Читать книгу Wenn aus Prinzen Frösche werden - Christina Herrström - Страница 7

3. Kapitel

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Ella sitzt am ersten Tag nach den Ferien in der Schule.

Eine Art schläfriger Enttäuschung liegt über der Klasse. Noch ein Sommer ist vorüber. Und jetzt findet das Leben wieder nach den Vorgaben der Schule statt. Endlose Schulstunden in sauerstoffarmen Klassenzimmern, uninteressante Bücher, die voll geschrieben sind mit kleinlichen Buchstaben, die die Gedanken zu Boden zwingen wollen, und Pausen, in denen man versuchen muss seinen Status zu behaupten.

Urberg, der Klassenlehrer, ist der einzige männliche Lehrer mit Charisma. Er ist nicht jung, sieht auch kaum gut aus, aber um ihn herum ist ein Kraftfeld, es ist verbotenes Gelände, es gilt nicht ihnen, aber alle spüren es. Er läuft auf und ab, ist sich der Blicke der Schüler bewusst und er weiß, dass er sich Zeit lassen kann, ohne die Aufmerksamkeit zu verlieren. Manchmal bleibt er stehen, zwirbelt nachdenklich seinen Schnurrbart und lässt seinen Blick auf jemandem ruhen. Es ist spannend, seinem Blick standzuhalten, man spürt es deutlich, es ist ein Gefühl, das sich im ganzen Körper verbreitet, wenn man ihm direkt in die Augen schaut und er einem direkt in die eigenen. Man weiß nicht, was hinter der Grenze für normales Schauen passiert! Da gibt es einen solchen Sog, obwohl Urberg nur ein Lehrer ist, ein Mann in mittleren Jahren mit grauen Strähnen. Es gilt nicht ihm!

Als Ella am Morgen über den Schulhof kam, stand Martina mit ihrem Hofstaat da und schaute sie an. Zuerst freute sie sich und hatte das Gefühl willkommen geheißen zu werden, aber als sie näher kam, sah sie Martinas eiskalten Blick. Im nächsten Moment klingelte es und Martina drehte sich ohne zu grüßen auf dem Absatz um und verschwand mit ihrem Gefolge im Schulgebäude. Ella ging mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch hinterher. Sie versuchte es abzuschütteln und dachte, ich kümmere mich einfach nicht um sie. Aber es half nichts. Sie sind ihr egal und ihr ist auch egal, was sie denken! Sie sind die Stärkeren. Sie gehören zusammen. Sie wissen immer, wohin sie gehen wollen, sie werden nie allein in einer Ecke des Schulhofs stehen gelassen oder an einem Tisch in der Mensa. Das passiert Ella normalerweise auch nicht, sie ist eigentlich immer mit Josefin zusammen, aber jetzt, da Josefin angefangen hat zu arbeiten, fühlt Ella sich plötzlich allein gelassen.

Martina ist der selbstverständliche Star und Paula und Teres wachen eifersüchtig über ihre Position. Dann kommen Sofi und Camilla, und ganz unten auf der Rangliste kommen die, die akzeptiert werden, aber nicht frech werden dürfen. Die übrigen sind bloß Schatten.

Ella weiß, wie einfach es ist, jemanden auszuschließen. Man muss einfach nicht zuhören, wenn sie etwas sagt, sie konsequent nicht beachten, auch wenn sie neben einem steht, bis sie einsieht, dass sie nur den Platz bekommt, den man ihr zugesteht. Wenn eine versucht sich dem Revier der Macht zu nähern, wird sie niedergemacht und mit dem Absatz in den Asphalt gedrückt wie eine Zigarettenkippe.

Es ist einfach, sie dumm und primitiv zu finden. Ella meint, dass sie das findet. Trotzdem würde sie lieber zu ihnen gehören, und sei es in der Peripherie, als nirgends hinzugehören. Sie sehnt sich nach Josefin.

Und wie steht es mit den Jungen in der Klasse? Ist einer von denen etwa im Lauf des Sommers interessant geworden? Nein, sie sind nicht Fisch, nicht Fleisch! Sie sind keine Männer! Auch keine Jungen, irgendwie lang gezogene Körper. Manche haben noch nicht richtig gelernt mit dem Rasierapparat umzugehen, sie haben kleine Bartflecken auf den Wangen. Andere haben Pickel und schauen mit großen Augen um sich wie neu geschlüpfte Vogeljungen. Ein paar versuchen cool auszusehen, sind aber nur lächerlich. Sie strecken ihre Beine unter der Bank aus und ganz unten, am Ende der mageren Hosenbeine, sitzen unverhältnismäßig große Schuhe. Die Hände wirken schlaff wie leere Plastiktüten. Wer soll sich in so was verlieben können? Ella ist enttäuscht und ärgerlich. Muss sie wirklich hier sitzen, mit ihnen?

»Ihr seid aus freien Stücken hier«, sagt Urberg. »Niemand zwingt euch hierher zu kommen, ihr entscheidet selbst. Eure Wünsche, eure Vorstellungen über euer zukünftiges Leben sind entscheidend. Eure Lust etwas zu lernen!«

Urberg lässt seinen Blick auf Martina ruhen, die reflexartig ihre Brust herausdrückt und versucht seinem Blick länger als normal standzuhalten. Urberg fährt fort: »Wissen ist, wie ihr bereits wisst, eine Voraussetzung für Demokratie. Die Demokratie verlangt von uns, dass wir Verantwortung übernehmen. Aber das Wissen, das ihr bisher erworben habt, reicht nicht aus, damit ihr die Gesellschaft, in der ihr lebt, überblicken und analysieren und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen könnt. Es reicht auch nicht, euch eine gute Arbeit zu geben, ein Leben mit Wahl- und Entwicklungschancen. Deshalb seid ihr jetzt hier. Weil ihr dazugehören wollt! Ihr wollt die Welt erobern!«

Ella schaut über den Schulhof und die tausend Blätter der sonnenwarmen Bäume. Da kommt Anette gelaufen, eine Klassenkameradin, für die Ella sich nicht interessiert, aber hinter ihr kommt jemand, der sehr wohl ihr Interesse weckt. Er geht in die dritte Klasse und bewegt sich wie ein Panther. Sie sieht unter dem schwarzen Jackett seine breiten Schultern und sie kann seine schmalen, wiegenden Hüften erahnen. Sie weiß, dass er süße Grübchen hat, wenn er lächelt. Er heißt Odin. Er hebt ein Papier auf, das Anette verloren hat, und ruft ihr nach. Ella sieht, wie Anette erstarrt, als sie sieht, dass er es ist. Sie strahlt wie ein Kind vorm Weihnachtsmann, als er sie einholt.

»Das gilt besonders für euch Mädchen!«

Urbergs Stimme ist schneidend und Ella hält erschrocken seinem Blick stand.

»Ihr seid an der Reihe. Verwaltet euer Pfund. Nehmt euer Leben ernst.«

Kurz darauf kommt Anette herein, atemlos und verschwitzt. Sie bewegt sich geduckt durchs Klassenzimmer, als glaube sie, sie würde so weniger stören. Sie geht direkt auf den leeren Platz neben Ella zu, während Ella sehr bewusst den Blick weggleiten lässt. Martina, Teres und Paula schielen Ella verächtlich an und kichern heimlich. Anettes Blödheit färbt auf Ella ab, indem sie sich neben sie setzt.

Ella tut so, als würde das überlegene Grinsen ihr nichts ausmachen. Sie versucht sich darauf zu konzentrieren, Urberg zuzuhören. Er schlägt ein Buch auf und beginnt zu lesen.

»›Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschlusskraft und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«‹

Er lässt seinen Blick über die geschminkten Gesichter der Mädchen gleiten und sie antworten sofort mit schmeichelnden Bewegungen und Lächeln, während die Jungen versuchen gescheit auszusehen, als ob sie etwas verstanden hätten.

Urberg dreht sich um, weil er etwas an die Tafel schreiben will, und die Gelegenheit nimmt Martina wahr, um seinen Hintern zu inspizieren. »Guck mal, was für’n Arsch!«, schreibt sie in ihr Heft und stößt Paula an. Sie stecken die Köpfe zusammen und kichern.

»Sapere aude«, schreibt Urberg. »Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ohne die Leitung eines anderen.« Habe Mut! Die beiden Wörter erregen Ella. Habe Mut dich deines Verstandes zu bedienen. Ohne die Anleitung von anderen. Sie schreibt die Worte mit so plötzlicher Freude in ihr Heft, als seien sie allein an sie gerichtet.

Urberg schlägt das Buch mit einem Knall zu.

»Immanuel Kant. Ich bitte euch darüber nachzudenken und außerdem heiße ich euch zu einem neuen und spannenden Schuljahr willkommen.«

Da ist die Stunde auch schon zu Ende. Die mehrere hundert Jahre alten Worte klingeln in Ellas Ohren und all die unangenehmen Gefühle, die sie gerade in ihrer Gewalt hatten, sind wie weggeblasen! Sie fühlt sich munter und aufgeräumt, energisch und fröhlich. Sie hat nicht vor ängstlich zu sein! Sie wird sich nicht niederdrücken lassen! Habe Mut!

Der Pulk von Mädchen bewegt sich durch den Flur, mit Martina an der Spitze, flankiert von Paula und Teres. Hinter ihnen gehen Camilla und Sofi und ganz hinten Ella – und ganz am Schluss Anette.

»Aber er hat einen süßen Arsch!«, sagt Martina.

»Schöne Arme!«

»Und das weiß er!«

»Wer ihn wohl liebt?«, fragt Teres träumend.

»Ob er wohl gut liebt?«, kichert Paula.

»Bestimmt so gut, wie er labert«, piepst Sofi.

Sie brüllen vor Lachen.

»Nie im Leben mit ihm«, schnaubt Martina.

»Mit wem denn?«, fragt Teres neckisch.

»Das weißt du doch!«, antwortet Martina so geheimnisvoll, dass sich bei den anderen das große Meer der Sehnsucht auftut.

»Mit wem?«, fragt Paula eifrig.

»Mit einem Typ, den ich im Sommer in einem Café kennen gelernt habe!«, blökt Martina so laut, dass alle es hören können.

»Habe ich euch von dem erzählt, den ich in Frankreich kennen gelernt habe? Das war cool!«, quäkt Sofi genüsslich.

Sofi? Hat sie etwas mit einem Franzosen gehabt? Teres und Paula heben verärgert ihre gezupften Brauen.

»Der war vielleicht süß!«, fährt sie fort. »Einen Körper! Und dann war er so romantisch!«

»Was? Wie denn?«, zischt Teres. »War er so feurig?«, fährt sie fort, mit gespielter Gleichgültigkeit, als ob sie ihn mit etwas vergleichen könnte.

»Wie ein Präriefeuer!«, antwortet Sofi heiser und drückt sich an Teres und zischt mit schmalen Augen: »Wie ein Vulkanausbruch!«

»Genau so sind sie!«, krächzt Teres schnell und schaut Sofi verächtlich an, als wolle sie damit sagen, dass sie vielleicht ein bisschen freizügig ist. Wer will schon Matratze sein?

»Und meiner erst! Er hat mir den geschenkt!«, blökt Martina und spreizt die Finger. Atemlos sehen alle, dass ein Ring an ihrem Finger glänzt.

»Ich habe einen kennen gelernt, der in einer Band spielt«, erklärt Paula überheblich.

»So eine Kellerband, oder wie?«, fragt Martina von oben herab und lässt Teres den Ring genauer ansehen.

»Sie gehen auf Tournee und spielen eine Platte ein. Er hat einige Stücke für mich geschrieben. Über mich.«

»Und du?«, fragt Martina in die Richtung von Teres.

»Ich habe mich im Sommer in mehrere verliebt«, antwortet sie.

»Ich auch! Erst in den einen, dann in den anderen!«, ruft Camilla.

»Und du, Ella, warst du im Sommer mit jemandem zusammen?«, fragt Martina.

»Oder hast zu Hause gesessen und dich vor Sehnsucht verzehrt?«, fragt Teres.

»Warst du verreist?«, fragt Sofi.

»Oder hast du gearbeitet?«, fragt Martina.

Ella ist darauf nicht vorbereitet. Sie zögert.

»Nein, ich . . . ich habe . . .«, antwortet sie suchend. »Da war ein Typ, der . . . der . . .«

»Der was?«, zischt Martina ungeduldig.

»Ich will vielleicht nicht alles erzählen!«

»War es was Schlimmes?!«, fragt Paula lüstern.

»Nein, aber manches will man doch für sich behalten.«

Die Mädchen lachen sich kaputt.

»Das sagt man immer, wenn man nichts erlebt hat!«

»Anette, hast du etwas erlebt?«, fährt Martina fort.

Anette strahlt, will so gerne von ihren Sommererlebnissen erzählen, aber niemand hört zu. Etwas anderes, viel besseres zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Vor ihnen, am Schrank, steht Odin. Er schaut auf und lächelt sie mit seinen wunderbaren Grübchen an. Alle lächeln wie im Chor zurück. Sein T-Shirt spannt über der Brust und dem muskulösen Bauch unter dem Jackett und das Licht tanzt auf seinen breiten Schultern. Er sieht so selbstverständlich aus, frei wie der Wind. Er macht die Andeutung eines Nickens, dreht sich auf dem Absatz und verschwindet.

»Man sollte vielleicht ein Fest veranstalten, wo man sich kennen lernen kann . . .«, keucht Martina. »Open house. Für alle!«

»Alle?«, grinst Paula mit einem Seitenblick auf Anette.

»Auf jeden Fall alle in der Klasse«, sagt Martina großzügig. »Und für ihn!«

Martinas Augen glitzern. Sie scheint zu meinen, dass er selbstverständlich ihr zukommt.

»Er hat mir heute Morgen die Tür aufgehalten«, sagt Anette eifrig.

»Wirklich? Dann muss er sehr wohlerzogen sein«, schneidet Martina ihr sarkastisch das Wort ab.

Ella sieht, wie etwas Helles, Glückliches in Anette verlöscht. Und da flattern schnelle Worte durch sie hindurch, Worte, die sie zu Anettes Verteidigung sagen will. Das erstaunt sie. Sie sagt nichts, bleibt jedoch noch eine Sekunde länger bei Anette stehen und beantwortet ihren traurigen Blick, als die anderen grinsend weiter durch den Flur segeln.

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