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Kapitel IV - Die Jungfrau muss runter und andere Rollenspiele

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Warum musste der Lehrgang schon um 8:30 Uhr starten? Aus den Nachbarzimmern drangen schon Duschgeräusche und ein nerviges Handyklingeln. Zeit aufzustehen, Duschen, Frühstücken, Rollenspiele. Ach, nur noch einige Minuten dösen und genießen, dass man heute Morgen nicht in die Schule musste. Nina war noch müde, aber sie musste sich jetzt einfach aufrappeln. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte ihr, dass es jetzt sogar sehr schnell gehen musste. Sie duschte und zog sich sorgfältig an: dunkelblaue Stoffhose, weiße Bluse, braun-karierter Blazer und dazu kurze braune Westernboots. Oh la la! Schminken. Und ein Blick aus dem Fenster - der Tag versprach schön zu werden.

Ein Hauch von Grün lag auf der Landschaft draußen. Heute nach dem Mittagessen würde sie auf alle Fälle an dieser Führung durch die Anlage für die Gäste der Fortbildungsstätte teilnehmen.

Im Speiseraum war gar nicht mehr so viel los. Mit einem Kaffee und einem Teller mit einem Brötchen, etwas Butter und Käsescheiben suchte sich Nina einen Platz am Fenster, wo nur ein einzelner Teilnehmer saß. Lust auf Gespräche hatte sie noch nicht. Sie murmelte ein: „Guten Morgen!“, stellte ihre Sachen ab und holte sich dann noch eine kleine Schale Müsli mit Früchten. Als sie gerade dabei war das Müsli zu löffeln, das übrigens hervorragend schmeckte, betrat David den Raum. Nina sah konzentriert auf die Tischdecke und das Blumenväschen mit den kleinen blauen Blüten. Sogar dem Salz- und Pfefferstreuer-Set konnte sie im Moment einiges abgewinnen.

„Guten Morgen. Wie ist das werte Befinden?“ Nina stand innerlich der Mund offen, dieser David war ja nahezu durchtrieben. Gestern Abend hatte er Blondie oder besser gesagt Gabi fertig gemacht und am nächsten Tag ging er schon wieder auf die Pirsch. Nein, so nicht, du Evaluations-Macho! Nicht mit mir! „Guten Morgen“, brummelte sie abwesend und beeilte sich in ihr Käsebrötchen zu beißen. „Der Kurs schlägt wohl auf die Stimmung, was?“, David strahlte sie so an, dass ihr Widerstand schmolz. Was für eine Augenfarbe hatte er eigentlich? Ein strahlendes Dunkelblau mit schwarzem Rand. Und dazu lange schwarze Wimpern. Auf jeden Fall etwas ganz Besonderes. Und dazu dieses Zahnpasta-Smile! So hätte Nina früher mit Stephanie, als sie noch Teenies waren, herumgealbert. David war einfach ein Traumtyp, das fand die blonde Gabi eben auch. Kein Wunder!

„Ja, da kannst du Recht haben“, beeilte sie sich zu sagen. „In meiner Arbeitsgruppe gestern war einiges geboten. Kann man Karriere wirklich nur machen, wenn man über Leichen geht und andere beherrscht? Gibt es überhaupt kooperative Führung? Oder ist das nur ein Märchen?“ „Brav, Prinzessin, brav. Zweifeln ist die beste Grundlage für Denken. Und eigenständiges Denken ist immer noch allem Mediengebrabbel vorzuziehen.“ „Wie meinst du das? Mediengebrabbel?“

„Das meiste, was uns die Medien so darbieten, ist eindeutig präpariert. Man könnte auch sagen, wir werden manipuliert. Und das betrifft natürlich auch das Thema Bildung, ist doch klar. Was offiziell verbraten wird, muss nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen. Man kann humane und soziale Ziele vorgeben und genau das Gegenteil davon in die Wege leiten. Man kann unsoziale Vorgehensweisen verbrämen mit Gerechtigkeit und Humanität, um so Schülern, Eltern und Lehrern bittere Pillen schmackhaft zu machen. Tarnen, Täuschen und Tricksen – du verstehst!“

„Aber warum sollte man die Bevölkerung so reinlegen? Warum sagen die Verantwortlichen nicht, was sie wirklich vorhaben?“ „Weil das, was sie vorhaben nicht unbedingt zum Wohle des Volkes ist. Ganz einfach! Weil es einen Aufstand geben würde, wenn etwa die Eltern merken würden, wie sehr die öffentliche Bildungsversorgung und -qualität in Gefahr ist. Also muss man die Dinge umschreiben, anders verpacken und am besten noch mit wissenschaftlichen Studien belegen. Dazu engagiere man noch Popstars der Pädagogik am besten mit einem netten Schweizer Dialekt, wobei man mit dem Honorar nicht knausrig sein darf. Diese Innovatoren brauchen ein angemessenes Domizil, vielleicht ein kleines Palais in irgendeinem Kanton mit Blick auf die Alpen, wo sie ihre pädagogischen Visionen entwickeln können. Das kreative pädagogische Potenzial erhöhte sich dann noch einmal durch die eigene Yacht.

Auch Gehirnforscher sind sehr beliebt. Ein Scanner, in dem man Gehirnareale sichtbar machen kann, ist eine gewinnbringende Investition, bringt richtig Kohle ein und man kann so einiges auf Grund solcher Untersuchungen behaupten! Diese Gehirn-Gurus, gerne ohne eigene intensive Unterrichtserfahrung, ziehen dann für die Bildungspolitiker, -stiftungen oder -firmen durch die Lande und verbraten die neuesten Strategien. Sie vernetzen sich in einer Politik der Projekte.

In Form von lockerem Edutainment in Kick-off-Veranstaltungen findet dann das pädagogische Brainwashing statt. Nach dem Motto: Es darf auch mal gelacht werden! Pädagogik kann richtig locker sein. Das hättet ihr wohl nicht gedacht! Am besten lässt man das Auditorium noch auf einem Bein hüpfen und sich mit der linken Hand ans rechte Ohrläppchen fassen, um die Gehirnhälften auszugleichen, versteht sich. Anschließend erlebt man ein pädagogisch euphorisiertes Publikum, das mit glänzenden Augen zu allen Reformen bereit ist, die angepriesenen Bücher zum günstigen Kongresstarif kauft, auf Autogrammjagd geht und einem auch ansonsten aus der Hand frisst.“

Nina musste nun doch lachen: „Das artet zu einer Grundsatzdiskussion aus. Und wir Lehrer haben doch ganz andere Sorgen und die Eltern und Schüler auch. Außerdem muss ich in meinen Kurs, sonst wird Herr Bucher sauer. Er mag es nicht, wenn man zu spät kommt.“ „Stimmt, du hast Recht, ich muss mich auch beeilen.“ Nina stand auf und grinste David an: „Na, dann viel Spaß beim Evaluieren!“ „Klar! Ich liebe es“, lachte David, „dieser Evaluatorenkurs ist XXL. Wir müssen sieben Module besuchen, wir sind jetzt im vierten. Und alle finden hier statt. Ich fühle mich langsam zuhause. In der Rezeption sagen sie schon „Dovele“ zu mir - so nennt man hier in der Gegend die kleinen Jungs, die David heißen - und geben mir mein Lieblingszimmer im ersten Stock. Es ist groß, hell und mit Schreibtisch sowie zwei gemütlichen Sesseln ausgestattet. Kannst es dir gerne mal ansehen.“ Nina lachte und machte sich auf Richtung Pestalozzisaal. Dieser Einladung von Dovele würde sie auf keinen Fall Folge leisten.

Herr Bucher ließ heute neue Arbeitsgruppen entstehen, ein Glück. Dieses Mal war Nina zusammen mit ganz neuen Personen, die sie nur aus den kommunikativen Übungen am Anfang des Kurses kannte. Sie waren wieder zu viert, zwei Männer und zwei Frauen, und sollten ihre Konfliktfälle erörtern, sich dann für einen entscheiden und diesen im Rollenspiel darstellen. Vorher gab es eine halbe Stunde Tipps zur Gesprächsführung in Konfliktfällen. Diese Anregungen sollten in das Rollenspiel einfließen. Herr Bucher ließ den Gruppen den gesamten Vormittag Zeit zur Besprechung und Erarbeitung. Er wollte keinen Druck ausüben. Am Nachmittag sollten die Konfliktfälle und eine Lösungsstrategie im Rollenspiel vorgestellt werden.

Ninas Arbeitsgruppe zog sich mit Stühlen und Schreibzeug bewaffnet in eine Ecke des Pestalozzisaals zurück. Man stellte sich noch einmal kurz vor und einigte sich auf das Arbeits-Du. Es war ein weiterer Realschullehrer in der Gruppe, Michael, eine Grundschulrektorin, Susanne, und Andreas, ein Hauptschullehrer. In der Gruppe herrschte eine ruhige offene Atmosphäre. Keiner meinte, er oder sie müsse die Führung übernehmen. Also keine Dragoner an Bord, dachte Nina. Ein Glück.

Michael begann zu erzählen. Er hatte Probleme mit seinem Schulleiter, der ihm Steine in den Weg gelegt hatte. Bei einem Wettbewerb um das schönste Klassenzimmer, den der Rektor selbst initiiert hatte, hatte er mit seiner zehnten Klasse Ideen entwickelt und ehrgeizig gearbeitet. Er hatte seine Klasse zur Teilnahme motiviert, obwohl einige Schüler – er arbeitete an einer Brennpunktschule in einem Migranten-Vorort von Karlsruhe - schon total frustriert waren und eine Keine-Chance-Haltung eingenommen hatten. Zuerst einmal hatten die Schüler ein Wandfries mit allen Sternzeichen hergestellt. Das Sternzeichen Stier etwa wurde aus Zeitungspapier gerissen und in kleinsten Stückchen liebevoll aufgeklebt. Andere Sternzeichen malten die Schüler. Sie waren kreativ und mit Freude dabei. Diese Unterrichtsstunden waren also echte pädagogische Highlights. Auf jeden Fall entstand so eine Sternzeichenreihe, die oben an einer Längswand aufgehängt wurde. Zwei Mädchen, die fleißigsten und klügsten in der Klasse überhaupt, Ann-Katrin und Ines, hatten Zeitschriften durchgeblättert und waren begeistert, als sie die Jungfrau schon völlig komplett vorfanden. Sie räkelte sich mit schwarzen Handschuhen auf einem Sofa, Zigarettenspitze, schwarze Strümpfe mit kurzem Höschen drüber und oben natürlich ohne. Sie schnitten die hotte Lady aus und klebten sie auf lila Karton. Dass es sich um die Jungfrau handelte, wusste jeder. Eine herrliche Ironie!

Michael forderte danach die Schüler auf, ihre Zukunftsträume in Collagen darzustellen. „Einige von euch haben die Schule ziemlich satt. Dann zeigt mir, wie es besser wird, wenn diese Schule hinter euch und euer Leben vor euch liegt. Wie soll es laufen? Was sind eure Träume?“ Die Schüler nahmen ihre Aufgabe ernst und klebten in aller Freude und auch Unschuld ihre Lebensvisionen auf die hellgelben Kartons. Da war so einiges zu sehen: fette Parties mit Magnum-Sektflaschen, Reisen auf Luxuslinern, coole Autos, aber auch Familienleben, Babies, die dazu gehörigen Wohnungen und Häuser, Sport und Spiel. Es war nicht alles künstlerisch wertvoll, aber ehrlich, sehr ehrlich. Und diese Offenheit steckte an und so begeisterten die Schüler sich gegenseitig. Einige Jungs ließen auch das eine oder andere sexy Girl erscheinen, nicht nackt, sondern immer leicht verhüllt nach Bikini-Art. Die Mädchen standen eher auf Waschbrettbäuche. Für eine zehnte Klasse also völlig normal. Die etwa 18 Collagen wurden wie ein großer Block im Klassenzimmer hinten an der Pinnwand befestigt.“

Am Tag vor der Entscheidung hatte Michael das Klassenzimmer inspiziert, alle gelobt und gesagt, dass sie sehr preisverdächtig gearbeitet hätten. Es fehle in seinen Augen jedoch noch an aktiven Elementen. „Ich habe deshalb im Technikraum bunten Karton geholt und die Schüler gebeten Flieger zu basteln. Diese wurden in verschiedenen Höhen mit Nylonfaden an die Decke gehängt und vorher mit flotten Sprüchen versehen. Das Klassenzimmer war so sauber und aufgeräumt wie nie zuvor. Für das Lehrerpult hatte ich eine Topfpflanze spendiert. Alle waren glücklich und fanden diese Gemeinschaftsaktion gelungen. Die Stimmung war gehoben.

Als dann am Montagmorgen noch zwei Schauspieler, die im Deutschunterricht mit den Schülern über das Buch „Mondscheinallee“ sprachen, die Gestaltung des Klassenraumes hervorhoben, waren alle überzeugt, die Sache sei super gelaufen und bei der Bewertung durch die Jury hätte man bestimmt gut abgeschnitten.

Zwei Stunden später kam ich erneut in die Klasse. Die Flieger waren abgerissen und lagen zerknüllt herum. Die Stimmung unter den Schülern war absolut im Keller. Das Sternzeichenfries war nicht mehr vollständig. Es herrschte eine sprachlose, dumpfe Verzweiflung.

Die Schüler berichteten mir, dass der Rektor in der vorhergehenden Stunde, eine Fachlehrerin hielt gerade Unterricht, das Klassenzimmer betreten und die Klasse zusammengestaucht hätte. Er hätte sich vor der Jury geschämt. In einem solchen Klassenraum würde er sich weigern zu unterrichten, denn diese leicht bekleideten Mädchen auf den Postern an der Pinnwand fände er nicht passend. Außerdem dürften aus feuerpolizeilichen Gründen keine Flieger an den Neonlampengittern hängen. Man müsse sie sofort abnehmen. Das Sternzeichen Jungfrau sei eine Frechheit. „Die Jungfrau muss runter!“, habe er gebellt und dann musste Bernd, der größte Junge in der Klasse, vor seinen Augen auf einen Tisch steigen und die Jungfrau herunterholen.“

Die drei Zuhörer in der Arbeitsgruppe schluckten und sahen sich betroffen an. Eine kurze Zeit herrschte Schweigen. Dann fragte Andreas: „Wie ging es denn weiter?“

„Ich habe versucht, die Klasse zu trösten, was kaum mehr möglich war“, setzte Michael fort. „Die Schüler hatten sich so engagiert und waren so begeistert gewesen, dass sich diese unerwartete kalte Dusche durch die Schulleitung absolut verheerend auswirkte.“

Michael hatte dann die Poster an der Pinnwand abgenommen, um sie gegebenenfalls als Beweismittel zu haben. Man wusste nie, wie die Sache weiterlaufen würde. Der Rektor, für seine autoritäre Art bekannt, würde sich vielleicht noch das eine oder andere einfallen lassen. Auf jeden Fall war der Vorgesetzte mächtig aus der Rolle gefallen und hatte jegliche Contenance verloren, von pädagogischer Grundhaltung ganz zu schweigen. Auch dass er mit Michael nicht vorher Rücksprache gehalten hatte, war ein Fauxpas gewesen. Vor einigen Tagen hatte jetzt ein Elternabend stattgefunden und die Eltern der 10 a, die anwesend waren, und das waren die engagierten Eltern, hatten berichtet, dass der Rektor sogar im Elternbeirat Stimmung gemacht hätte. Von „nackten Weibern“ sei die Rede gewesen.

„Ich habe daraufhin die Poster aus dem Kofferraum meines Autos geholt und sie den Eltern gezeigt. Über die Harmlosigkeit der Plakate waren die Eltern sehr erstaunt. Sie hatten irgendetwas Pornographisches erwartet“, erzählte der Realschullehrer.

Michael wirkte sehr bedrückt, als er diese Geschichte erzählte und er hatte Angst. Das war deutlich zu spüren. Er hatte schon seine Versetzung ins Auge gefasst. Er wollte nicht noch mehr Schwierigkeiten mit diesem Rektor, der ihm schon im Vorfeld das Leben schwer gemacht hatte. Im Grunde war der Schulleiter enttäuscht über Michael und ließ ihn das jetzt gnadenlos spüren. Er hatte ihn für das Schulleitungsteam gewinnen wollen mit den Worten: „Herr Nussbaum, ich habe Großes mit Ihnen vor!“ Michael hatte sich durch die Aussage überrumpelt gefühlt und Distanz eingelegt, denn er wollte nicht direkt ablehnen. Eine klare Ablehnung dieses Antrags hätte der Rektor ihm vermutlich sehr übel genommen.

Keine sehr geschickte Personalführung, dachte Nina. Eine einfache Frage wäre besser gewesen: „Haben Sie Interesse daran im Leitungsteam mitzuarbeiten?" Und dann dem Kollegen Zeit geben, sich die Sache zu überlegen. Es gab sehr gute Rektoren und Rektorinnen, das hatte sie selbst erlebt, aber es gab auch viel Unfähigkeit, Angstmache, Druck, Einschüchterung. Und intrigante Kommunikationsstrukturen gingen meist mit Unfähigkeit einher. Schulangst gab es nicht nur bei Schülern, sondern des Öfteren auch bei Lehrern. Aber wenn in der Schule die Lehrer unter Druck gesetzt wurden und man deren Expertise und pädagogische Grundhaltung so wenig schätzte, dann färbte das unter Garantie auf die gesamte Situation ab. Auch auf Schüler und Eltern.

Die Konfliktsituation, die Michael geschildert hatte, war sehr komplex. Vielleicht zu komplex für eine solche Arbeitsgruppe. Die gleichen Bedenken hatten auch die anderen. Michael meinte: „Ich bin trotzdem froh, dass ich euch diesen Fall so ausführlich schildern konnte, denn während man so erzählt, wird einem einiges klarer. Der Rektor musste Angst vor Elternprotesten haben und deshalb im Elternbeirat Stimmung machen. Mir haben einige Eltern später gesagt, dass sie das Verhalten der Schulleitung bedauerlich fanden. Sie hatten mitbekommen, mit wie viel Freude ihre Kinder bei dieser Gestaltungsaktion dabei gewesen waren.“

Susanne, als Grundschulrektorin, kannte sich aus: „Du musst dir Beratung und Coaching suchen, Michael. Alleine kannst du diese vertrackte Situation nicht lösen. Auch wenn sich dein Rektor wahrscheinlich mit Händen und Füßen wehrt, musst du deine Angst überwinden und eine andere Person, die dich unterstützt, einschalten. Am besten den Personalrat oder die Gleichstellungsbeauftragte. Warum nicht auch Eltern- und Klassensprecher fragen, ob sie eine Aussage machen? Ob der Schulrat eine Hilfe ist? Er ist vielleicht schon einseitig vom Rektor beeinflusst worden.“ Michael bedankte sich für die kollegiale Unterstützung und fragte: „Hat denn jemand einen Konflikt, der etwas weniger Schwergewicht hat?“ Nina meinte, ihr Mobbingfall sei ebenfalls zu facettenreich.

Andreas räusperte sich: „Dann würde ich mal meinen Fall zum Besten geben. Ist das in Ordnung für euch?“ Alle nickten. „Vor einigen Tagen machte ich mit meiner Klasse einen Spaziergang in der Nähe der Schule. Die Jungen hatten einen Fußball dabei. Die Stimmung war gut. Bewegung ist für unsere Schüler ganz wichtig. Im Grunde sollten wir Waldschulen gründen, ähnlich wie die Waldkindergärten. Auf jeden Fall wird in der Schule wird zu viel gesessen. Man lernt auch etwas, wenn man in der Natur ist. Ich bin Biologielehrer und erkläre meinen Schülern unterwegs die Pflanzen und Tiere. Ein Bauwagen ist doch auch viel kostengünstiger als ein Schulgebäude in diesen Bildungssparzeiten.“ „Kommt alles noch“, bemerkte Michael trocken. Alle grinsten.

„Auf dem Rückweg kurz vor der Schule sah ich, wie Uli Lennart von vorne zwischen die Beine grätschte, um an den Ball zu kommen. Lennart fiel auf den Teerboden, blutete im Gesicht und hatte Schmerzen. Er weinte. Uli wusste, dass das ein hammerhartes Foul war und dass er Lennarts Verletzungen riskiert hatte. Ich war aufgebracht und sagte ihm, er solle Lennart aufhelfen. Dann sagte ich streng zu ihm: „Wie dumm kann man eigentlich sein. Wir hatten jetzt erst beim Wandertag zwei unnötige Unfälle und haben darüber gesprochen, dass ihr eure Mitschüler nicht gefährden dürft. Und jetzt dies. Das wird Folgen für dich haben. Ich werde diesen Fall der Rektorin vortragen und dann wird man sehen.“

Ich konnte aber erst am übernächsten Tag mit der Schulleitung sprechen. In der Zwischenzeit hatte Uli ganze Arbeit geleistet. Die Rektorin teilte mir mit, dass sein Vater da gewesen sei. Uli hatte zuhause behauptet, ich hätte gesagt, er sei der dümmste Schüler der Schule. Das hatte den Vater, den ich vorher nie gesehen habe weder zum Elternabend noch zu Elterngesprächen, auf den Plan gerufen. Wie ein Tiger sei er im Rektorat auf- und abgelaufen und habe vor Wut geschäumt. Die Rektorin bat mich, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen. Ich sollte die Sache möglichst schnell erledigen. Ich werde es gleich nach dieser Fortbildung angehen. Wie würdet ihr in diesem Fall vorgehen?“

„Das ist ein Spitzenfall, den können wir einwandfrei im Rollenspiel darstellen“, meinte Nina. „Hier können wir unseren theoretischen Input verwerten“, grinste Michael. „Ich finde den Fall von Andreas so spannend, dass ich meinen nicht unbedingt einbringen muss. Also lasst uns überlegen“, sagte Susanne. „Es gibt eine Regel", fügte sie hinzu, „das hat mir einmal eine Mutter erzählt. Geht es um Peanuts im Schulleben des Kindes, erledigt das die Mutter. Wird die Sache schlimmer eingeschätzt, tritt der Vater in Aktion. Er verkörpert in sozialer Hinsicht anscheinend mehr Macht. In einem ähnlichen Konflikt habe ich übrigens erlebt, dass die Eltern zu mir gesagt haben, ihr Junge hätte doch nur gespielt. Ich sei ja wohl eine schreckliche Lehrerin. Was ich denn eigentlich hätte? Und wie gemein ich eigentlich sei.“ Alle lachten etwas betreten.

Das waren genau die Äußerungen, die manche Eltern von sich gaben, wenn sie meinten ihre Kinder schützen zu müssen, dachte Nina. Bei Mobbing zum Beispiel waren die Eltern der Täter oft uneinsichtig und schlugen sich mit folgenden Bemerkungen auf die Seite ihrer Kinder: „Warum hat sich denn der XY – also das Opfer - nicht gewehrt? So sind Kinder eben! Das darf man doch nicht so ernst nehmen!“ Wie sich ein Einzelner gegen die Übermacht einer Gruppe wehren sollte, konnten sie aber auch nicht erklären. Außerdem verhinderten sie damit, dass ihr Kind lernte, zu seinen Fehlern zu stehen und sich zu entschuldigen. Wie und wann sollten Kinder Empathie und soziales Handeln lernen? In der Schule waren sie meist noch in einer festen Klassengemeinschaft, auch wenn diese sich durch die aktuellen Reformen immer mehr auflöste. Dabei bot eine nicht zu große Klasse den Kindern und besonders Einzelkindern große Chancen für soziales Lernen. Dazu bedurfte es nicht einmal der Gemeinschaftsschule oder der Inklusion. Das hatte Schule immer schon geleistet.

Die Arbeitsgruppe entwickelte in einem Brainstorming mehrere Lösungsansätze und einigte sich dann auf einen bestimmten Ablauf, den sie aufschrieb und im Rollenspiel einübte. Es machte allen Spaß und es wurde viel gelacht. Die Rollenbesetzung sah folgendermaßen aus: die Mutter wurde von Nina gespielt, Andreas spielte den Klassenlehrer, Michael den Vater und Susanne eine Kollegin, die ebenfalls in der Klasse unterrichtete und Uli von daher gut kannte. Uli war nämlich schon früher aufgefallen. Es hatte schon einmal ein Gespräch mit der Mutter gegeben. Die Kollegin war damals auch dabei gewesen. Das Gespräch sollte in der Schule im Klassenzimmer stattfinden.

Aber vor einem letzten Probe-Durchlauf der Gesprächsszene brauchten alle erst einmal eine kleine Verschnaufpause. Sie gingen zu viert auf den Hof und vertraten sich etwas die Beine. Es war bedeckt, aber man ahnte die Sonne hinter den Wolken. Eine leichte Brise fuhr durch Ninas Haare und sie kam ein bisschen ins Frösteln. Ein großes rechteckiges Blumenbeet zwischen den Gebäuden wurde nach dem langen Winter hergerichtet. Der Gärtner hackte fleißig und setzte frische Blumen ein. Um ihn herum sprang ein kleiner wuscheliger Hund. „Ach, ist der süß“, rief Susanne und streichelte das Hundchen. „Ja, ist ein netter Kerl, unser Fips“, lächelte der Gärtner, dem man seine menschliche Wärme und Naturliebe anspürte.

Die letzte Probe lief gut. Man war im Rollenspiel zu einer Einigung mit den Eltern gekommen. Ihre Abwehrstrategien und Ängste wurden als solche erkannt. Andreas als Klassenlehrer hörte zusammen mit seiner Kollegin erst einmal ausgiebig zu und dann spiegelten beide die Ansichten der Eltern wider. Erst als die Lehrer alles richtig gut verstanden hatten, gingen sie dazu über ihre Position darzustellen. Einer der Hauptkonflikte war auch hier, dass die Eltern ihr Kind nur von zuhause her kannten, während die Lehrer den Schüler in der sozialen Gruppe der Schulklasse wahrnahmen. Und manchmal gab es zwischen diesen beiden Welten doch erhebliche Unterschiede.

Endlich Mittagessenszeit und Nina freute sich, David wieder zu sehen. Sie hatten ausgemacht, dass sie sich beim Essen wieder zusammen an einen Tisch setzen wollten. Nina studierte den Speiseplan, der neben dem Eingang zum Speiseraum angebracht war. Linsen, Würstchen und Spätzle und als vegetarisches Gericht Käsespätzle. Deftig, schwäbisch! Und natürlich wie immer ein Salatbüffet. Zum Nachtisch gab es eine Quarkspeise mit Erdbeerspiegel. Das hörte sich alles grundsolide an. Nina betrat den voll besetzten Speiseraum, in dem ein ziemlicher Lärm herrschte. David saß in der Mitte des Raumes, hatte einen Platz neben sich frei gehalten und winkte ihr lachend zu. Ninas Herz klopfte ein bisschen schneller, als sie ihn sah. Er war einfach süß. Am Büffet deckte sie sich mit Salat und Käsespätzle ein und ging in seine Richtung.

„Na, alles okay?“, fragte er, als sie sich hinsetzte. „Es war echt gut heute Vormittag, dieses Mal ist die Arbeitsgruppe okay.“ Nina grüßte kurz die anderen Personen am Tisch, sicher alles Evaluatoren. Blondie war nicht zu sehen. „Die Käsespätzle schmecken gut“, sagte sie zu David. „Hol dir noch ein paar Linsen, die sind wirklich überzeugend“, stellte dieser fest. „Und was machst du in deiner Mittagspause?“, fragte er dann. „Ich wollte die Führung durch die Anlage mitmachen.“

„Schade, ich hatte gedacht, wir könnten ins Städtle fahren und am Markt einen Capuccino trinken. Vielleicht sogar draußen, wir können uns in Decken einmummeln, wenn es zu frisch ist. Die haben da welche auf den Stühlen liegen. Und dann auf die schöne Kirche mit dem schiefen Turm blicken und uns an der Kaffeetasse die Hände wärmen.“ „Ehrlich gesagt, das würde mir auch gefallen.“ David lachte: „Dann machen wir das doch einfach. Du wirst ja sicher nicht das letzte Mal hier auf einer Fortbildung sein. An der Führung durchs Gelände kannst du dann immer noch teilnehmen. Aber einen so netten Typen wie mich triffst du nicht alle Tage.“ Er schaute sie dabei aus seinen geheimnisvollen blauen Augen offen und werbend an. Nina spürte, wie sie leicht errötete. Jetzt bloß cool bleiben, dachte sie. „Stimmt, David, du bist der tollste.“ Beide lachten, denn Überspielen war die Devise.

Nebel über Pisa

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