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Kapitel I – Konflikte als Chance

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Die Räder ihres Trolleys holperten über das Kopfsteinpflaster der Tagungsstätte. „Was war das denn eigentlich hier?", fragte sich Nina, ein Krankenhaus, ein Schloss oder ein alter Hotelkasten? Auf jeden Fall gab es neben einem Betongebäude aus den 1970er Jahren einige bemooste Statuen und altes Gemäuer. Einen Park, ein großes Tor und einen Brunnen, der beruhigend vor sich hinplätscherte. Die Luft war frisch und der Tag schien wohl eher heiter zu werden. Eine sanfte Aprilsonne ließ auf einen schönen Mai hoffen. Aber wo war denn der Empfang? Schließlich sollte sie sich hier ihren Zimmerschlüssel abholen. Da sah sie das Schild. Gleich links ging es durch eine Glastür zur Rezeption, wo bereits ein ziemlicher Betrieb herrschte. Es war Montagmorgen kurz nach 9 und um 10 Uhr sollte Ninas Kurs losgehen. Sie war zum ersten Mal zu einer Fortbildung hier.

Hinter der Theke standen zwei Damen, die die Zimmerschlüssel ausgaben und anhand kleiner Lagepläne erklärten, wo man sein Zimmer finden konnte. Nina schaute sich um. Etwa sieben Gäste warteten - eher mittelalterlich – eben passend zu den bemoosten Statuen. Die Männer hatten Brillen und graue Bärte, waren ein bisschen moppelig und bestätigten somit die vorherrschenden Lehrerklischees. Es wurde geschwäbelt und eine Dame im hellroten Gewand, etwas zu stark geschminkt, verlangte aufgeregt ein ruhiges Zimmer im Erdgeschoss. „Ich hab Aschthma, da kann ich net die Treppen raufrennen", pflaumte sie die zarte Rezeptionistin an. Diese bekam einen roten Kopf und sprach sich leise mit ihrer Kollegin ab. Die Gewitterziege erhielt ihr ersehntes Zimmer.

Warum mussten schwäbische Lehrer manchmal so unerträglich sein? Kleinkariert, humorlos und naiv rechtschaffen. Nina sinnierte vor sich hin. Vor ihr stand ein Typ, der gar nicht schlecht aussah für einen Lehrer. So nebenbei bekam sie mit, dass es sich um einen Trainer handelte, der hier einen Kurs leitete. Der Name Bucher fiel des Öfteren. Netter Kerl, dachte sie. Vielleicht war er ja ihr Kursleiter, dann hätte sie Glück gehabt. Der sah aus, als würde er regelmäßig joggen.

Endlich erhielt auch sie ihren Schlüssel und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Neben ihr klackerte eine Kollegin samt Rollkoffer in die gleiche Richtung. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen. Das war echt nicht gemütlich. Sie blieb unterwegs manchmal im Pflaster stecken und grinste herüber zu Nina: „Habe wohl die falschen Schuhe an!" Nina meinte trocken: „Hier sollte man eher mit Turnschuhen einlaufen, scheint mir!" Beide Frauen lächelten sich an. Das Eis war gebrochen. „Ist Ihr Zimmer auch im zweiten Stock?", fragte Nina. „Ja, und welchen Kurs besuchen Sie? Vielleicht sind wir ja im gleichen Kurs?", meinte die Stöckelschuhfrau.

„Bei mir geht es um Kommunikation in Konfliktsituationen", erklärte Nina. „Schade", meinte die Kollegin, „ich bin neu ernannte Schulrätin und werde hier in einem Einführungskurs gebrieft." „Ach, deshalb haben sie sich so schick gemacht", lachte Nina. „Na klar!", konterte ihr Gegenüber. Beide lachten wieder und betraten das Gebäude, um ihre Zimmer aufzusuchen und das Gepäck abzustellen. Zweieinhalb Tage sollte Nina jetzt hier an der Fortbildungsakademie für Lehrer sein und sich beruflich auf den neuesten Stand bringen lassen.

Und Nina hatte sich darauf gefreut. Mal rauszukommen aus dem Alltag, etwas anderes zu sehen, andere Menschen zu treffen und hoffentlich ein paar gute Ideen für die Schule mitzunehmen. In der Schule wurde es immer anstrengender. Der Rektor war mehr als schwierig, praktizierte „Teile und herrsche“ und spaltete das Lehrerkollegium in Untergruppen auf, war also ein ziemlicher Autokrat.

Unter einer solchen Führung war es schwierig, kollegiales Vertrauen aufzubauen und echte Zusammenarbeit zu praktizieren. Offene, freundliche Kommunikation gab es viel zu selten, meistens wurde hintenrum entschieden, getratscht und intrigiert. Die Konrektorin, noch machthungriger, entschärfte die Lage nicht. Die Situation an Ninas Schule war alles andere als erfreulich. Außerdem nahmen die Schulreformen kein Ende. Die Bürokratie in der Schule ging unter anderem dank des Qualitätsmanagements auf wie ein Hefeteig. Und dann diese ständigen Konflikte mit den Schülern in der Pubertät in den immer schwierigeren und unüberschaubareren Klassen. Dazu Eltern, die ihre Kinder in ihrem originellen Verhalten noch unterstützten und nur auf gute Noten aus waren. Wie sollte das bloß weitergehen? Nina seufzte.

Vielleicht sollte sie den Lehrerberuf ganz an den Nagel hängen und sich eine andere Arbeit suchen? Und das obwohl der Käfig Beamtentum eine gewisse Sicherheit in Krisenzeiten versprach? Wie viele Pubertäten sollte sie im Laufe ihres Lehrerlebens noch miterleben - oder besser gesagt miterleiden? Vielleicht wäre der Job als Hausfrau und Mutter doch weniger stressig gewesen. Bei eigenen Kindern machte man die Pubertät nur einmal durch.

Aber die Trennung von Paul war definitiv und mit Anfang 40 einen neuen Partner finden? Das war nicht einfach. Besonders als Lehrerin an einer Realschule. Im Kollegenkreis brauchte man da schon gar nicht mehr zu gucken. Entweder waren alle verheiratet oder sie waren zu jung. Männer gab es sowieso nicht viele im „niederen“ Schulwesen. Bereits im Studium war deutlich geworden, es gibt nur etwa zehn Prozent Männer an den Pädagogischen Hochschulen. Diese PH’en sind ein Relikt aus der pädagogischen Steinzeit und in Baden-Württemberg immer noch Usus. Die männlichen Studierenden dort waren oft nicht männlich genug. So viel stand jedenfalls damals für Nina und ihre Freundin Stephanie fest. Die beiden Frauen hatten schon in ihrer Studienzeit über die Bauch-Bart-Brille-Kommilitonen abgelästert.

Stephanie hatte sich einen braven Studienrat im Gesamt-Schulzentrum geangelt und eine Musterfamilie mit Martin gegründet. Not bad! Nina war über Paul gestolpert, den smarten und charmanten Ingenieur, dem das Promovieren anscheinend über alles ging. Nach einigen Jahren wurde klar, weshalb er immer so fleißig vor dem PC saß. Paul lotete sämtliche Kommunikationssysteme aus, die das Internet so hergab und datete fleißig, sobald er sich in sein Appartement nach Heidelberg zurückzog. Nebenbei betätigte er sich als Workaholic und wollte es zum Professor bringen. Er war in seinem Fachgebiet intelligent bis genial. Das musste man zugeben. Aber in seinen privaten Beziehungen scheute er die Tiefe und versuchte sie mit Seitensprüngen zu relativieren. Nicht umsonst war Einstein sein Vorbild.

Eine verheiratete Marie-Anne hatte es ihm besonders angetan. Nina ging mittlerweile davon aus, dass er mit ihr schon vor ihrem Eintritt in sein Leben liiert war. Aber wozu über untreue charmante Halbmachos mit Professorentitel nachgrübeln und den Seelenschmerz noch vertiefen? Und immer noch weinen, wenn sie an ihn dachte? Das alles war schon einige Zeit her und so richtig traute Nina seitdem keinem Mann mehr über den Weg. Sie waren anscheinend meist unehrlich und verbargen ihre Schwächen und Fehler, besonders in der Phase des ersten Kennenlernens. Und wenn es in der Beziehung nicht so lief, wie sie es sich vorstellten, suchten sie nicht das Gespräch, sondern wichen aus.

Das Zimmer im ersten Stock war ganz nett und hell. Es war einfach möbliert und hatte einen schönen Ausblick. Man konnte auf ein sanftes Tal sehen mit Wiesen und Obstbäumen. Nina wusch sich die Hände, zog den Lippenstift nach und warf sich ein Lächeln im Spiegel zu. Sie gefiel sich, mit ihren halblangen kastanienbraunen Haaren, die ihr Gesicht umrahmten, auch wenn sie schon ein paar Falten um die Augen hatte. Irgendwie würde es schon weitergehen. Jetzt war sie erst einmal hier und wollte ein bisschen Kraft für den anstrengenden Schulalltag tanken. Mit ihrem Schreibzeug machte sie sich auf den Weg zum Pestalozzi-Raum. Hier sollte das Konfliktseminar stattfinden. Sie zog den Zettel mit dem Lageplan aus der Hosentasche und marschierte in den Innenhof des Gebäudekomplexes. Neben einer alten Linde führte eine Treppe zum Aufgang in die Lehrsäle.

Im Pestalozzisaal schwirrte und surrte es nur so: die Teilnehmer redeten und gestikulierten. Manche kannten sich wohl und umarmten sich. Auf dem Tisch am Eingang suchte Nina sich ihr Namensschild heraus, befestigte es an ihrem dunkelblauen Blazer und fand einen Platz in der Nähe der Tür. Von hier aus konnte man so schön hinaussehen. Die Fenster waren groß und ermöglichten den Ausblick auf den Park. Der Saal wirkte dadurch freundlich und hell. An einer Wand hing ein hübscher gewebter Wandteppich mit einem abstrakten bunten Motiv. Und - Herr Bucher war auch da. Glück gehabt!

Vorne standen schon Pinnwände mit bunten Info-Kärtchen und dem üblichen Blumenstrauß in der Mitte des Raumes, drapiert mit einem türkisenen Tülltuch. Nina würde nie verstehen, was es mit diesen pädagogischen Deko-Inseln auf sich hatte. Egal ob VHS-Kurs oder Gebetskreis, Yoga oder Mütterberatung. Überall die gleichen langweiligen Mittelpunkte aus Pflanzen und/oder Kerzen. Als die Deko-Inselbewegung anfing, war es ja noch ganz spannend und man war überrascht über so manch schönen Einfall. Aber mittlerweile gehörten diese „Mitten" zum Standard und grenzten manchmal an Lieblosigkeit und Langeweile.

Jetzt hätte nur noch gefehlt, dass jeder auf seinem Platz ein Duplo liegen gehabt hätte. Zum Glück hatte Herr Bucher sich das gespart. Dieser Schoko-Input war vor allem schädlich für die Figur! Mehr Demokratie und weniger Schokolade! Das war ein Motto, das Nina unterstützte. Was sollten diese Bestechungsversuche mit Schoki und so? Meistens war etwas faul, wenn eine Schokoladenattacke geritten wurde. Über irgendetwas sollte man dann hinweggetröstet werden. Und oft musste man erst eine bittere Pille schlucken, bevor man ins Duplo beißen durfte.

Durch den Raum simmerte das Echo einer tibetanischen Klangschale. Herr Bucher hatte die Seminartricks drauf! Die aufgeregten Kolleginnen hatten durch ihre erhitzten pädagogischen Debatten leicht rote Köpfe und setzten sich jetzt auf ihre Stühle. Knapp 20 Teilnehmer, natürlich mehr Frauen als Männer, denn Frauen hatten anscheinend mehr Fortbildungsbedarf, blickten ihn erwartungsvoll an. Aber Herr Bucher agierte locker und feuerte eine ganze Reihe von Kennenlernspielchen ab, die mit viel Lachen durchgeführt wurden. Aktionssoziometrie. Aufstellen nach Dienstalter. Aus welchen Orten auf der imaginären Landkarte von Baden-Württemberg kamen die Teilnehmer? Kleine Interviews untereinander hoben auf Hobbies, die Inselfrage und Lieblingsbücher ab. Bis zum Mittagessen verging die Zeit sehr kurzweilig und fröhlich mit kommunikativen Übungen und ersten kurzen Gruppengespräche zu typischen Schulkonflikten. Um 14 Uhr sollte der theoretische Input erfolgen.

Bei dem Begriff Input dachte Nina immer an Babybrei aus dem Glas, der dem Kleinkind mit Hilfe eines Plastiklöffels in den Mund geschoben wurde. Mit dem Lätzchen wurde nachgewischt. Bloß nicht zu viel! Und schön mundgerecht! Leicht zu verdauen! Und ohne Anstrengung, kein Kauen, sondern einfach runterschlucken! Aber bitte keine Widerworte!

Mit diesem Bild im Kopf machte sie sich auf den Weg zum Mittagessen. Neben ihr schlurfte ein Kollege 40 + aus dem Schwarzwald. Er trug einen undefinierbaren Anzug, war Konrektor und hatte einen Besuch beim Friseur bitter nötig. Warum wollten diese Männer im Schulwesen einfach nicht verstehen, dass gut geschnittene Haare das A und O für ein einigermaßen erträgliches Styling waren? Auch und gerade bei grauen Haaren.

Dazu musste Mann mindestens alle fünf Wochen zum Friseur gehen und einem sparsamen Schwaben war es das nicht wert. Und die Schuhe! Wenn es einigermaßen elegante Lederschuhe mit ebensolchen Sohlen waren, dann war das sozusagen schon die halbe Miete. Aber diese Mindestkriterien wurden einfach nicht erfüllt. Für Personen, die in der Öffentlichkeit arbeiteten, stylten sich männliche Lehrkräfte einfach unzureichend. Dabei fanden Schüler und Eltern und auch Lehrerinnen ein bisschen coole Pädagogen meist viel peppiger. Nun gut, dieser Rolf hier hatte pseudogesunde Latschen an mit überdimensionalen Plastiksohlen. Als Konrektor verfügte er außerdem über ein enormes Potenzial an Konfliktthemen, die er bereitwillig mit allen teilte, ob die anderen sie hören wollten oder nicht. Für Unterhaltung war also gesorgt. Nina konnte einfach den Mund halten. Rolf würde das schon machen.

Im Speiseraum stand eine lange Schlange von Teilnehmern am Salatbüffet. Nina war klar, Deutsche liebten Schlangen. Da konnten sie zeigen, wie diszipliniert sie waren. Und alles wurde dadurch ein bisschen schwieriger, so wie im echten Leben eben. Man war nicht hier, um es sich einfach zu machen, schon gar nicht im Schulwesen! Nina ging gleich zu den Warmgerichten, hier war noch kaum jemand, nahm sich einen Teller und bediente sich easy-going: gebratenes Hühnchen, Reis, eine leichte Gemüsesoße. Das sah sehr lecker aus.

Auf der anderen Seite der Warmhalte-Theke entdeckte sie ihn. Mitte bis Ende 40, Top-Haarschnitt, lässiger Style und ein Grinsen im markanten Gesicht: „Tja, wie locker geht das denn? Schwaben lieben es kompliziert, scheint mir." Nina fiel sofort auf, dass dieser Herr nicht schwäbelte. Außerdem besaß er diese prickelnde Frechheit, die ihr so gefiel. „Wo sitzen Sie denn?", fragte er, als beide ihre Teller voll geladen hatten. „Ach, ich weiß auch noch nicht", Nina errötete leicht. „Wie wär's, wenn wir uns ein bisschen unterhalten, dort am Zweiertisch?" Nina konnte nur noch nicken.

Hoffentlich merkte dieser Kerl nicht, wie verdammt gut er ihr gefiel. Sie hatte keine Übung mehr mit coolen Typen. Und dann so auffällig an den Zweiertisch - der einzige im ganzen Speiseraum - wie sie gleich entdeckte. Gut, dass sie niemanden hier kannte. Er hieß also David Bernauer und kam ursprünglich aus Hannover.

Na, das war ja vielleicht mal eine nette Überraschung. Er war Berufsschullehrer und ließ sich hier zum Evaluatoren ausbilden. Mannomann! Evaluation das Reizwort der Schullandschaft! Ausgerechnet!

„Bevor ich mich evaluieren lasse, evaluiere ich doch lieber selbst", lachte David. „Aber was bringt der ganze Zauber denn?", fragte Nina zweifelnd. „Eine Menge Geld wird benötigt für Ihre Ausbildung, die entsprechenden Programme, die Gehälter der Evaluatoren - und was kommt hinten raus? Was ist der Output? Wohin gehen die Daten? Wer speichert sie und wie lange? Und was ändert sich dann wirklich zum Besseren? Und wer verdient daran?" „Das ist ja ein ganzer Katalog von Fragen", der Berufsschullehrer rollte lustig mit den Augen. „Na ja, Schulleitungen können erstmal die externe Evaluation als Druckmittel an ihrer Schule benutzen und damit einiges durchsetzen, was ihnen opportun erscheint. Dann kommen wir und geben Anregungen und manchmal wird sich dann tatsächlich etwas zum Besseren ändern. Alles wird natürlich genauestens dokumentiert, das ist sozusagen schon die halbe Miete. Und daran verdienen natürlich die Hersteller der Evaluationsprogramme für Schulen. Die Schule soll außerdem so marktgerecht für das Ranking vorbereitet werden und die Lehrer und Schulleitung haltungsmäßig entsprechend gebrieft. Die Daten werden gespeichert und glaube ich an große Bildungsunternehmen weitergeleitet und diese können sie dann geschäftlich nutzen. Klar."

„Klingt wahnsinnig nachhaltig, zumindest bei der Datenspeicherung", spottete Nina. „Mir gefällt's", meinte David, „ich bin dann unabhängig, arbeite mit einer netten Teampartnerin, in den Schulen wird man respektiert. Der Job ist wesentlich lockerer als der Lehrerjob in der Schule! Evaluation pro und contra, ist mir völlig egal. Hauptsache, mir geht es gut!"

Na, wenigstens ehrlich, dachte Nina. Die meisten Kollegen, die sie kannte, hätten jetzt bis zum Abwinken idealistische Zielsetzungen zum Besten gegeben, weil sie sich angepasst verhielten und sich keine freie Rede gestatteten. Freie Meinungsäußerung im hierarchisch organisierten Schulsystem war leider selten. Als hätten Beamte kein Recht darauf. Der Artikel 5 des Grundgesetzes galt anscheinend für alle anderen Menschen, nur für Lehrer nicht.

Lehrer wollten allen helfen und Schüler permanent fördern. Lehrer waren das wandelnde Helfersyndrom und fühlten sich erst dadurch wirklich lebensberechtigt. Und keiner dachte dabei an sich! So musste man daher reden, dann war man auf Linie und hatte Ansehen. Kein Wunder, dass an Orten, wo Lehrer und Schulverwaltungsbeamte versammelt waren, oft etwas Duckmäuserisches in der Luft lag und die eigene Meinung nur hinter vorgehaltener Hand zum Besten gegeben wurde. Wenn überhaupt! Dabei hatten viele Lehrer und Verwaltungsbeamte in der Regel ihre Schäfchen im Trockenen, wie Stephanie zum Beispiel, Zweitwagen und Hausbau inklusive.

„Das Essen schmeckt hervorragend", freute sich David, „und an der Salatbar ist jetzt auch nicht mehr viel los. Sollen wir uns noch einen Salat holen oder gleich den Nachtisch essen?" Nina plädierte für Nachtisch. Die Köchin stand mit ihrer weißen Jacke und Haube an einem Hackbrett und schnitt Ananas, Melonen, Äpfel und Kiwi in kleine Stücke und ordnete sie auf Tellern an. Frontcooking.

Frische Früchte waren gesund, da konnte man mit dem Salat ruhig einmal aussetzen. „Geben Sie mir Ihren Teller und das Besteck, ich bringe alles zurück und hole uns auf dem Rückweg zwei Früchteteller."

Nina konnte David nun von weitem genauer abchecken. Er war auffallend gut gestylt und wirkte sportlich, auch wenn er einen harmlosen Bauchansatz hatte. Der wirkte sogar sexy. Nina sah, wie auch andere Frauen ihn aus den Augenwinkeln betrachteten. Ja, Lehrerinnen waren weiß Gott nicht verwöhnt. Attraktive Männer waren in den Kollegien im Ländle eine Seltenheit. Wobei es in letzter Zeit etwas besser wurde bei den jungen männlichen Kollegen. Wo war eigentlich Rolfie, der Schwarzwälder, abgeblieben? Nina äugte vorsichtig in den Saal. Ach, da hinten saß er, flankiert von zwei Kolleginnen in Blau und Grau, die heftig mit ihm schnatterten. Na prima. Das lief doch.

Das Wort Evaluation schwirrte durch Ninas Kopf. Seit einigen Jahren gab es die Verordnung zur Evaluation, die der Qualitätssicherung und -entwicklung der Schulen dienen sollte. Die Pflicht zur Selbst- und Fremdevaluation galt für alle öffentlichen Schulen. In Ninas Augen war Evaluation eine Maßnahme, die für den Produktionsbereich vielleicht passend war, aber nicht für die Schule. Es wurde so wissenschaftlich-objektiv getan. Dabei war alles ziemlich pseudo. Konnte man Schule, Unterricht, menschlich-pädagogische Beziehungen und Leistungen von Lehrern und Schülern wirklich objektiv messen? Wer stellte die Kriterien dafür auf? Und maß man mit den Kriterien wirklich das, was man messen wollte? Was wurde damit bezweckt? Kamen willfährige Wissenschaftler dabei zum Zug, die den Zirkus mitmachten? Die Frage nach den Interessen hinter dem Aktionismus im Bildungsbereich wurde kaum gestellt und erschien nahezu unanständig. In den Vordergrund wurden immer pädagogische oder bildungspolitische Ziele gerückt. Und ganz evaluationsgerecht: die Bildungsqualität. Irgendwie sah es so aus, als hätte dieses Vorgehen Methode.

Mit den Noten war es genauso: Nur Probleme. Den meisten Lehrern war klar, dass Noten nicht wirklich objektiv und auch nicht unbedingt hilfreich waren, sondern hauptsächlich der Selektion und dem Druckausüben dienten. Evaluation durch Schulnoten war für pädagogisch gesinnte und kritische Lehrer eher ein bisschen schwierig. Und jetzt wollte man durch noch mehr Kontrolle, Prüfen und Messen mit Hilfe von Kompetenzrastern das Unterrichtsgeschehen effektiver machen? Und die Noten abschaffen? Wie sollte das denn gehen? Und war Effektivität überhaupt ein Kriterium, das in den Sozialbereich gehörte und passte? Kinder und Jugendliche und Effektivität. Das passte für sie einfach nicht so richtig zusammen. Der Mensch sollte in der Pädagogik im Mittelpunkt stehen, nicht die Effektivität! Und Lehrer waren auch Menschen.

David kam zurück und stellte ihr ein Glastellerchen mit Fruchtstückchen vor die Nase: „Das ist mein Beitrag zu Ihrer Lehrergesundheit! Sollen wir nicht du sagen? Ich bin David!" Nina lachte und war einverstanden. Das lief ja ziemlich flott, vielleicht sogar ein bisschen zu flott. Zwar trug David keinen Ehering, aber er wirkte sehr verheiratet. Also bloß keine zu großen Hoffnungen machen, dachte Nina und aß währenddessen ihren bunten Obstteller leer. Leckerchen!

Nebel über Pisa

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