten, die an nichts mehr glaubt, vor allem nicht an die Ehe, und nur um eines kämpft: Freiheit der Frau und aller Unterdrückten. Mir war dies ja alles, wenn auch ein bisschen in anderer Form, unser eigener Kampf. Siehst Du, wir wollen frei und unabhängig von Euch sein, weil unsere Liebe dann etwas ganz anderes ist. Wir dürfen Euch dann lieben, in Freiheit, einfach deshalb, weil wir Euch lieben, nicht aber weil wir abhängig und gebunden sind oder weil es unsere hausfrauliche Pflicht ist.267
In Brasilien konnten die Aufständischen die Revolution inzwischen für sich entscheiden: Ihr Anführer, Getulio Vargas, hatte die Macht übernommen und versprochen, der Misswirtschaft ein Ende zu setzen und Politiker, die sich an Staatsgeldern bereichert hatten, zu bestrafen. Als er am 30. Oktober in São Paulo eintraf, feierte ihn eine tobende Menschenmenge. Viva a Revolução!, tönte der Triumphgesang in den Strassen. Gian mischte sich unter die Jubelnden. In seinen Briefen hatte er sich bisher über die Ereignisse ausgeschwiegen (um die Liebste nicht zu beunruhigen?).268 Nun schickte er ein Foto in die Schweiz: Ein Demonstrationszug von Männern und Frauen mit lachenden Gesichtern, die ihre Hüte in die Luft warfen vor Freude. Die Schweizer Illustrierte Zeitung druckte das Foto in der Ausgabe vom 27. November ab,269 zusammen mit weiteren Bildern, auf denen die Verwüstungen zu sehen waren, die aufgebrachte Revolutionäre in den Redaktionen regierungstreuer Zeitungen angerichtet hatten. Jahre später erinnerte sich Gian in der Familienchronik daran, wie er und die Kollegen am Polytechnikum die Ereignisse erlebt hatten: Wir sind heil davongekommen, wir gehören sogar zu den Siegern! Unser Direktor war selber Revolutionär.270
Als Zwölfjährige hatte Greti ebenfalls revolutionsähnliche Zustände erlebt, auf die sie sich damals keinen Reim hatte machen können. Die starke Teuerung und die schlechte Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkriegs hatten die Not der Arbeiterfamilien so gross werden lassen, dass es im November 1918 zu einem landesweiten Generalstreik kam, der schwersten politischen Krise seit der Gründung des Bundesstaates. In Graubünden streikten die Angestellten der Rhätischen Bahn,271 was die Pfarrerstochter direkt zu spüren bekam und im Tagebuch festhielt. Heute morgen sagte Mama zu mir: «Greti, Du musst nach Chur laufen.» Ich antwortete: «Warum, ich kann doch mit dem Zug fahren, warum laufen?» «Es fährt eben keine Bahn, nur morgens und abends Militärzüge. Die Sozialisten streiken und die andern können allein auch nichts machen.» Also entschlossen sich Käti und ich, die Reise zu wagen. Als wir beide um Viertel nach zehn Uhr am «Znüni» sassen, – das Käti und mir das Mittagessen ersetzen sollte – , hörten wir plötzlich viele Fuhrwerke vorbeifahren. Wir eilten ans Fenster und sahen Wagen, auf denen viele Soldaten sassen. Wir fragten nun, ob wir auch mitfahren dürfen. Sie liessen uns auf dem hintersten aufsitzen. Jetzt ging’s schnell nach Zizers hin. Dort wurde eine halbe Stunde Rast gemacht. Wir froren entsetzlich. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, setzte sich auch noch ein betrunkener Mann auf die hintere Bank in unserem Wagen. (…) Als wir in Chur anlangten, stiegen wir ab und bedankten uns. Wir besorgten Papas Brief und Medizin und kauften uns zwei «Schilt» [vier helle Brötchen aneinander]. Dann begaben wir uns auf den Heimweg.272
Die Kinder sahen es als Abenteuer, für die Eltern war die Situation existenziell. Die Spanische Grippe raffte 1918 in der Schweiz fünfundzwanzigtausend Menschen dahin.273 Joos Roffler lag mit vierzig Grad Fieber im Bett, die Medizin, die die Töchter in Chur holten, rettete möglicherweise sein Leben. Doch der Pfarrherr dachte nicht an den Tod. Aus dem Krankenbett schrieb er einen Leitartikel für den Graubündner General Anzeiger, dessen Redaktion er neben dem Pfarramt führte, und bezog Stellung zu den nationalen Ereignissen. Dabei wetterte er gegen die Linken, die seiner Ansicht nach nicht versucht hätten, ihre Forderungen im Parlament durchzusetzen, und nun mit brutaler Gewalt agierten. Ist das nicht ein frevelhaftes Spiel, das da zum Schaden des ganzen Volkes getrieben wird von Männern, die einer gläubigen Menge vorgaukeln, gute Demokraten zu sein und doch bis über die Ohren in anarchistischen Anschauungen drinstecken?274 Die Methoden der Streikenden verurteilte er, ihre Forderungen hingegen unterstützte er. Es sind teilweise Postulate, zu denen man mit ganzem Herzen stehen kann. Wir nennen nur die Alters- und Invalidenversicherung. Zu deren Durchführung soll aber der gesetzliche275 Weg betreten werden. Zur Forderung nach dem Frauenstimmrecht schwieg er.
Dafür hatte er sich kurz zuvor dezidiert zum kirchlichen Frauenstimmrecht geäussert, über das in Graubünden am 13. Oktober 1918 abgestimmt worden war. Mit Verve hatte er die reformierten Männer dazu aufgerufen, ein Ja in die Urne zu legen. Die Frau als die erste Pflegerin des erwachenden religiösen Lebens im Kinde und als der nach seiner Gemütsanlage ganz besonders empfängliche und zahlreichere Teil der Kirchenbesucher hat entschieden ein Recht darauf, in kirchlichen Dingen, wie z. B. bei Pfarrwahlen, bei Entscheidungen über die Ausgestaltung des kirchlichen Unterrichts und dergleichen auch gehört zu werden. Die Befürchtung, solche Mitarbeit könnte sie ihrem eigentlichen Berufe als Mutter, als Erzieherin der Kinder entziehen oder gar entfremden, hat sich in den Gebieten der Schweiz und anderer Länder, welche darüber zum Teil schon langjährige Erfahrungen besitzen, als unbegründet erwiesen.276 Dass de facto erst Bern und Basel das kirchliche Frauenstimmrecht eingeführt hatten, und das auch erst vor wenigen Monaten,277 verschwieg er. Stattdessen stellte er das Stimmrecht als logische Konsequenz eines lang zuvor gefällten Entscheids dar. Schon längst haben wir zur Gleichstellung der Frau den ersten Schritt getan mit Einführung der gleichen Schulpflicht für Knaben wie Mädchen. Das hat seinerzeit ganz ähnliche Bedenken gerufen wie jetzt die Forderung des Frauenstimmrechts.278
Für Joos Roffler waren die Weichen gestellt. Das Abstimmungsresultat schien ihm Recht zu geben: Die reformierten Männer Graubündens nahmen das Frauenstimmrecht in den Kirchgemeinden mit 56,4 Prozent Ja-Stimmen an. Ein klares Resultat, möglicherweise begünstigt durch den Umstand, dass kaum ein Wahlkampf stattgefunden hatte.279 Wegen der Spanischen Grippe waren Gottesdienste und Versammlungen teilweise verboten, und das Abstimmungsmaterial hatte die Stimmberechtigten erst wenige Tage vor dem Urnengang erreicht. 280Mit derlei Spitzfindigkeiten hielt sich Joos Roffler nicht auf. Er dachte weiter. Es wird sicher eine Zeit kommen, wo man es ebenso selbstverständlich findet, dass die durch die Schule dem Manne ebenbürtig ausgebildete Frau diese Bildung auch gleich dem Manne frei betätigt.281 So wie Schulpflicht und kirchliches Stimmrecht nun eine Tatsache waren, würde den Frauen auch bald das Recht auf Berufstätigkeit eingeräumt, und somit den Theologinnen auch das Recht, als Pfarrerinnen zu amten.
Zwölf Jahre später, als seine älteste Tochter ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte und in ihrem Elternhaus der Geburt ihres ersten Kindes entgegensah, war Joos Rofflers Vision noch weit entfernt davon, Realität zu werden. Dass Theologinnen nach geltendem Recht kein Pfarramt übernehmen durften, war das Eine. Dass aber nicht einmal die Frauen sich eine Frau auf der Kanzel vorstellen konnten, war für Greti im Oktober 1930 eine bittere Erkenntnis. Hoffnungsvoll war sie von Igis nach Chur gefahren, froh um die Abwechslung von ihrem Alltag als werdende Mutter im Pfarrhaus bei den Eltern und Geschwistern. Ihre Freundin Verena sprach auf Einladung des Vereins Junge Bündnerinnen über die Mithilfe der Frau in Kirche und Gemeindedienst.282 Das Referat begeisterte Greti, doch die andern Frauen im Saal teilten ihren Enthusiasmus nicht. Ich habe nicht gewusst, dass ich einem Verein angehöre, dessen eine Tendenz ist, die Frau ins Haus zurückzuführen!!283
In ihrer Wut sah sie sich die Koffer packen und nach Brasilien zurückkehren. Doch dann erwachte ihr Kampfgeist. Wo sogar die Frauen so rückwärtsgewandt dachten, war ihre Arbeit umso nötiger. Sie schrieb an Gian: Zunächst gilt es, ihnen einfach die Möglichkeit, Frau und Mutter und Beruf zu vereinen, vorzuleben. Dass dazu vor allem ein ganz fabelhafter Mann gehört, daran wird nie gedacht, aber für mich bist Du deswegen doch der tragende Grund, ich weiss es doch. Der Mann wird von ihnen überhaupt nie zur Familie gerechnet. Die Mutter und Kinder mehr ins Haus!! Vom Vater wird nicht gesprochen, der hat das Geld zu bringen.284
Greti wusste wohl, wie unerhört ihre Ideen waren. Nachts im Traum holten ihre Ängste sie ein. Ich hatte eine Mathematikklausur, lag aber auf einem Bett, in einem anderen lagen285 der Professor und ein paar Schüler, wir waren alle angekleidet. Ich hatte Mühe, mit der Arbeit zurechtzukommen: ein Kind kletterte zu mir ins Bett, ich warf es hinaus, es kletterte noch einmal herein, und ich warf es wieder hinaus. Dann erwachte ich und erschrak: was war dies anderes als der Konflikt zwischen meiner Arbeit und «ihm». Dass ich aber so unbereit für «es» sei, hatte ich nicht gedacht.286
Ihre Freundin Verena konnte Gretis Zwiespalt gut nachfühlen. Ja, ja, mein Liebes, ich muss auch immer und immer wieder denken, ob es nicht Hybris ist, was wir uns da zumuten, ob wir es eigentlich eben doch nicht können. Aber: Das Wort ward Fleisch. Was nützt uns denn unser Glaube, wenn ein Leben von Gott her nur denen möglich ist, die sich doch mehr oder weniger gründlich vom Leben mit seinen Ansprüchen gerettet haben? Nein, im Leben und in unserem Beruf und in der Ehe stehend müssen wir verkünden, müssen gerade von den Dingen reden, über die man sonst gewöhnlich schweigt und die für gewöhnlich mit so viel Lügen umgeben sind, eben weil die, die von ihnen reden könnten, ihnen zu ferne stehen und daher auch schweigen: den Beziehungen zu den andern Menschen!287
Zunächst galt es für Greti, die kommenden Wochen und die Geburt zu meistern. Sie war froh, nicht mehr im subtropischen Klima São Paulos zu sein. Husten, Augenprobleme, Blasenentzündung – während des Jahres in Brasilien war sie kaum je gesund gewesen. Zum Arzt ging sie nun nicht, weil sie krank war, sondern um ihn nach den Möglichkeiten einer schmerzfreien Geburt zu fragen. Auch Doktor Jeklin hatte vom Rezept des Leipziger Mediziners gelesen und war bereit, das Medikament an Greti auszuprobieren.288 Die Suche nach einer Hebamme gestaltete sich hingegen schwierig. Eine stand selber kurz vor der Niederkunft, eine andere musste ihren kranken Vater pflegen.289 Nach Chur ins Spital wollte Greti nicht. Der dortige Arzt, Doktor Müller, galt als unfein und grob. Er war Greti schon zum Vornherein so unsympathisch, dass sie sich vor ihm nicht einmal ausziehen mochte. Ich kann doch nicht in einer Wut auf den Arzt Dein Kind gebären,290 erklärte sie Gian. Dass er bei der Geburt nicht dabei sein würde, erfüllte sie mit Schmerz. Dein Ätti hatte bei Elisabeths Geburt Dein Mami in seinen Armen gehalten. Es ist wohl unmöglich, dass Du in zwei Monaten bei mir bist! Wenn ich meinen Kopf an Deiner Brust bergen könnte, wollte ich am liebsten gar niemand sonst um mich haben. (…) Ihr beiden Caprez habt es los, mich warten zu machen, Du schon lange und das Kleine nun auch.291
Auch bei den Schwiegereltern in Pontresina verbrachte Greti einige Tage. Gians Mutter heizte ihr das Zimmer und bereitete ihr warme Bäder. Greti genoss es, umsorgt zu werden und bis neun Uhr zu schlafen. Noch dampfend vom Bad lag sie im Bett, das Fenster geöffnet, so dass sie den Brunnen hören konnte.
Pontresina, 8. November 1930
Geliebtes Du,
Ich schlafe im fünf, wo Du einmal eines Morgens früh auf meinem Bettrand gesessen. Zimmer vier ist zu einem gemütlichen Arbeitsstüblein geworden. Liebes, es war anfangs etwas merkwürdig für mich, hier in Deinem Elternhaus zu sein, ohne Dich, und überall Spuren von Dir zu finden. (…) Es ist alles so unglaublich gesichert, ruhig und ohne Sorgen. Sie haben sich vollkommen ausgesöhnt mit meiner Existenz. Wir haben auch nicht die kleinste Meinungsverschiedenheit. Geliebter, es ist ja gut so; dass sie im Grunde unmöglich das billigen können, was ich vertrete, darüber braucht man ja nicht zu sprechen.(…) Ich bin sonst das Nachgeben jetzt schon ordentlich gewöhnt oder tue wenigstens dergleichen.292
Gians Vater war zwar so aufgeschlossen, seine Tochter in einen Fahrkurs zu schicken, so dass sie zu den ersten Autolenkern im ganzen Kanton gehörte.293 In Bezug auf Gretis Ambitionen jedoch schien er die Skepsis seiner Frau zu teilen.294
Gians Verwandte und Bekannte wollten die Schwangere sehen. Für Greti waren es oft Höflichkeitsbesuche. Mit Grauen begegnete sie Tante Ghita, deren Begrüssungsküsse sie nicht ausstehen konnte. Als sie sich bei der Schwiegermutter beklagte, Gian müsse sich von ihrer Verwandtschaft auch nicht verküssen lassen, antwortete die, bei den Männern sei dies halt anders. Diesen Unterschied wollte Greti nicht akzeptieren. Weisst Du, fragte sie Gian rhetorisch, warum man bei einer Frau eher das Recht hat, sein Maul an ihrer Gesichtshaut herumzuschmieren, als bei einem Mann?295
Während in Pontresina der erste Schnee fiel, traf aus São Paulo ein Brief von Gian ein, der beschrieb, wie er sich auf dem Dach in Badehosen in den Sommerregen stellte, um sich abzukühlen.296 Liebevoll wandte er sich an das Ungeborene im Bauch seiner Ehekameradin. Gell Du liebes Kleines machst es ihr nicht allzu schwer, weisst, sie ist lieb gewesen mit Dir und tapfer. Du wirst einmal viel Freude haben an Deiner Mutter, die mit Dir allein übers weite Meer gefahren ist und mit Dir zusammen Examen machte. Schläfst Du am Abend schon früh? Kannst Du Mami auch ein wenig streicheln, so tue es am Morgen, wenn sie aufwacht, oder am Tage, wenn sie an Dich denkt, und sage ihr auch, dass ich sie sehr, sehr lieb hätte.297 Greti mochte nicht mehr warten. Sie, die es gewohnt war, ihr Leben zu planen, hielt die Ungewissheit kaum aus. Düstere Gedanken suchten sie heim, Vorahnungen, die sie nur ihrem Tagebuch anvertrauen mochte. «Es» ist unterdessen sehr gross geworden und wird nun bald, bald von mir weggehen.
Brüderlein, wenn ich dann sterbe, dann sind diese Zeilen für Dich. Ich habe Dich sehr lieb gehabt. (…) Unsere Liebe ist mir greifbarer, wirklich gewordenes Bild für Gottes Liebe. (…) Dann denke ich aber auch, dass Du sehr lieb und grosszügig warest mit mir, dass Du nie versucht hast, mir irgendwie meine Freiheit einzuschränken und dass Du sehr gut verstanden hast, dass es schwer für uns ist, Frau zu sein und auch schwer, Theologin zu sein. Du hast mich als Theologin, als Frau und als liebendes Weib verstanden. Dies muss oft sehr schwer gewesen sein für Dich, da für alle drei Fragegebiete Deine Familie und Deine Umgebung Dir das Verständnis in dieser meiner Richtung nicht gegeben hat. Du hattest gar nichts anderes als das Einfühlungsvermögen Deiner feinen Seele. Brüderlein, Du musst nun nicht traurig sein. Sieh, wenn ich am Leben geblieben wäre, wäre ich vielleicht in allen drei Richtungen gescheitert. Vielleicht wäre298 ich an meinem Beruf verzweifelt, ich wäre im Kampf für die Frauenbewegung verbittert und ich hätte unsere Ehe gebrochen, indem wir uns nicht mehr verstanden.299
Mit 24 Jahren sorgte Greti Caprez-Roffler peinlich genau vor, was bei ihrem Ableben geschehen sollte.300
Testament
Gültig für den Fall, dass ich an der Geburt des ersten Kindes, also im Januar 1931, sterbe.
I. Wenn das Kind auch stirbt.
1. Wäsche, Kleider, Strümpfe und Schuhe an meine Schwestern. Wobei Gianin das Recht hat, sich etwas z. B. den Hochzeitsrock zum Andenken auszuwählen, falls er dies will. Dazu hat er Anspruch auf siebzig Franken für Strümpfe und Schuhe, die vor Kurzem aus seinem Geld gekauft wurden. Auch die Schuhe, die er gerne tragen will, soll er behalten.
2. Tagebücher und alle andern Bücher, die Gianin wünscht, an Gianin.
3. Die übrigen Bücher an Christa oder Papa.
4. Verlobungs- und Hochzeitsgeschenke an Gianin.
5. Patensilber an Mami.
II. Wenn das Kind lebt
1. Wäsche, Kleider, Strümpfe und Schuhe an meine Schwestern, aber zu billigem Preis auszulösen und der Erlös dem Kinde ins Sparheft zu legen.
2. Tagebücher an Gianin.
3. Alle Bücher an das Kind.
4. Verlobungs- und Hochzeitsgeschenke an Gianin, mit ausschliesslichem Erbrecht meines Kindes.
5. Patensilber an das Kind.
Auch in Bezug auf die Trauerfeier hatte Greti klare Vorstellungen. Trübsal blasen sollte die Gesellschaft nicht.
Es soll weder jemand aus meiner noch jemand aus Gianins Familie in Trauerkleidern gehen.