Читать книгу Wenn aus Prinzen Frösche werden - Christina Herrström - Страница 9

5. Kapitel

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Die ersten Regentropfen, die den Herbst verkünden, schlagen sich leise an Josefins Fenster nieder. Erst ist es so wenig, dass man es nicht merkt. Aber kurze Zeit später liegt ein dünner Schleier von Feuchtigkeit über der Scheibe, die Tropfen werden schwerer und trommeln gegen die Scheibe. Josefin öffnet die Augen. Es ist Abend geworden. Das Zimmer liegt im Dunkel.

Ein Mann, jung und stark, mit glänzender Haut, singt in ihren Ohren Liebeslieder. Er wimmert, er schreit. Seine Stimme und seine Worte streicheln sie, heben sie hoch, aber nur, um sie dann wieder in die Realität fallen zu lassen, die Leere und Stille.

Zu ihren Füßen im Himmelbett liegen Zeitschriften, die Antworten auf alle Fragen haben, den Schlüssel zu den Geheimtüren des Lebens, die Losungsworte zu den wunderbarsten Abenteuern.

»Für schöne Augen«, »BH’s, die was herzeigen«, »Dein Äußeres verrät alles« und »In kurzer Zeit den Po formen«. Auf dem Boden, außerhalb der Himmelvorhänge, liegen ungeduldig gelesene Bücher und sorgfältig geschriebene Tagebücher und irgendwo in dem Durcheinander auch das rote Manifest, mit den Lebensregeln in Gold. Platz einnehmen. Zu den eigenen Meinungen stehen. Ziele aufstellen und sie durchsetzen. Das Leben ernst nehmen. Zu lieben wagen.

In ihr ist etwas Großes und Dunkles, das ihr unergründlich vorkommt. Als ob sie selbst daläge, rasend und wild, weil sie eingesperrt ist, nicht verströmt werden darf. Es wird täglich schlimmer.

Als sie noch klein war, konnte sie zu Mama auf den Schoß klettern, wo die Welt geschaukelt wurde. Sie konnte die Arme um ihren Hals legen und die Nase in ihr Haar stecken und Helen hielt sie ganz fest und flüsterte ihr tröstliche Dinge ins Ohr, bis der Sturm sich gelegt hatte und die Welt wieder offen und hell dalag, darauf wartete, dass sie wieder hineinlief und sie sich aneignete. Aber heute, womit sollte Helen sie heute trösten? Dass alles vorübergeht? Dass alles gut wird? Das weiß man nicht. Wie kann man wissen, ob das Leben gut wird, bevor man sich überhaupt ins Leben hinausgewagt hat? Wie soll man wissen, ob man jemanden treffen wird, den man lieben kann? Woher soll man wissen, dass alles gut wird, wenn man nicht weiß, was man machen soll, wohin man gehen soll, wer man sein soll?

Wenn sie nicht im Wohnzimmer an den Eltern vorbeigehen müsste, würde sie zu den kleinen Geschwistern gehen und sich zwischen sie in deren großes Doppelbett legen. Sie würde daliegen, ihrem ruhigen Atem lauschen, einen weichen Arm auf dem Bauch spüren und selbst allmählich einschlafen. Stattdessen steht sie aus dem Bett auf, schiebt die Himmelvorhänge beiseite, geht im Dunkel durch ihr wohlvertrautes Zimmer und lässt das Rollo herunter.

Auf der anderen Seite, im Haus gegenüber, liegt Ella in ihrem Bett und hört die gleiche Musik und sieht den gleichen Regen gegen das Fenster trommeln und in verschlungenen Bächen die Scheibe herablaufen. Vielleicht ist so das Leben, denkt sie, wie der Weg der kleinen Tropfen über die Glasscheibe.

Kajsa sitzt auf dem Sofa, sie hat die Beine hochgezogen und schaut fern. Ella spürt, dass ihre Mutter sich einsam fühlt.

Ungeduldig wünscht Ella sich, dass endlich etwas passiert. Sie muss hinaus! Hinaus ins Leben, in die Welt! Und sie muss sich gegen Kajsa stemmen, sie zurückhalten, um selbst weiterzukommen. Als sie noch klein war, konnte sie in den Augen ihrer Mutter Freudenlichter entzünden, aber jetzt, vielleicht weil sie in einem erwachsenen Körper ist, sieht sie eher Wehmut. Und Erstaunen, als ob es merkwürdig sei, dass sie groß geworden ist.

Ella muss eine Wand des Schweigens zwischen ihnen herunterlassen. Irgendetwas in ihr verlangt nach Abgeschiedenheit und Stille. Ruhe. Einer geschlossenen Tür. Kajsa nennt das den »Dornröschentraum«. Aber Ella will nicht von einem Kuss aufgeweckt werden, sie will von allein aufwachen.

Als Ella am nächsten Morgen in die Schule geht, regnet es immer noch. Kajsa jammert über den vielen Regen, aber Ella mag ihn. Der Regen macht sie ruhig. Er enthält keinerlei Erwartungen. Und wenn man durch den Regen geht, wird man fast ein Teil davon.

Sie geht in schnellem Tempo zur Schule, als plötzlich jemand zu ihr unter den Schirm schlüpft. Es ist Odin.

»Entschuldige, ich habe Angst, meine Frisur könnte Schaden nehmen«, sagt er und drückt sich an Ella, um unter dem Schirm Platz zu haben. Sie wünscht sich, ihr würde etwas Witziges einfallen, aber es kommt nichts. Er lächelt sie an und sieht munter aus.

»Ich bin ein bisschen zu groß. Störe ich?«

»Nein«, sagt Ella und er legt seine Hand direkt über ihre an den Griff und hebt den Schirm ein wenig. Er drückt sich noch enger an sie, kuschelt sich ein bisschen zusammen und sagt so schmusig, dass er kleine Fältchen auf der Nase bekommt: »Was haben wir es gemütlich!«

Ella lacht, aber im nächsten Moment fragt sie sich, ob er wohl zu allen Mädchen so süß ist, um zu testen, welche Wirkung er auf sie hat.

»Ich habe so ein Gefühl, als ob wir unterwegs wären«, sagt er dann in einem ganz anderen Tonfall. »Stell dir vor, wir würden einfach davongehen. Hinaus! Weg! Jetzt . . .!«

Sie würde gern etwas sagen, etwas, womit sie verbergen könnte, dass sie berührt ist.

»Wie heißt du?«, fragt er im gleichen leichten Ton wie am Anfang.

»Ella«, antwortet sie.

»Odin.«

Sie tauschen einen Blick. Am Himmel entlädt sich ein gewaltiger Donner und der Regen schüttet herab.

»Komm, wir laufen!«, ruft er und läuft mit dem Schirm davon. Sie kommt nicht nach. Sie ärgert sich und wird patschnass. Er wartet unter dem Vordach der Schule auf sie und lächelt, dass die Grübchen in seinen Wangen spielen, als sie endlich tropfnass ankommt.

»Der Regen macht die Mädchen richtig hübsch!«, sagt er und reicht ihr den Schirm, und obwohl sie sich ärgert, freut sie sich. Aber sie kann immer noch nichts erwidern.

Sie schauen sich einen Moment an, dann läuft er in die Schule.

***

Heute haben alle Schüler das gleiche Ziel und Ella läuft Odin hinterher, aber sie verliert ihn im Gewimmel. Die Aula ist schon voller Schüler und Lehrer. Ein bekannter Referent, der Vorträge hält, ist eingeladen worden und soll den armen Kindern, die sich so leicht in der Welt verirren, etwas erzählen. Solche Veranstaltungen sind deshalb unterhaltend, weil das ganze Gymnasium versammelt ist und man sich gegenseitig in aller Ruhe inspizieren kann.

Martina und die anderen gehen hinein und setzen sich in eine Bankreihe, und wenn Ella ein bisschen fixer gewesen wäre, hätte sie es auch noch geschafft. Aber jetzt ist kein Platz mehr und sie muss sich in die Reihe dahinter setzen, und plötzlich kommt Anette und sorgt schnell dafür, dass sie neben Ella zu sitzen kommt. Sie scheint Ella als Verbindungsglied zum Zentrum ausersehen zu haben. Das stört Ella. Es besteht die Gefahr, dass Anette Ella aus dem Zentrum wegzieht.

Auf der Bühne sitzt der Referent, ein nicht mehr junger Mann mit kahler Stirn und dünnem Pferdeschwanz.

»Zu sein«, sagt er feierlich. »Im Jetzt zu sein. Zu sein. Jetzt. Jetzt ist jetzt, aber das Jetzt, das ich meine, ist schon da. Deshalb sage ich: Du sein! Jetzt! Miteinander in Kommunikation treten!«

Er streckt die Arme vor der Brust aus und zieht sie ein paar Mal an sich, vor Selbstgefälligkeit überschäumend. Anette rückt näher an Ella heran und fragt, ob sie zu Martinas Fest gehen wird. Ella nickt kurz und Anette sagt, dann würde sie auch kommen. Ella verzieht den Mund und rückt ein Stückchen ab.

»Du . . .«, flüstert Anette. »Ich möchte . . . ich wüsste gerne . . .«

»Was denn?«, flüstert Ella gereizt zurück.

»Es ist eine heikle Sache.«

»Ich sage nichts«, antwortet Ella und sie fragt sich, warum sie Anette ermuntert, anstatt sie kalt abzuweisen, wie Martina es tun würde.

»Was mache ich für einen Eindruck?«, fragt Anette so leise, dass Ella es kaum versteht.

»Wie bitte?«

»Also, ich meine, ich . . . ich bin nicht . . . nicht so interessant.

Bei mir passiert noch nicht so viel. Nicht wie bei euch.«

Ella hört zu. Nein, natürlich passiert nichts. Anette ist schließlich Anette. Ella antwortet beruhigend.

»Das ist bloßer Zufall. Dass man zur rechten Zeit am rechten Ort ist.«

»Meinst du?«

Ella nickt beruhigend und Anette rückt noch ein bisschen näher und flüstert: »Es hat also nichts mit mir zu tun?«

»Natürlich nicht!«

Anette streckt lächelnd den Rücken.

»Dann gehe ich auf das Fest!«

Der Referent bewegt sich langsam über die Bühne. Seine festen Schuhe knallen auf den Boden, er streckt das Bein lang vor sich und zieht dann den Körper hinterher. Es sieht aus, als wolle er jemanden nachmachen.

»Allein zu sein! Gesehen zu werden. Dass jemand zuhört. Deinen Gedanken zuhört.«

Er stellt sich breitbeinig auf die Bühne, die Hände in der Seite, und mustert sein Publikum.

»Du weißt, wie wichtig das ist. Alle Dus, die hier sitzen. Man wird jemand, indem man gesehen wird. Durch einen Blick geboren zu werden . . . oder nie jemand zu werden.«

Anette flüstert Ella zu: »Aber wie soll ich denn sein? Auf dem Fest!«

»Sei du selbst!«, antwortet Ella gereizt. Was für eine Frage! Ist doch selbstverständlich!

Anette denkt einen Moment nach, dann sagt sie: »Aber wer ist das?«

Erstaunt trifft sich Ellas Blick mit ihrem und in ihren Augen leuchtet das Licht des Erkennens. Ja, wer ist das wohl? Dieses plötzliche Einverständnis macht sie kichern.

»Deswegen!«, sagt der Referent. »Dass! Jetzt! Du!«

Der Referent zeigt auf einen von Ellas Klassenkameraden, auf Finn. Er spielt versunken mit einem kleinen Magnetschach. Verlegen steckt er schnell das Spiel in seine Tasche und hofft, dass der Referent sonst nichts von ihm will, aber der bittet ihn auf die Bühne zu kommen. Das will er absolut nicht. Aber er kann sich nicht weigern. Das wäre feige. Sein Herz schlägt wild, er bekommt rote Wangen, und als er den Mann begrüßen will, sieht das ganze Auditorium die kleine Geste, mit der er die Hand am Hosenbein abwischt, bevor er sie vorstreckt. Vereinzeltes Kichern ist zu hören.

Der große Mann legt seine schweren Hände auf Finns schmale Schultern und dreht ihn so, dass alle ihn von vorne sehen können. Vor ihm breitet sich ein Meer von Gesichtern aus und Finn hat noch nie so deutlich die Blicke von Menschen gespürt. Und noch nie hat man so ungestört seinen mageren Körper und seinen ängstlichen Blick mustern können und das macht manchen richtig Spaß, vor allem Martina und ihrem Gefolge.

»Alle sehen dich. Wir wissen, dass es dich gibt. Reicht das? NEIN!«, brüllt der Referent, sodass Finn zusammenzuckt. »Du musst etwas tun, damit wir reagieren können. Und was?«

Finn steht schweigend und unbeweglich da. Der Referent schaut ihn durchdringend an und Finn kann diesen Vorstoß des Fremden in sein Inneres nicht abwehren.

»Schweigen?!« Der Referent schüttelt seinen Stiernacken. »Nein. Zu schweigen heißt sichtbar zu sein, aber nicht gesehen zu werden. Was wirst du tun? Um Spuren zu hinterlassen? In unseren Augen ein Mensch zu werden?«

Finn ist wie gelähmt. Wenn er nur etwas sagen könnte, einen Scherz machen könnte, jemand sein, dann wäre es vorbei und er wäre frei. Aber aus ihm kommt nichts Scherzhaftes und Selbstverständliches. Es ist eine Grimasse und ein merkwürdig gurgelnder Laut aus der Tiefe des Halses. Anette und Ella sind peinlich berührt davon, diese Erniedrigung mit ansehen zu müssen, aber in der Bank vor ihnen ersticken Martina und die anderen ihr Lachen in den Händen.

Finn schweigt, zittert. Der Referent legt seine schwere Hand auf Finns Schulter.

»Du kannst dich wieder hinsetzen«, sagt er scharf und Finn muss gehen.

»Du bekommst Beifall«, befiehlt die Bestie auf der Bühne.

Finn schleicht unter mattem Beifall zu seinem Platz.

»Wie ihr versteht«, fährt der Referent fort. »Gesehen zu werden, wie unser Freund hier, ist nicht das Gleiche wie sichtbar zu sein. Alle sind sichtbar. Aber? Gesehen – zu – werden! Platz – einnehmen!«

Da hebt Odin die Hand.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann geht es darum, Platz einzunehmen?«

Der große Mann nickt und antwortet väterlich: »Du hast mich richtig verstanden.«

»Dass jemand zuhört?«, fährt Odin fort. »Deinen Gedanken zuhört.«

»Ja«, nickt der Referent und sieht aus wie eine Zigarettenreklame.

»Ich habe gelesen, dass es eine Form von Sadismus gibt, die darin besteht, dass man seine Umgebung mit einem Haufen Gelaber zu beherrschen versucht«, fährt Odin fort. »Den Leuten die Zeit stiehlt.«

Die Schüler werden munter und vereinzeltes Lachen ist zu hören. Dem Referenten gelingt es nicht, eine Antwort zu formulieren, bevor Odin fortfährt: »Wie viel kostet das hier? Wie viel verlangst du?«

»Was? Nein, also . . . also, sollen wir weitermachen oder persönlich werden?«, fragt der Referent.

»Persönlich werden«, antwortet Odin. »Ich stehe gerade mit dir in Kommunikation.« Odin ahmt die Armbewegungen des Referenten nach und das Kichern der Schüler geht in lautes Gelächter über. »Wie viel verlangst du?«, fragt Odin.

»Du, du . . . das, das . . . ich, ich. Wenn man es auf jeden Einzelnen umlegt, inklusive dich, dann kann ich dir verraten, dass es sich um Peanuts handelt! Es ist meine Berufung, Land auf und Land ab zu reisen und mich heiser zu reden vor euch, die ihr im Begriff steht den Sprung in die Zukunft zu wagen . . .«

Odin unterbricht ihn.

»Danke vielmals, aber ich glaube nicht, dass wir dich brauchen!« Er steht aus Protest auf und geht stolz durch den Mittelgang der Aula auf den Ausgang zu.

»Verdammter Abzocker!«

Die Schüler brüllen und pfeifen vor Begeisterung, trampeln und klatschen. Anettes Augen leuchten, als Odin an ihr vorübergeht.

Er ist wunderbar! So wahrhaftig!

»Du liebe Zeit, ist der sexy!«, stöhnt Martina in der Bank davor.

»Was für ein Hintern!«, sabbelt Teres.

Die Tür schlägt zu und Odin ist draußen. Ein Rauschen geht durch den Raum. Die Lehrer versuchen die Schüler zu beruhigen, der Referent knetet seinen dünnen Pferdeschwanz, spannt die Brust und fährt fort.

»Wo war ich stehen geblieben? Ja. Du! Jetzt!«

Wenn aus Prinzen Frösche werden

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