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Kapitel V – Intermezzo

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Der Marktplatz, fast ein Quadrat, von historischen Fachwerkhäusern eingerahmt, war überwältigend schön. Und natürlich saßen sie draußen, in eine Decke gehüllt und wärmten sich an den Kaffeetassen die Hände. „Schau mal der Turm ist unten romanisch und dann hat er noch zwei Stockwerke aus einer späteren Ära obendrauf“, meinte Nina. David pflichtete ihr bei: „Ja, und er ist ein bisschen schief, wie der Turm in Pisa, aber nicht ganz so schief wie die Pisa-Studie.“ Er lachte: „Der Platz hat südländisches Flair. Ich finde es so beschaulich hier. Es herrscht einfach eine gute Stimmung bei dieser Kulisse. Auf mich wirkt das ganze Ambiente belebend und beruhigend zugleich.“ David nippte an seinem Kaffee.

„Bist du denn nervös?“, wollte Nina wissen. „Ein bisschen schon. Ich traf gestern eine sexy Klassefrau und heute geht sie mit mir einen Kaffee trinken. Das ist doch ein Grund, meine ich. Bist du eigentlich schon vergeben?“ Davids direkte Art haute Nina völlig um. Dieser Mann fackelte nicht lange, sondern sprach ohne Hemmungen ganz persönliche Themen an. „Nein, ich bin Single.“ „Mann, habe ich ein Glück! Verstehe ich nicht. Du bist eine so attraktive und kluge Frau. Gab es da vielleicht einen Dummkopf, der dich nicht geschätzt hat?“ David lachte Nina mit seinen schönen weißen Zähnen an.

„Ja, so könnte man es sehen.“ „Das hast du wunderbar lakonisch gesagt. Ich bin froh, dass dieser Kerl sich so schändlich benommen hat.“ Die Sprenkelchen in Davids Augen tanzten und glühten. „Hier auf dem Marktplatz gab es früher Duelle. Zu einem solchen würde ich ihn gerne herausfordern und ihm zeigen, was es heißt, edle Frauen so zu enttäuschen.“

Und eine Enttäuschung war es für Nina gewesen, eine sehr große sogar. David übertrieb gar nicht. Er schien sich mit dem Thema Liebeskummer auszukennen. Aber war er nicht selbst ein smarter Herzensbrecher? Nina schaute den Kindern nach, die gerade über den Marktplatz rannten und sich an dem rechteckigen Fisch-Brunnen mit Wasser bespritzten. Und dann kam sogar die feine Frühlingssonne hervor und beschien den Platz. Es war unerträglich romantisch hier. „Wie lange ist das denn her?“, fragte David jetzt. Er wollte es wirklich genau wissen und irgendwie wurde es ihr jetzt zu bunt: „Ist das hier eigentlich ein Verhör?“ „Sorry, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Manchmal geht mein Temperament mit mir durch. Dein Kurs geht doch um halb drei weiter und meiner auch. Wir hätten also noch Zeit uns ein bisschen umzuschauen. Hättest du Lust dazu?“ Nina nickte. Gut, dass David merkte, dass ihr das alles viel zu schnell ging und rechtzeitig auf Ablenkung sann.

Jeder zahlte für sich und dann gingen sie quer über den Marktplatz in eine der alten Gassen, eine Häuserschlucht. Hohe Fachwerkfassaden ragten auf, mit Ornamenten verziert. Am Ende der Gasse führte eine Holzbrücke über den ehemaligen Stadtgraben. Von hier aus hatte man einen guten Blick hinunter auf das Städtchen, auf den Park mit dem See. Jenseits des Parks war ein auffallender Beton-Stahl-Glasturm zu sehen. „Ein Kunstmuseum. Hier gibt es meistens gute Ausstellungen. Ich war schon öfters da. Interessierst du dich für Kunst?“ „Ja. Ich male sogar selbst ein bisschen.“ „Wir müssen jetzt leider zurück, Nina, sonst kommen wir zu spät. Komm.“ David hakte sich bei Nina wie selbstverständlich unter, ließ sie aber dann gleich wieder los. Er hatte an einem Platz oberhalb der großen Stadtkirche geparkt und schon brausten beide Richtung Tagungsstätte. Sie beeilten sich. „War schön mit dir“, sagte David leise und drückte ihre Hand. „Bis heute Abend.“

Nina kam gerade noch rechtzeitig, nahm Platz und musste sich erst einmal mental erholen. Ihre Gedanken schweiften ständig vom Konfliktthema ab. Und dabei bemühte sich Herr Bucher schon wieder um einen möglichst kurzen und knackigen Input, bevor es mit den Rollenspielen losging.

Warum war David so offensiv? War das normal? Und erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie zwar befragt hatte. Sie ihn aber nicht. Sie hatte immer so eine lange Leitung und ließ sich schnell von anderen überrumpeln. Das nahm sie sich übel - und den anderen natürlich auch. Diese nutzten ihre geringe Intrigenintelligenz leider oft weidlich aus. Sie wusste gar nichts von David, außer dass er eine Evaluatorenschulung durchlief und Berufsschullehrer war. Bei seinem Aussehen konnte er an jedem Finger eine haben. Und überhaupt war er sicher gebunden und spielte nur ein wenig mit dem Feuer. Austesten, was geht.

Das machten solche Extremjäger gerne. Test. Test. Test. Und wehe Frau fiel auf so einen Testlauf herein und zeigte echtes Interesse. Dann zog der heißblütige Werber schneller ab, als Frau gucken konnte. Er suchte Ausflüchte, wie - er habe die letzte Trennung noch nicht verdaut oder eigentlich wäre er noch ziemlich verheiratet.

Vielleicht war es unmöglich, eine gute Beziehung zu einem Mann aufzubauen? Viele Frauen sahen das als ihre eigene Unfähigkeit und lasen einen Psycho-Ratgeber nach dem anderen. Es gab sie meterweise in den Regalen der Buchläden und Bibliotheken. Nina hatte mittlerweile die Nase voll davon. Es gab zwar einige gute Ideen darin, aber jetzt reichte es.

Dass Ehen und Beziehungen schwierig waren, war kein Geheimnis. In einer Gesellschaft, in der Männer immer noch die Nummer Eins waren, kein Wunder. Gefühlsunterdrückung gehörte außerdem immer noch zur hehren Pflicht des Mannes. Traurigkeit, Sehnsucht, Liebesgefühle, Weltschmerz, melancholisches Vergänglichkeitserleben – Männer sahen sich immer noch als Maschinen, die funktionieren mussten und alle, die zu viel Gefühl zeigten, waren Schwachmaten und auf der Verliererseite. Eine gleichberechtigte, liebevolle und dauerhafte Partnerschaft zu führen war unter solchen Umständen eigentlich fast unmöglich.

Dragoner-Frauen heirateten ausgewählte Pantoffelhelden und gaben ohne mit der Wimper zu zucken den Ton an. Sie setzten sich in ihren Ehen und in ihrem Zuhause durch und empfanden dies als normal und tüchtig. Sie kamen nicht einmal auf die Idee an ihrer ungehemmten Dominanz zu zweifeln. Sie nahmen sie nicht einmal als solche wahr. Ein bisschen trampelig war das schon. Aber das störte sie nicht. Das war ihre Antwort auf das Patriarchat. Aber was tun, wenn man keine Dragoner-Frau war und auf Gleichberechtigung setzte? Wenn es einem nur um zwei Menschen ging, zwei empfindsame Seelen, um diese magische Liebe und nicht um die Macht in der Beziehung. Dann war die Enttäuschung vermutlich vorprogrammiert. So viel Liebessehnsucht und Idealismus vertrug eine irdische Beziehung nicht.

Plötzlich bekam sie einen Schubs von Susanne, die neben ihr saß: „Wir sind dran mit unserem Rollenspiel! Aufwachen!“ Nina stand auf und ging mit den anderen nach vorne. Andreas, als Klassenlehrer, stellte dem Plenum die Vorgeschichte des Falls vor und dann kam das Rollenspiel. Nina, als Mutter, und Michael, als Vater, liefen zur Hochform auf: „Was haben Sie gegen unseren Sohn? Warum wird er von Ihnen stigmatisiert? Bei den anderen Lehrern läuft alles einwandfrei. Nur bei Ihnen beiden gibt es Probleme. Und außerdem hat Uli nur gespielt.“ Die beiden Lehrer hörten zu und blieben sachlich und zugewandt. Letztendlich gaben die Eltern zu, dass auch sie sich schon Sorgen wegen ihres Sohnes gemacht hatten. Man einigte sich darauf, dass beide Seiten noch einmal mit Uli sprechen sollten. Ihm sollte klar gemacht werden, dass weder Eltern noch Lehrer es duldeten, dass er seine Mitschüler gefährdete. Eventuell sollte Uli dem Fußballverein beitreten, um sich einerseits körperlich auszuarbeiten und andererseits fair play zu trainieren.

Die Kollegen im Plenum klatschten und es kamen einige sehr wohlwollende Rückmeldungen. Aber dann meldete sich ein Lehrer aus dem Raum Freiburg zu Wort: „In eurem Rollenspiel lenkten die Eltern ein. Aber wir wissen alle, wie schwer sie es uns oft in unserem Alltag machen. Wir erleben das Kind in der sozialen Situation in der Klasse. Wir erleben quasi, wie es sozial „funktioniert“. Das ist Eltern schwer begreiflich zu machen. Und Eltern geht es nicht in erster Linie um die soziale Situation, sondern um das individuelle Fortkommen ihres Kindes. Ihr Sohn oder ihre Tochter sollen gute Startchancen fürs Leben haben, das bedeutet im Klartext gute Noten. Meistens wissen die Eltern jedoch in diesen vertrackten Fällen ganz genau, dass ihr Kind gravierende Probleme hat. Aber sie geben es vor den Lehrern nicht zu. Sie versuchen die Schwierigkeiten des Kindes und ihre eigenen zu verstecken und zu verheimlichen, denn ansonsten müsste etwas unternommen werden. Oft müsste das Kind zum Psychologen und die Eltern ebenfalls. Aber das möchte man verhindern. Das erscheint unangenehm. Man will das Problem nicht sehen und kneift beide Augen zu.

Der Lehrer, der also ein Problem erkennt und darauf aufmerksam macht, wird dafür nicht anerkannt, geschweige denn geliebt. Nein, er wird von den hartnäckigen Eltern angegangen und diese scheuen auch nicht davor zurück, ihn bei Vorgesetzten aller Ebenen schlecht zu machen. Hier ist dann kein Weg zu weit und die Energie ist plötzlich da. Auf keinen Fall möchte man sich und anderen eingestehen, dass zuhause etwas schief läuft und dass man eventuell sogar selbst mit daran beteiligt ist oder war. Diese Eltern sind für uns Lehrer so problematisch. Und wenn die Schulleitung wie in diesem Fall das Problem so locker an den Lehrer zurückreicht, kann ich nur empfehlen, sie auf alle Fälle mit ins Boot zu holen.“ Die Mehrheit klopfte zustimmend auf den Tisch.

Eine Kollegin aus einer Gemeinschaftsschule meinte: „Warum lasst ihr Schüler und Eltern nicht eine Zielvereinbarung unterschreiben?“ Ein nervöses Kichern war daraufhin im Raum zu hören. Aber die engagierte Kollegin fuhr fort: „Das Leitbild der Schule gilt für alle. Und wer sich nicht an diese neue Schul- und Lernkultur hält, muss ein deutliches Feedback erhalten.“ Herr Bucher fand diese Idee innovativ. Anschließend sorgte der Trainer für eine Pause und öffnete die Fenster.

Nina’s Arbeitsgruppe stand noch kurz zusammen: „Mensch, habt ihr die Eltern überzeugend gespielt“, meinte Andreas. „Aber ihr als Lehrer wart wirklich auch sehr professionell“, lachte Michael. „Darauf hole ich mir jetzt ein Mineralwasser“, sagte Nina, „vielen Dank, es hat Spaß gemacht mit euch.“

Das nächste Rollenspiel thematisierte ein Einzelgespräch zwischen einem Schüler und seinem Klassenlehrer. Es ging um Unterrichtsstörungen und fehlende Arbeitsunterlagen. Das Übliche. Der Klassenlehrer musste sich überlegen, wie er den Schüler wieder auf Kurs bekam, ihn individuell coachen. Der Schüler sollte wieder etwas für die Schule arbeiten und sich besser organisieren. Ein Ewigkeitsthema in der Schule. Lehrer versuchen zu motivieren und leisten Überzeugungs- und Erziehungsarbeit, die ihnen in manchen Fällen sogar noch negativ ausgelegt wird.

Der Kollege aus Freiburg hatte wieder einen Kommentar parat: „Da wird doch ständig von individuellem oder individualisiertem Lernen gesprochen. Und von Selbstverantwortung und Eigenverantwortung. Warum müssen wir Lehrer dann noch unsere Schüler zum Jagen tragen? Wer nichts tut, soll sehen, wo er bleibt, wenn die Zielvereinbarung nichts nützt. Das ist doch das Fazit dieser angeblich so neuen Konzepte. Ein Lehrer, der auf seine Schüler so eingeht wie ihr in eurem Rollenspiel, ist doch hoffnungslos altmodisch. Es kann sogar sein, der Schüler regt sich über diese Kritik auf, die Eltern ebenfalls und schließlich gibt es eine Beschwerde an die Schulleitung und dann ans Schulamt.

Der Stil in der Schule ist dabei sich zu wandeln. Weg von Pädagogik und sozialem Lernen hin zu egoistischem, konkurrenzorientiertem, streberhaftem Denken. Das ist zumindest mein Eindruck. Konkurrenz vor Solidarität, Einzelkampf statt Gemeinschaft. „Individualisierung“: Wie schick sich das anhört! Lehrern wirft man vor, sie seien angeblich Einzelkämpfer und Schüler macht man an ihren Computerarbeitsplätzen und mit wechselnden Lerngruppen zu Einzelkämpfern! Das ist der heimliche Lehrplan des Individuellen Lernens.“

Einige Teilnehmerinnen schüttelten die Köpfe, als ob sie die Welt- und Bildungssicht des Freiburger Kollegen absolut nicht teilten. Aber dieser hatte sein Statement noch nicht beendet: „Unsere Wirtschaftsform verlangt soziale Entwurzelung, um effizient und wettbewerbsfähig zu sein. Und mir scheint, man fängt jetzt in der Schule schon mit der Entwurzelung an, indem man den Klassenverband auflöst und den individuellen Computerarbeitsplatz zur Heimat des Schülers erklärt. Man hat den Eindruck, hier überrollt uns demnächst eine Art von Bildungsindustrie, der es gar nicht mehr um die Menschen geht, sondern nur um modularisierte Bildungskonserven, die sich gut vermarkten und instantmäßig verabreichen lassen. Ich würde mal sagen, ziemlich frühzeitige Dressur in Richtung Arbeitsleben. Vereinzelung und Entsolidarisierung ist das Resultat. Hurra, wir züchten uns unsere Autisten und Sozialneurotiker selbst. Den Kinderpsychologen wird die Arbeit nicht ausgehen.“ Einige Männer klopften jetzt doch anerkennend auf die Tische. Herr Bucher moderierte die Diskussion hervorragend. Nina bewunderte seine Gelassenheit. Die war sicher hart erarbeitet.

„Ach, das ist doch Käse“, meinte eine etwa 30-jährige Lehrerin, der man ihre grüne Gesinnung an ihrer selbstgefilzten erdbraunen Jacke mit violetter Blüte schon ansah. „Das Schulsystem ist endlich dabei sich zum Guten zu wandeln. Alles wird flexibler und lockerer. Es gibt keine Schulglocke mehr, die mit ihrem harten, unbarmherzigen Ton den Schultag brutal in 45 Minuten-Stücke zerhackt. Der Schultag ist endlich rhythmisiert! Die Eltern können selbst die Schulart für ihr Kind wählen und brauchen das dann, wenn die Gemeinschaftsschule mit Inklusion überall greift, gar nicht mehr tun. Da ist das Elternwahlrecht dann gar nicht mehr relevant. Man kann mehr projektorientiert arbeiten, schülerorientiert, individualisiert, eigenaktiv, mehr experimentieren. Freiarbeitsbänder im Stundenplan setzen sich immer mehr in allen Schularten und besonders in der Gemeinschaftsschule durch. Wir werden Lerncoaches. Hört sich doch besser an als die altmodische Berufsbezeichnung Lehrer, oder?“

Sie schaute herausfordernd in die Runde: „Es gibt andere Formen der Benotung und Beurteilung, die Kompetenzraster. Diese Form der Lernentwicklungs- und Lernstandserhebung macht die Schule viel gerechter, nivelliert viel besser und nimmt die Schüler eigenverantwortlich mit ins Boot. Jeder Schüler kann verstehen, wo er steht und wenn er lernschwach ist, erhält er Lernjobs auf niedrigem Niveau. Geht doch. Wir haben bereits best-practice-Schulen, die schon ganz nah am Schweizer Ideal sind.“

Nina kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hier blieb kein Auge trocken. Aber die Filzfrau haute noch einen Nagel rein: „Und dann endlich die Ganztagsschule. Das ist doch eine echte Errungenschaft.“ Nina fragte sich im Stillen, für wen diese Errungenschaft so gut war. Aber Erdmute gab Gas: „Ich lasse mir meinen Idealismus nicht zerstören von einigen alten, unflexiblen Kollegen am Rande des Burn-out. Die blockieren doch alles Neue, die tollen Ideen! Unser Rektor ist erst 39 und ein Change Agent. Unsere Schule wird geführt wie eine Firma. Das Beamtentum wird hoffentlich bald abgeschafft. Wozu braucht der Staat Beamte? Wir wollen einen bundeslandfreien Lehrermarkt! Die Lehrerausbildung wird egalisiert und sonderpädagogisch ergänzt. Endlich! Alle Lehrer sind dann pädagogisch ausgerichtet, orientieren sich an den gleichen Strukturen und werden gerecht und gleichwertig bezahlt. Ich schätze mal A 13. Super finde ich das. Voll effizient! Wir evaluieren alles und besprechen das dann im face-to-face-Kontakt. Unser Change-Agent weiß, wie Personalentwicklung zu laufen hat. Ich lebe im Vertrauen.“

Wahrlich eine knackige Ansage, dachte Nina. Gerne würde sie sich 15 Jahre voraus in die Zukunft beamen und sehen, was aus dieser postmodernen Filzfrau geworden ist. Vielleicht war sie dann Patientin in einer Burnout-Klinik, die sie selbst zahlen musste, weil die Krankenkasse für solche Kinkerlitzchen nicht mehr aufkam. Vielleicht erklärten ungeduldige und mobbishe Kollegen ihr, welch ein Bremsklotz sie war und fragten sie, warum sie sich nicht an das neue Leitbild hielt. Und nicht die richtige Haltung einnahm? Und warum sie ständig von Ausbeutung faselte. Beamtin war sie wahrscheinlich nicht, deshalb wurde sie spätestens in dieser Phase als unrentabel entlassen.

Jetzt meldete sich eine energische Lehrerin, eine echte Energa, zu Wort, die schon einige Dienstjahre hinter sich hatte: „Ganztagsschule. Wenn ich das schon höre. Es hat schon immer Nachmittagsunterricht an deutschen Schulen gegeben. Von wegen deutsche Halbtagschule, das ist doch absoluter Quatsch. Die meisten Schüler und Lehrer ab der Sekundarstufe hatten bisher deutschlandweit mindestens zwei Schulnachmittage in der Woche.“ Die Filzfrau runzelte die Stirn. In diese Richtung wollte sie sich gedanklich nicht bewegen. Das konnte Nina an ihrem Gesichtsausdruck ablesen.

Energa erklärte unterdessen weiter ihren Standpunkt: „Und wie sieht denn die Ganztagsschul-Realität aus? Es gibt eine Mensa, in der niemand so richtig gerne isst, weil alles billig sein muss. Von wegen gesunde, schmackhafte Ernährung! Die Schüler gehen zu Burger-Queen nebenan! Und es gibt eineinhalb Sozialarbeiter, die vielleicht einen Zusatzraum ohne Fenster haben, wo die Schüler spielen können. Dazu kommen noch einige Jugend-Coaches, die für 7 Euro die Stunde den Frust, den sich die eingesperrten Schüler aus der Kehle kreischen, stoisch auf dem Schulhof ertragen, weil sie sich Stöpsel in die Ohren gesteckt haben. Was ist denn sonst geboten? Die ganz normale alte Schule, die keiner liebt, die man aber notwendigerweise durchlaufen muss. In „Die Zeit“ verglich ein Journalist die deutschen Ganztagsschulen sogar schon mit trostlosen Legebatterien.

Vielleicht gibt es noch einige Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag, die mühsam unter pädagogischer Gesamtkonzeption laufen. Die Vereine, die bisher so phantastische Arbeit geleistet haben und oft auch einen Ausgleich für viele frustrierte Schüler darstellten, bluten aus. Halbqualifizierte ehrenamtliche Kräfte werden zum Billigtarif in die Schule gelockt und sollen ein angeblich förderndes, wertvolles Programm schultern. Wieder einmal soll das Ehrenamt retten, was der Staat nicht finanzieren kann oder möchte, weil er die Steuergelder des kleinen Mannes und der kleinen Frau für die Bankenrettung, die Unterstützung von Wirtschaftsbetrieben und unsinnige Großbauprojekte, die keiner will, zweckentfremdet. Währenddessen reibt sich die reiche Kaste in diesem unserem Lande über Steuersenkungen die goldenen Händchen und lacht sich ins Fäustchen."

Aus einer Ecke des Seminarraums kam ein lautes Murren von einem glatzköpfigen Herrn mit blaugelber Krawatte: „Sind wir hier im Polit-Seminar, oder was?“ Aber Energa ließ sich nicht beirren. „Lernen kann man sowieso nicht den ganzen Tag. Der Begriff Ganztagschule ist deshalb absolut irreführend, abgesehen davon, dass sie auf niedrigstem Niveau realisiert wird und als Retterin und Hoffnungsträger für mannigfache soziale und schulische Nöte verkauft wird. Angeblich fördert sie individuell und bildungsgerecht. Wie soll denn das funktionieren? Immer wenn soziale Probleme durch Pädagogisierung gelöst werden sollen, sollte man sehr hellhörig werden.

Den Kindern und Jugendlichen wird doch im Grunde noch der letzte Rest an Individualität geraubt und ausgetrieben, wenn sie sich acht oder mehr Stunden im Moloch der Institution Schule befinden, in der ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten angeblich ständig optimiert werden. So flexibel, so kooperativ, so rhythmisiert, so voll neuer Lernkultur kann die Ganztagsschule gar nicht sein wie ein solide verbrachter selbstgestalteter Nachmittag mit Freunden im Wald oder Park oder von mir aus auch in der Shopping-Mall. Selbst eine Waldschule schafft das nicht, weil ihr ein wichtiger Aspekt fehlt: die Freiheit. Kein noch so pädagogisches Konzept oder ausgeklügelte Qualitätsstandards bringen das, was ein junger Mensch in echter Selbstgestaltung erleben kann.“ Energa nestelte aufgeregt an ihrem eleganten Seidenschal.

„Welcher Schüler und welcher Lehrer hat Interesse daran, den ganzen Tag in einem lieblos gestalteten Betongebäude mit beißend-giftigem Neonlicht und ansonsten wenig Anreizen zu verbringen? Nirgendwo hat man seine Ruhe und kann allein sein. Ständige Zwangskommunikation. Was bringt mir ein vorgeblicher, dürftig mit schmuddeligen und verkleckerten Matratzen ausgestatteter Ruheraum mit Meditationsbeschallung im Bienenkorb Schule, wenn ich doch auch in die Natur gehen kann, an den Bach, in den Wald, auf eine Wiese oder in einen Park? Mich mit Freunden im Sportverein treffen kann. Mich zuhause ausruhen, schlafen und auch ein bisschen am Computer spielen kann? Auf gut Deutsch, meinen restlichen Tag nach eigenen Vorstellungen und in eigener Rhythmisierung …“ Sie lachte ein bisschen. „ … gestalten kann?

Auch Kinder und Jugendliche möchten das. Ja, ich würde sagen, sie haben ein Anrecht darauf. So lernen sie echte Selbstverantwortung und erwerben Selbstgestaltungskompetenz." Einige Teilnehmer scharrten mit den Stühlen auf dem Steinboden, wandten sich ab und lasen demonstrativ in ihren Unterlagen. Konträre Meinungen hörte die harmoniesüchtige Lehrerschaft wohl nicht so gerne, schloss Nina daraus.

„Bitte lassen Sie mich ausreden", beschwichtigte Energa. „Verpflichtende Ganztagsschule bedeutet Zwangsinternierung, Ghettoisierung und Bevormundung. Das sehen auch die Eltern bei den verpflichtenden Ganztagsschulen so, besonders wenn es vor Ort keine Alternative gibt. So schön kann Schule niemals sein, dass man dort den ganzen Tag verbringen möchte. Schule als Lebensraum ist eine Utopie. Viele engagierte Pädagogen versuchten und versuchen, den Schulalltag im Rahmen ihrer Möglichkeiten menschlich zu gestalten. Aber, wenn man das schon so betonen muss, zeigt das doch, dass Schule in ihrer Grundstruktur eine autoritäre, disziplinierende Selektionsmaschinerie ist und damit tendenziell lebensfeindlich. In der Schule geht es per se um Leistung! Das wird ja wohl niemand abstreiten wollen. Oder wie ein Erziehungswissenschaftler es vornehm ausdrückte: Die Wahrnehmung und Würdigung individueller Leistungen stehen dennoch im Fokus.“

Manche Zuhörer im Pestalozzisaal mussten jetzt doch lächeln. „Und dagegen hat ja auch niemand was. Pädagogik ist nur der Zuckerguss. Freiheit für echte Individualität und keine aufgezwungene Individualisierung an Computern in Lernfabriken, das finde ich anstrebenswert.“

Alle Teilnehmer schauten betreten drein. Selten zerlegte jemand die Ganztagsschule so offen und treffend. Aber Schwarzwald-Rolfie wehrte sich: „Wir wollen doch die Kinder von der Straße holen. Wir wollen damit nachhaltig soziale Benachteiligung bekämpfen. Die Kinder, die eben nicht das Glück haben, in die Mittel- oder Oberschicht hineingeboren zu sein. Die wollen wir fördern, wo es geht. Die sollen die Möglichkeit haben, mal zu musizieren oder etwas mitzukriegen, was ihnen sonst verwehrt bleibt. Weg von ihren Fernsehern, ihren Computern, ihrer Mediensucht. Raus aus ihren Miniwohnungen in öden Mietblocks, Fressattacken mit Chips und Cola, kleinkriminellen Handlungen und raus aus dem häuslichen Gewaltpotenzial. Als Zivildienstleistender im Krankenwagen habe ich Kinder erlebt, für die wäre jede Schule besser als ihr Zuhause. Außerdem – wenn beide Eltern berufstätig sind, muss es eine verlässliche Schule geben, übrigens auch für alleinerziehende Väter und Mütter. Aber unser oberstes Ziel ist Bildungsgerechtigkeit und dafür ist die Ganztagsschule Voraussetzung. Hier haben wir Nachholbedarf in Deutschland. In anderen Ländern ist die Ganztagsschule schon lange Usus!“

Jetzt schaltete sich der aufbrausende Glatzkopf mit der auffallenden Krawatte ein, der es auf seinem Stuhl kaum noch aushielt. Er hatte sich mit dem Polit-Thema wohl mittlerweile abgefunden und wollte jetzt seinen Beitrag leisten: „Was heißt denn hier Bildungsgerechtigkeit? Seit die Welt sich dreht, gibt es keine Bildungsgerechtigkeit. Und jetzt soll sie in einer Legislaturperiode im Ländle aus dem Boden gestampft werden oder was?“ Er schnaubte wie ein von einer Bremse gestochenes Pferd: „Das nenne ich gnadenlose Selbstüberschätzung! Bildungsgerechtigkeit ist ohne Zweifel ein hehres Ziel und wurde auch immer wieder propagiert, ist also wirklich kein neuer Gedanke. Aber man muss sich doch fragen, warum dieses paradiesische Bildungsziel niemals erreicht worden ist.“

Er schaute in die fragenden Gesichter: „Ganz einfach – es ist gar nicht erwünscht, dass dieses Ziel erreicht wird! Die Machteliten wissen auch schon seit ewigen Zeiten, dass Bildung und selbstständiges Denken dem Machterhalt nicht nur dienlich sind und wägen genau ab, inwieweit dem Volk Bildung zugestanden wird. Je nach Bedarf gibt es deshalb Phasen der Bildungsöffnung oder der Bildungsbeschränkung. Natürlich wünscht sich das Volk möglichst gerechte Bildungschancen und soziale Aufstiegsmöglichkeiten, deshalb lässt sich mit diesem Bedürfnis, diesem Wunsch, dieser Sehnsucht trefflich immer und immer wieder auf Stimmenwahl gehen. Immer wieder wird darum an der ewigen „Bildungswunde“ herumoperiert. Ich würde sagen seit den alten Römern. Das Thema muss historisch gesehen werden, aktuelle Studien beziehen sich auf zu kurze Zeiträume.“ Man hatte den Eindruck, am liebsten würde sich der Redner mit seiner farbigen Krawatte die Schweißtropfen von der Stirn wischen.

Energa wollte jedoch auf ihr Spezialthema zurückkommen und würgte den fundamentalistischen Denker ab: „Zurück in die Gegenwart. Ist man in den anderen Ländern zufrieden mit dem eigenen Schulwesen und der Ganztagsschule? Was heißt denn überhaupt Ganztagsschule? Im Grunde geht es doch nur um Ganztagsbetreuung. Diese ist realistisch und vernünftig, wenn sie der Bedarfslage der berufstätigen Eltern entspricht. Es geht also letztendlich nur um einen Schülerhort, der in eine Schule integriert ist. Interessanterweise reduziert man mit dem Ausbau der Ganztagsschule das Angebot der externen Kinder- und Schülerhorte, die bisher sehr gute Arbeit geleistet haben. Die Kinderhorte hatten ein gutes Niveau, das Programm an den Ganztagsschulen ist verglichen damit eher flach, weniger individuell, hat einfach schlechtere Qualität. Die Schüler werden morgens in den Schulräumen unterrichtet und nachmittags darin auf Billigniveau verwahrt, nur weil man bei den Horten einsparen möchte.“ „Satt und sauber“, rief jemand aus Richtung der Pinnwände. Vielleicht war er gedanklich schon ins Altersheim gerutscht, mutmaßte Nina. Morgens beschult, nachmittags verwahrt! Immer in den gleichen Gebäuden! Das würde besser passen. Und sauber war’s in der Schule oft gar nicht.

Der Zwischenruf störte die angefixte Energa nicht: „Und ob man durch ehrenamtliche Ganztagsbetreuung, gestemmt von rüstigen Senioren, auch noch Bildungsgerechtigkeit erreicht, wage ich sehr zu bezweifeln. Chancengleichheit ist erstrebenswert, aber wie soll Schule das schultern? Einerseits erzeugt sie Ungerechtigkeit durch Bewertung und Selektion und die meisten nehmen das hin und finden das ganz selbstverständlich. Andererseits soll noch mehr Schule für Bildungsgerechtigkeit sorgen. Sehr widersprüchlich! So lange Schule eine Selektionsfunktion hat und Lebenschancen zuteilt und dieses System allgemein als passend empfunden wird, kann sie nicht gleichzeitig ein Medikament gegen die Ungerechtigkeit in der Zuteilung von Bildungschancen sein.

Und mal ganz nebenbei – in der Schule sitzen die Schüler ebenfalls immer länger vor Computern. In den ach so innovativen Schweizer Schulen ist der Computerarbeitsplatz die Zukunfts-Heimstatt des Schülers, wie auch der Kollege vorhin sagte. Einen ganztägigen Schulbetrieb als Heilmittel gegen die soziale Schieflage zu empfehlen, halte ich für vermessen. Was für eine Schul-Allmachtsphantasie! Mit diesem Helfersyndrom, das sie noch zu besonders edlen Menschen mit sozialer Gesinnung kürt, wollen Pädagogen ernsthaft und Bildungslobbyisten für Geld die Welt retten. Aber will die Welt durch Schule gerettet werden? Die Schulgläubigkeit geht hier eindeutig zu weit. Das klingt nach unrealistischen Heilsversprechen, die auf die Gutgläubigkeit von Eltern und Pädagogen setzen. Fragt man eigentlich die Schüler, was sie wollen?“

Einige Frauen im Seminar fanden wohl, dass sich Energa zu sehr aus dem Fenster lehnte und fingen an halblaut miteinander zu reden, um sie zum Schweigen zu bringen. Mobbing-Methoden, dachte Nina. Warum trugen diese Damen nicht selbst etwas zur Diskussion bei? Energa blieb aber einfach stur bei ihrem Thema, der Ganztagschule: „Haben sich wirklich pädagogische Idealisten solch eine Zwangsbeschulung auf billigstem Verwahrniveau ausgedacht, in der Kinder und Jugendliche sozial überreguliert werden? Oder ist es gar die Wirtschaft, die Menschen auf stundenlanges Eingesperrtsein in Banken, Büros und Fabriken vor Computern vorbereiten will und den Leistungsgedanken in die jungen Menschen hineindrücken und deren Leistungspotenzial dann im Teamwork voll ausschöpfen möchte?

Man könnte den Eindruck gewinnen, hier werden junge Menschen früh auf die totale Ausbeutung vorbereitet. Außerdem wird die Kinderbeaufsichtigung so dringend gebraucht, weil sich beide Eltern im postmodernen Sklavenprekariat Nerven und Gesundheit ruinieren müssen. Ist Schule wirklich so gesund, so motivierend und so freundlich für Schüler, dass es förderlich für sie ist, sich dort so lange wie möglich aufzuhalten? Niemals. Warum macht man die gut funktionierenden Kinderhorte kaputt? Um Räume und Personal einzusparen? Schule ist doch keine Heilanstalt für Schüler und Lehrer, ja für die ganze Gesellschaft! Von unbeschwerter Kindheit bleibt kaum etwas übrig.“ Der letzte Satz erzeugte endlich wieder eine zustimmende Atmosphäre im Pestalozziraum. Viele Kollegen gaben Energa hierin anscheinend Recht und nickten.

„Die Schulleitungen haben kein Geld für Personal, haben keine Lehrerstunden und keine geeigneten Räume. Aber sie sollen die Ganztagsschule improvisieren. Da werden sogar ältere Schüler als Hilfskräfte rekrutiert, Rentner und auch mal Studenten. Man wurstelt sich durch. Und das alles auf dem Rücken der Schüler. Und man macht den Eltern falsche Versprechungen von den Wohltaten der Ganztagsschule.“

Dann schloss Energa noch einen historischen Exkurs an, der einigen jüngeren Kolleginnen den sichtbaren Generationenkonflikt in die Mimik trieb: „Der Kollege vorhin hat Recht. Bildung war historisch gesehen, ewig ein Privileg der Reichen. Für sie gab es Privatunterricht. Erst existierten hauptsächlich kirchliche Bildungsstätten. Und Mitte des 18. Jahrhunderts entstand der Wunsch in Deutschland Volksschulen einzurichten, aber erst im 19. Jahrhundert erreichte man annähernde Flächendeckung. Die Volksschule war für die sozialen Unterschichten, Proletariat und Bauern, gedacht. Übrigens nicht unbedingt, um dem Volk viel beizubringen, sondern vor allem um es zu disziplinieren und die Kinderarbeit einzudämmen. Wenn die jungen Menschen zu abgearbeitet waren, wurden aus ihnen keine tauglichen Soldaten.“

Sie lächelte, denn sie wollte ihre Message charmant an die Teilnehmer herantragen:„Um von der Ständeerziehung wegzukommen, forderte die Sozialdemokratie die kostenfreie Einheitsschule für alle. Und in der Reichsschulkonferenz 1920 kam es zu einem Kompromiss, nämlich zur gemeinsamen vierjährigen Grundschule für alle. Nach der Grundschule schlossen weiterhin ständische Bildungseinrichtungen an. So konnte der Gedanke sozialer Gleichheit nicht realisiert werden, denn schon damals dachte man, dass man diese über einen integrative Schulstruktur erreichen könnte.

Seit den 1950er Jahren spricht man wissenschaftlich offiziell darüber, inoffiziell pfiffen es die Spatzen schon lange von den Dächern, dass Kinder aus Mittel- und Oberschicht im deutschen Schulsystem besser abschneiden. Etwas typisch Deutsches ist das übrigens auch nicht. Die aktuelle Diskussion über Bildungsgerechtigkeit ist aus bildungshistorischer Sicht ein déja-vue-Erlebnis. An der sozialen Selektionsproblematik wird aber auch eine Ganztagsschule, selbst wenn sie noch so sehr propagiert wird, nichts ändern, denn man hat festgestellt, dass Schul-Strukturreformen den Einfluss des sozialen Hintergrundes, sprich das Elternhaus, nicht ausgleichen können. Dazu gibt es eine interessante Längsschnittstudie von Fend.

Historisches Denken ist unverzichtbar, wenn man die Schule, so wie sie heute ist, wirklich beurteilen möchte. Da hat der Herr hinten ganz Recht. Fragt sich eigentlich keiner, wer hinter dem Ganztagswahn wirklich steckt? Es sind nicht unbedingt die Eltern und auch keinesfalls die Schüler und sicher nicht die Kollegen, denen noch ein Rest kritischen Denkens geblieben ist. Aber wer ist es dann und warum möchte man junge Menschen pädagogisch getunt zwangsinternieren?“

Energa holte tief Luft und beendete damit ihre ausführliche Stellungnahme. Sie hatte ein puterrotes Gesicht vor Anstrengung, hatte sie doch gegen atmosphärisch spürbare Widerstände angeredet. Aber bevor jemand antworten konnte, schaltete sich Herr Bucher ein: „Ich bin sehr erfreut darüber, dass hier so offen gesprochen wird. Ehrlich gesagt, erlebe ich das nicht so häufig. Mir scheint, die meisten Lehrer orientieren sich stark an ihren Kollegen. Keiner will sich aus dem Fenster lehnen. Man sucht in der Regel nach den unsichtbaren Beamten-Anpassungsgrenzen und hält sich an diese. Ängstlich bemüht auf Linie zu bleiben. Heute ist das Gespräch jedoch sehr lebhaft und ich möchte Ihnen herzlich für Ihre Offenheit danken.“ Er nickte aufmunternd hinüber zur Energa.

„Auch für die Rollenspiele, die typische Schulkonflikte abgebildet haben und die Lösungsvorschläge und Ihre engagierte Mitarbeit bedanke ich mich. Leider müssen wir jetzt an dieser Stelle Schluss machen. Der Saal muss noch für das Abendkonzert vorbereitet werden. Und es gibt ja auch schon Abendessen. Morgen Vormittag werden wir jedoch sicher noch etwas Zeit finden, um weiter über diese aktuellen Themen zu diskutieren.“ Wieder klopften die meisten beifällig auf ihre Tische und erhoben sich dann, um Richtung Speiseraum zu gehen. Unterwegs rissen die Gespräche nicht ab.

Nina ging mit Energa zum Haupthaus und sagte zu ihr: „Sie sind ganz schön mutig. Finde ich gut, dass nicht alle eine Einheitsmeinung zum Besten geben, sondern dass sich auch mal jemand traut, Kritik zu äußern.“ „Ich schaue mir das Ganze jetzt schon viele Berufsjahre an und wundere mich, wie wenig sich Lehrer für die Hintergründe ihrer Arbeit interessieren. Jeder Lehrer denkt, er erfindet die Schule neu und achtet nicht auf das, was vorher war. Oft konzentriert er sich nur auf seine Situation vor Ort. Viele Lehrer leben und arbeiten geschichtslos.“

Da ist was dran, dachte Nina, während Energa sich weiter ausließ: „Schulgeschichte ist ein Fremdwort für die meisten. Ärzte lernen im Studium Medizingeschichte, für Lehrer müsste Schulgeschichte ebenfalls ein Pflichtfach sein. Klar, gehört eine ordentliche Portion Optimismus und Hochgefühl zum Berufseinstieg. Aber es wird zu wenig historisch und politisch gedacht. Bildungspolitiker können ohne Probleme mit der Parole „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“ durchkommen und einfach ohne Bezug zur vergangenen Legislaturperiode handeln. Und weil Lehrer oft keine Ahnung haben von bildungsgeschichtlichen und –ökonomischen Entwicklungen, sind sie Manipulationen durch Medien und Bildungspolitik genauso hilflos ausgesetzt wie Eltern und Schüler“, erklärte Energa.

Das war ja alles gut und schön, was diese Energa hier erzählte. Aber es war auch anstrengend. Man musste viel denken und beachten. Nina hatte jetzt keinen Nerv mehr auf Diskussionen über Schule. Litt sie bereits an Schul-Allergie? Sie hatte Hunger und wollte sehen, wo David abblieb. Und als sie im Speiseraum war, hielt sie gleich Ausschau. Oh nein! Er saß wieder neben Blondie. Diese Nervensäge. Konnte sie David nicht in Ruhe lassen? Was wollte sie von ihm? Nina holte sich Brot, Butter, Rührei und etwas Salat und suchte sich einen Platz ganz vorne am Eingang. Energa ging weiter nach hinten in den Raum zu einem Kollegen. Nina hoffte, dass Annette kam und sich zu ihr setzte, denn an ihrem Tisch gab es noch freie Plätze.

Und schon kam sie zur Tür herein zusammen mit Peter, dem Senior-Schulrat, winkte Nina zu und rief: „Besetze mal bitte zwei Plätze für uns!“ Das war ganz selbstverständlich. Bald saßen die beiden mit ihren Tellern am Tisch. „Na, Mädle, wie geht’s dir denn so in deinem Kurs? Läuft’s gut?“, wollte Peter wissen. „Ja, es geht wirklich was ab bei uns. Unser Rollenspiel lief gut und es wurde viel diskutiert. Der Kursleiter ist einsame Spitze“, schwärmte Nina. „Na, dann ist recht“, brummelte Peter, während er in sein Leberwurstbrot biss, „ein Bier wäre mir jetzt echt lieber als dieser Blümchentee.“ „Und bei euch?“, wollte Nina wissen. „Oh, ist besser. Heute Nachmittag hörten wir einen Vortrag zu den Aufgaben eines Schulrats und die pädagogischen Ziele standen im Mittelpunkt, nicht das Qualitätsmanagement! Erstaunlicherweise!“, lachte Annette. „Was machen wir denn heute Abend?“, setzte sie hinzu, „sollen wir zum Konzert gehen?“

Ja, wenn David schon wieder mit Blondie flirtete und sie keines Blickes würdigte, dann würde sie am besten mit den beiden ins Konzert gehen. Das war keine schlechte Idee, dachte Nina. Pünktlich um acht saßen die drei im Pestalozzisaal.

Die Pianistin mit weißer Perlenkette im schlichten dunkelblauen Kleid und der schlanke brasilianische Cellist im schwarzen Anzug hatten gerade losgelegt, als sich plötzlich jemand auf den freien Stuhl neben Nina schob. David! Nina blieb fast das Herz stehen. Er schaffte es wirklich immer wieder, sie zu überraschen. Seine blauen Augen lächelten sie tiefgründig an.

Und dann versuchte sich Nina auf die Musik zu konzentrieren, auch wenn es ihr schwer fiel. Aber sie konnte sich lossagen und frei machen. Es war völlig egal, wer neben ihr saß. Sie ließ ihrer Seele freien Lauf, ließ sie ganz hinauf - und hinausschweben aus dem Pestalozzisaal.

Weg von aller Mühsal, von Energas und Dragonerinnen, von Ganztagsschulen in 1970er- Jahre-Beton, von rhythmisierten und heterogenen Gemeinschaftsschulen, von Herzschmerz und Liebesleid, von Macht- und Intrigenspielchen. Die Klänge spülten alles hinweg und reinigten sie und ihr Seelenkostüm. Plötzlich erreichte sie ein dunkler, sanfter Blick. Und dann kam die Pause.

„Kommst du nachher noch mit mir in die Stadt?", fragte David sofort. Nina hätte am liebsten verneint. Sie wollte ihm einen Strich durch die Rechnung machen und sich rächen für seine Unaufmerksamkeit. Sollte er doch den Abend mit seiner Blondie verbringen. Was wollte er plötzlich hier bei ihr? „Am Abend ist es so schön auf dem Marktplatz, noch schöner als tagsüber. Die alten Häuser sind beleuchtet. Man sieht Sterne und Mond, den samtblauen Himmel. Das musst du erleben." Plötzlich wieder diese Romantik. Das war fast zu viel.

Diese Widersprüchlichkeit macht mich fertig, dachte Nina. Sie stand auf und ging zu Peter und Annette, die ihr einen vielsagenden Blick zuwarf und ihr zuraunte: „Heißer Typ! Herzlichen Glückwunsch!" „Mir ist er fast zu heiß!", flüsterte Nina zurück. Annette grinste breit. Sie schien eine der Frauen zu sein, die nicht gleich wegen jedem Mann, der auftauchte, mit einem in Konkurrenz trat. Und sich in Szene setzte. Wie wohltuend!

Dann gesellte sich der heiße Typ zu ihnen und begann eine Diskussion mit Peter über Sinn und Unsinn der Evaluation im Schulwesen. Am Ende der Pause griff er Nina kurz am Arm: „Frau Lehrerin, bitte nicht so streng. Komm doch mit." Ninas Widerstand schmolz. Ihm schien wohl sehr daran gelegen. „Okay. Aber nicht zu lange, denn ich möchte nicht zu spät ins Bett. Ich habe morgen einen anstrengenden Tag. Nach dem Mittagessen muss ich gleich los, denn netterweise haben meine Kollegen die Fachkonferenz extra auf 16 Uhr gelegt." „So viel Fürsorge ist ja unerträglich", lästerte David.

„Du hast es erfasst. Wenn's hart auf hart geht, lassen sie dich hängen. Aber wehe, du könntest es etwas lockerer haben. Das wissen sie auf alle Fälle zu verhindern. Das Konferenzwesen nimmt sowieso überhand. Dieses Geschwafel oft und diese Wichtigtuerei, diese permanente Reflexion irgendwelcher hochstilisierten Prozesse. Man kann auch bis Mitternacht reflektieren, evaluieren und dokumentieren. Wo bleiben in den Schulen die Etagenbetten für Lehrer neben ihren selbst zusammengezimmerten Arbeitsecken von Ikea?“ David lachte und Nina meinte: „Aber jetzt mal im Ernst eine Reduktion der Konferenzzeit um die Hälfte würde die Unterrichtsqualität rasant steigern. Ist das eigentlich schon einmal wissenschaftlich evaluiert worden?" David lachte: „So gefällst du mir, Nina! Ich freue mich auf nachher."

Beide lauschten wieder der Musik. Die weichen Klangwellen umspülten die beiden und hüllten sie ein in eine Aura ursprünglicher Zuneigung. Sie sorgten für Reinheit in der Motivation, Klarheit und Ruhe in der Gefühlswelt. Sanfte Augen mit schwarzen Wimpern erschienen in Ninas inneren Raum. Dieser Blick war so unendlich liebevoll und weich, dass Nina Tränen in die Augen traten. Und dann konnte sie nicht mehr alles hinunterschlucken und einige Tränen kullerten über ihr Gesicht. Ein bisschen peinlich war das schon. Annette reichte ihr ein Papiertaschentuch und David nahm kurz ihre Hand und drückte sie. Die Musik rührte an einer inneren Saite bei ihr und löste einen Schmerz, den sie lange mit sich herumgetragen hatte.

Nach dem Konzert ging sie mit David schnell und still aus dem Raum. Auf dem Weg zu seinem Auto hielt David ihre Hand. Und es fühlte sich richtig an. Sie sprachen beide nicht viel. Eine Gruppe Touristen war mit einem singenden Nachtwächter unterwegs, der eine Laterne vor sich her trug. Ansonsten war nicht viel los. Der Marktplatz wirkte wie eine beleuchtete Filmkulisse. Noch malerischer als tagsüber. Über dem Viereck des nachtblauen Himmels, der ihn überspannte, funkelten die Sterne. Der Mond hing wie ein Stück Zitrone dazwischen. Nina spürte zwar die Ruhe und Geborgenheit der Kleinstadt, aber das Bild von Blondie ließ sie nicht ganz los.

„Wer ist die blonde Frau, die manchmal neben dir sitzt und so viel mit dir spricht?", fragte sie David ausnahmsweise einmal ganz direkt. „Ach, du meinst Gabi. Sie ist auch im Evaluatorenkurs und ist eine ehemalige Kollegin. Sie hat gerade Ehestress und würde am liebsten den Evaluatorenkurs hinwerfen. Aber ich sage ihr, selbst wenn dein Ehemann nervige SMSen schickt und den Eifersüchtigen mimt, halte durch. Es wäre doch schade drum. Jetzt hat sie doch schon einige Module hinter sich. Und auch wenn der Gatte sich noch so aufregt, Gabi geht nicht fremd. Das ist absoluter Quatsch."

„Aha, bist also abgeblitzt?", vermutete Nina mit einem frechen Grinsen. „Wir kennen uns erst zwei Tage und die Dame ist schon eifersüchtig. Ist ja allerhand!" David packte Ninas Hand und zog sie Richtung Kirche, bis sie beide atemlos unter dem schiefen Turm standen. Er umarmte sie so, dass sie sich mit dem Rücken an seine Brust kuscheln konnte und hielt sie in der Taille fest. Beide schauten schweigend auf den Marktplatz, der vor ihnen lag und ließen die besondere Ausstrahlung des Ortes auf sich wirken. David flüsterte ihr ins Ohr: „Lass dich nicht drausbringen durch irgendwelche blonden Engel. Das hast du gar nicht nötig. Wir beide haben uns nicht zufällig getroffen. Du gefällst mir. Es kommt mir so vor, als würde ich dich schon ewig kennen."

Nina lehnte sich wohlig an ihn und spürte, wie eine warme prickelnde Welle durch ihren Körper floss. Es war so schön, sich geborgen und begehrt zu fühlen. David drehte sie um. Seine Augen glitzerten im Halbdunkel und dann küsste er sie mit warmen Lippen auf den Mund. Er lächelte Nina an: „Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe. Komm, lass uns noch ein Glas Wein trinken gehen. Hier ganz nahe am Marktplatz gibt es eine urige Weinstube." „Woher kennst du dieses Städtchen denn so genau?" „Oh, wir Evaluatoren sind eine taffe Gruppe. Wir evaluieren alles, manchmal auch Weinstuben", scherzte David.

Kurz nach 23 Uhr kamen beide wieder in der Tagungsstätte an. Zwar hatte Nina gesagt, dass sie früh zu Bett wollte, aber jetzt fiel es ihr doch schwer, sich wieder von David zu trennen. Also ging sie mit ihm in die Bar, wo er gleich mit einem großen Hallo von seinen Kurskollegen, natürlich auch von Blondie, begrüßt wurde. Er signalisierte Nina, dass ihm jetzt nichts anderes übrig blieb als zu seiner Arbeitsgruppe zu stoßen. Nina blieb am Eingang stehen und überlegte, ob sie sich nach diesem ereignisreichen Tag nicht besser in ihr ruhiges Zimmer zurückziehen sollte.

Da traf sie ein Blick aus sanften Augen. An der Theke lehnte der Cellist, der jetzt auf sie zukam: „Wenn Musik die Seele so berührt, dann ist meine Arbeit und mein vieles Üben und Trainieren sinnvoll. Ich danke Ihnen. Die Ergriffenheit der Zuhörer ist das schönste Geschenk für uns Musiker." Nina wusste gar nicht, was sie sagen sollte. „Jorge de Rivera", der Cellist gab ihr seine Hand und sie ihm völlig entgeistert ihre. War es wirklich so, dass es Phasen im Leben einer Frau gab, in denen sich kein Mann für sie interessierte und dann Phasen, in denen gleich mehrere auf einmal auftauchten? Dieses Geheimnis hatte ihr ihre Schwester einmal verraten. Und jetzt schien es sich zu bewahrheiten.

Sie stotterte ihren Namen heraus, aber Jorge störte das nicht. „Sollen wir noch einige Schritte in der Abendluft gehen?", fragte er, nahm sie am Arm und führte sie einfach hinaus, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Mir ist es schnell zu laut in Kneipen. Aber hier draußen ist es schön ruhig. Ich hoffe, Sie frieren nicht." Nina schüttelte den Kopf. Und Jorge lenkte beide in den Park mit den alten Bäumen. Auf einem Kiesweg kamen sie zu einem kleinen alten Pavillon, umgeben von dunklen Thuja-Büschen und einigen dicken alten Buchen. „Wir Musiker sind ständig unterwegs. Wir sehen viele Orte. Aber dieser hier ist ein ganz besonderer. Er atmet Lebensfreude aus und Naturverbundenheit. Wir sollten uns den Pavillon morgen gemeinsam ansehen, bevor ich wegfahre. An den Decken und Wänden gibt es schöne alte Fresken. Hätten Sie gegen neun Uhr Zeit?" „Ich nehme an einem Kurs teil. Dieser startet um halb neun, aber ich werde mich entschuldigen. Länger als eine halbe Stunde wird es wohl nicht dauern. Ja, ich werde um neun Uhr am Eingangsportal der Tagungsstätte sein."

Nina war über sich selbst erstaunt. Wie konnte sie sich mit Jorge verabreden, wo sie doch dabei war, sich in David zu verlieben. Es mussten Jorges sanfte Augen sein, dieser Blick, dieses tiefe Verständnis, diese Wärme, die er ausstrahlte. „Ich glaube Sie frieren ein bisschen", stellte Jorge mit zärtlich-weicher Stimme fest. Nina lächelte: „Ich muss jetzt wirklich ins Bett. Es war ein anstrengender Tag." Sie unterdrückte ein leichtes Gähnen. Jorge begleitete sie noch zur Eingangstür und verabschiedete sich mit sanftem Blick und melodiöser Stimme. Dieser Mann lebte Musik, dachte Nina noch, dann fiel sie nach einer kurzen Toilette schwer ins Bett und schlief wie ein Stein. Mitten in der Nacht wachte sie auf, denn es pochte leicht an ihre Tür. Ihre Augen klappten kurz auf, aber dann sofort wieder zu.

Nebel über Pisa

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