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Kapitel III – in vino veritas

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Dort saß David im Kreis seiner Evaluatoren-Kollegen und eine langhaarige Blonde neben ihm redete auf ihn ein. Na klar. Nina ging mit ihrem Teller, auf dem sie für sich Brot, Käse und etwas Salat vom Büffet angerichtet hatte, an seinem Tisch vorbei. Er sah nicht mal auf, so vertieft war er in das Gespräch mit Blondie, wahrscheinlich Sportlehrerin, jung, knackig und braun getönt.

Nina setzte sich ganz hinten in eine Ecke des Restaurants und schmollte ein bisschen vor sich hin. Zwei bärtige Mittelalter-Kollegen fragten, ob bei ihr noch Platz sei. Und dann ging es um Schulratthemen. Die waren wohl im gleichen Kurs wie Annette. Und da kam Annette auch schon mit ihrem Teller und nickte Nina freundlich zu.

Sie zog kurz die eine Braue nach oben, als sie die beiden Schulrat-Kollegen sah, konzentrierte sich aber dann auf Nina: „Hallo, wie war dein Tag?“ „Etwas müde und geschafft. Wir haben so ein paar Hardliner in unserem Kurs, oh Mann!“ Annette antwortete lakonisch: „Nicht nur ihr! Aber davon lassen wir uns doch die Stimmung nicht vermiesen.“ Annette grinste: „Wir bleiben erst recht konstruktiv und kohärent! Was machst du heute Abend?“ Nina war nach früh ins Bett gehen, aber eigentlich war das schade bei so einem Angebot an Kontakten. Mit Annette ein bisschen quatschen, das würde ihr sicher gut tun, denn die frischgebackene Schulrätin schien das Herz auf dem rechten Fleck zu haben.

„Wir sollten uns die Bar mal ansehen. Und vorher könnten wir noch ein bisschen frische Luft schnappen und durch den Park gehen. Und? Gibst du mir ein aufbauendes Daumenfeedback?“ Die Unternehmungslust von Annette war echt ansteckend. Und eine halbe Stunde später trafen sie sich zu einem Spaziergang. Sie konnten auf die kühle Abendlandschaft ringsum blicken und die Ruhe genießen. Nur einige Dohlen krächzten um das Dach des Tagungshauses.

„Wie ist das schön, der Regel- und Führungswelt und den Konfliktlösestrategien zu entkommen“, seufzte Nina. Annette lachte: „Da hast du Recht! Wir müssen das Gute sehen, denn sonst verzweifeln wir. Das Essen ist super, die Umgebung auch und überall gibt es ein paar nette Kollegen!“ Und dann kam Nina doch noch auf den Konflikt zu sprechen, den Mobbingfall Larissa und Eva, der ihr vor einigen Wochen den letzten Nerv geraubt hatte.

Vor dem Religionsunterricht hatte eine Schülerin namens Eva sie angesprochen und sie um Hilfe gebeten. Sie würde permanent geärgert von den anderen Mädchen in der Klasse. Das war Nina auch schon aufgefallen: „Ich sagte zu Eva, dass sie mit ihrem Klassenlehrer darüber sprechen sollte. Das hätte sie schon gemacht, aber das hätte nichts genützt, war Evas Antwort. Also sprach ich im Religionsunterricht das Thema Mobbing an. Woran man es erkennt, und dass es absolut unfair ist einen anderen auszuschließen. Wir machten dazu einen Hefteintrag.

Daran schloss ich ein Rollenspiel an. Ich forderte die Rollenspiel-Mobber auf nicht zu hart vorzugehen, sich in ihren Worten zu mäßigen und bat Larissa die Rolle als Mobbingopfer zu übernehmen. Diese erklärte sich auch bereit dazu. Dann reflektierten wir dieses kurze, von mir absolut kontrollierte Rollenspiel. Es wurde nichts übertrieben dabei, aber jeder wusste jetzt, um was es im Kern ging und konnte sich dazu äußern. Einige erzählten, dass sie bereits ähnliche Situationen erlebt hätten. Wenn ich gewusst hätte, was diese Aktion nach sich zieht, hätte ich nichts dergleichen unternommen.“ „Wieso, das war doch alles okay und sehr engagiert von dir. Was ist denn passiert?“, fragte Annette.

„Ich bekam einen Riesenärger. Die Eltern von Larissa griffen mich an, und zwar suchten sie nicht das direkte Gespräch mit mir, sondern ausschließlich mit dem Klassenlehrer und dem Rektor. In einem Brief an die Schulleitung flickten sie mir am Zeug und stellten ihre Tochter als Opfer dar und ich hatte sie anscheinend in dieser kurzen Rollenspielsequenz dazu gemacht. Als ich die Eltern von Larissa anrief, der Klassenlehrer hatte mir ihre Nummer gegeben, nahmen sie nicht ab. Als ich es über mein Handy versuchte, nahm der Vater ab, denn meine Handynummer kannten die Eltern nicht.“ „Ist ja allerhand, wie feige!“, kommentierte Annette. „Eigentlich lief das Gespräch mit ihm dann ganz gut, aber die Mutter wollte die Sache partout nicht friedlich beilegen. Sie wollte einen Show-Down im Rektorat.“ „Frauen können manchmal so giftig sein. Es ist furchtbar! “

„Die Mutter hackte auf mir herum und obwohl ich mich sehr gut auf das Gespräch vorbereitet, und dem Rektor auch meine Sicht der Dinge schriftlich mitgeteilt hatte: Im Grunde hatte ich keine Chance. Als ich einige Sätze über Mobbing vorlas, griff mich sogar die Konrektorin an und meinte, ich wolle mich aufspielen. Auch der Vater unterstellte mir, dass ich einfach nur Recht haben wolle, weil ich als Lehrer am längeren Hebel sitze. Totschlagargumente! Die Realität sah komischerweise ganz anders aus. In konzertierter Aktion ging die Gruppe – Rektor, Konrektorin, Eltern, Klassenlehrer, also fünf Personen – gegen mich, eine Einzelne, vor – das war regelrechtes Aktionsmobbing. Ich hätte etwas falsch gemacht, ich sollte mich bei Larissa entschuldigen.

Über das Opfer, nämlich Eva, sprach keiner. Das Leid dieses Mädchens interessierte weder die Eltern, noch den Rektor, die Konrektorin oder den Klassenlehrer. Es war absolut erschütternd. Und keiner wollte sehen, dass ich Eva helfen wollte und rein ethische Motive hatte. Ich war so fix fertig, dass ich mich anschließend ohnmächtig fühlte und in Tränen ausbrach. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Mittlerweile habe ich die Sache analysiert und sehe sie mit Abstand. In diesem Konflikt spielten mehrere Aspekte eine Rolle. Der Rektor hätte im Vorfeld eigentlich offen mit mir reden müssen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Annette. „Nun, erstens sind die Eltern von Larissa Vereinsfreunde der Konrektorin. Sie verabschiedete sie nämlich mit sportlichem Schulterklopfen, mit Du und jovialem Vereinsjargon. Zweitens war Larissa die Hauptmobberin, das war mir vorher echt nicht klar gewesen. Larissa ist eine bemitleidenswerte kleine Streberin, angestachelt von ihrer ehrgeizigen Mutter. Und Streber, die ständig Einsen kassieren, weil Mutti zuhause nachhilft, mag keiner. Aus Angst davor gemobbt werden, stachelte Larissa ihre Mitschülerinnen gegen Eva auf. Sie wollte von sich ablenken und tat das sehr raffiniert. Eva hatte keine Lobby. Ihr Vater ist arbeitslos. Sie musste früh Verantwortung in der Familie übernehmen, sie selbst ist gutmütig und in ihrer Offenheit wehrlos. Larissa ist ein sehr kluges, aber intrigantes Mädchen, das alles zu seinen Gunsten darstellt und damit durchkommt, vor allem bei den Eltern.

Drittens hatte der Klassenlehrer ein schlechtes Gewissen, weil er selbst gegen dieses Mobbing nicht vorgegangen war. Dieses Mobbing fand schon seit mehr als zwei Jahren statt. Mein Kollege Uwe kennt die Klasse aus dem Sport schon wesentlich länger und hat mir das erzählt. Larissa wechselt von dieser Schule weg ins Gymnasium. Eva erscheint alles andere als unbegabt, aber sie lebte in einer unerträglichen Situation. Das musste sich einfach auf ihre Schulleistungen auswirken.

Viertens wollte der Rektor keinen Ärger mit Larissas Eltern. Sie sind im Ort bekannt und deshalb machte er gemeinsame Sache mit der Konrektorin. – Und ehrlich während ich dir das erzähle, bekomme ich schon wieder Beklemmungen!“ „Also, das lief ziemlich unfair dem Mobbingopfer und dir gegenüber ab. Ich muss schon sagen, da reicht ein Fortbildungskurs für die Schulleitung nicht!“, lästerte Annette. Beide lachten. Nina hätte sie umarmen können. Diese Frau war Spitzenklasse. Vielleicht war dies der Beginn einer guten Freundschaft. Es wäre wunderbar, dachte Nina und fügte noch hinzu:

„Und übrigens es gab auch etwas Gutes. Ein Mensch bedankte sich bei mir, und zwar Eva. Stell dir das mal vor. Was für eine reife menschliche Leistung von einem Mädchen, dem die Schulzeit so vergiftet worden war. Dieser Dank kam vor einigen Tagen. Die Lage hat sich etwas entspannt. Es ist klar, die Schulwege der beiden Mädchen trennen sich. Man wird sich demnächst nicht mehr sehen.

Am Anfang hatte meine Aufklärungsaktion die Situation für Eva nicht verbessert, eher wurde die Mädchen-Mobber-Truppe noch aggressiver. Nach einiger Zeit wollten jedoch die Mädchen nichts mehr mit Larissa zu tun haben, fühlten sich von ihr nicht gut behandelt. Jetzt passierte das, was Larissa die ganze Zeit befürchtet hatte und was sie durch ihre Ausgrenzung des Sündenbocks Eva hatte verhindern wollen.

Der Klassenlehrer war nicht offensiv gegen mich. Eher versuchte er sich durchzulavieren, damit nichts an ihm selbst hängen blieb. – Ich habe daraus gelernt, dass ich Mobbing künftig immer sofort der Schulleitung melde und die Verantwortung nicht mehr auf meine Schultern nehme.“ „Absolut verständlich!“, meinte Annette. „Aber du wolltest ja in dieser Situation eine Art Soforthilfe bieten.“

„Für Lehrer gilt mittlerweile, spontan keine individuelle Verantwortung mehr zu übernehmen, sondern die Schulleitung zu informieren und abzuwarten, welche Devise ausgegeben wird. Pädagogisches Engagement in einer Form, wie es mir bisher selbstverständlich erschien, ist nicht erwünscht. Die Schulleitung soll mir sagen, wie ich vorgehen soll, dann die entsprechenden Maßnahmen treffen, Konferenzen einberufen und so weiter.“ „Irgendwie ganz schön traurig, das Ganze. Der Rektor hätte dir beistehen müssen. Und die Konrektorin war eindeutig befangen! Eigentlich hätte der Klassenlehrer schon lange eine Konferenz einberufen müssen, um das Mobbing gegen Eva zu stoppen. Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt mal einen trinken. Da hilft nur noch ein Bier oder ein Glas Wein! Schöntrinken!“ Annette kicherte und Nina freute sich über so viel Verständnis und Offenheit.

Zur Bar musste man einige Stufen hinabsteigen. Natürlich qualmten ein paar Raucher vor der Tür und einer rief: „Nur hinein in die gute Stube!“ Es schlug ihnen ein Mordslärm entgegen. Ein Stimmengewirr, fast zu viel. Sie bestellten ihre Getränke an der Theke und wollten sich einen Platz suchen. Nina sah sofort David hinten in einer Ecke sitzen, vor sich ein Glas Rotwein und neben sich: Blondie! Nina versprach sich selbst, diesen Typen zukünftig zu meiden. Er war ein Frauenaufreißer, das sah man doch sofort.

Annette fragte Nina: „Sollen wir eine Flasche Wein zusammen nehmen? Wir können ja morgen den Rest trinken.“ Nina war dagegen: „Wir könnten doch morgen mal in die Stadt gehen, so toll ist es hier in dieser Taverne doch auch nicht. Das Städtle soll aber sehr schön sein am Abend.“ „Gute Idee, dann nehme ich nur ein Viertele“, meinte Annette. Nina holte sich ein Apfelschorle. Wenn sie jetzt Wein tränke, würde sie sich morgen den ganzen Tag elend fühlen. Sie war zu aufgeregt. Morgen würde sie sich vielleicht mal ein Glas Trollinger gönnen.

Rolfie saß in der Nähe der Theke und winkte Nina mächtig zu. Kein Wunder, Dragoner-Silke hatte sich neben ihn gesetzt. Das war wohl eher ein Hilferuf. Annette strebte mit ihrem Weinfläschchen und ihrem Glas zwei leere Plätze an, ganz in der Nähe von David. Nina konnte sie nicht mehr bremsen und schon saß sie nur zwei Meter von diesem Extremjäger entfernt, an einem Nachbartisch. Aber Nina vermied es zu ihm hinzuschauen.

Annette grüßte einen einzelnen Herrn am Tisch, der wie sich herausstellte, zur Schulratgruppe gehörte. Er wirkte sportlich und nett und sprach mächtig schwäbisch: „Na, ihr zwei Mädle, wie gefällt’s euch hier?“ „Super ist das hier“, meinte Annette, „wie im Urlaub!“ „Die Antwort gefällt mir nicht, Fortbildung ist eine ernschte Sache. Das wirft kein guts Licht auf euch“, feixte der Mittelalter-Schulrat. „Seid ihr Njukammer in der Fortbildung?“ „Ehrlich, ich war noch nie hier“, sagte Nina. „Ich schon, aber das ist schon etliche Jahre her. Mittlerweile hat sich hier einiges verändert.“ „Du kennscht dich aus, Annette“, meinte ihr Kurskollege, der Peter hieß und kurz vor seiner Pensionierung noch einen Karriere-Höhenflug hingelegt hatte. Das freute ihn sichtlich. Meistens musste man in der Schulleitung gewesen sein, bevor man Schulrat wurde, aber Annette hatte es auch als ganz normale engagierte Lehrerin geschafft. Und Peter war vorher Leiter eines Medienzentrums gewesen.

„Jetzt erscht mal proscht!“ Peter stieß mit den beiden an: „So jung komme wir nimmer zusammen!“ Ein echt launiger Typ dieser Peter, der hatte sich eine gewisse Gemütsruhe zugelegt, von der man noch was lernen konnte, dachte Nina. „Also, Nina, könne mir Du sage?“ „Aber klar!“ „Schwätzet bloß net zu viel von Bildungsurlaub. Die Politiker haben doch sowieso den Rotstift in der Hand. Da muss man echt aufpassen. Aber wie wollen sie denn sonscht die ganze Reformideen unters Volk juble? Gemeinschaftsschule zum Beischpiel!“

Oh Gott, Gemeinschaftsschule – das Thema war entschieden zu viel. Nina würde sich raushalten. Der Tag war anstrengend und aufregend genug gewesen. Jetzt brauchte sie mal etwas Ruhe und leichte Unterhaltung. Bevor Peter seine Einschätzung zur Gemeinschaftsschule darlegen konnte, entstand am Nachbartisch Lärm. Blondie haute ihr Bierglas auf den Tisch mit einem: „Jetzt reicht’s!“ Zum Glück gab es keine Scherben. Alle Köpfe drehten sich zum Tisch der Evaluatoren. Blondie verließ aufgebracht die Bar. David rief: „Gabi!“ und setzte hinterher. Die Köpfe der Barbesucher drehten sich in Laufrichtung mit. Fürs Schwabenländle war das hier reichlich impulsiv. „Hier isch ja was los, jetzt haben die noch Ehestreit, unglaublich, des hätt’s früher net gäbe“, schnodderte Peter. Nina konnte sich schon denken, was los war. David war ein Womanizer, das sagte alles. Das machte auch die blonde Gabi fertig, obwohl sie jung, schlank und braun getönt war.

Peter wollte aber unbedingt endlich auf die Gemeinschaftsschule kommen, dieses Wunschkind der Bildungspolitiker, die Quadratur des Kreises, die Lösung allen Schulübels, die Innovation der Stunde, die Bildungsgerechtigkeit satt versprach. Dass in diesen Schulen harte und engagierte Arbeit von Lehrern und Schulleitern geleistet wurde, stellte niemand in Frage. Es wurde dort eine Vielzahl guter pädagogischer Ideen umgesetzt und die Lehrer und Schulleiter achteten teilweise gar nicht mehr auf sich und die eigene Gesundheit, sondern setzten sich vor allem für die gute Sache ein. Aber diese Stellwände an den Schülertischen waren komisch. Die versperrten die freie Sicht für die Schüler. Wie ein Brett vorm Kopf. Aber Nina entschloss sich ins Bett zu gehen. Man musste auch mal einen Punkt setzen: „Leute, ich bin echt müde. Ich verabschiede mich. Wir sehen uns morgen. Viel Spaß noch!“ „Die junge Leut halte echt nix mehr aus“, zwinkerte Peter und Annette meinte: „Bis morgen, Nina, schlaf gut!“ Vor der Tür der Bar standen David und Blondie und diskutierten heftig. Blondie schluchzte und rauchte. Nina hörte noch Wortfetzen, bevor sie endgültig um die Ecke bog: „Nicht so ernst nehmen ... jetzt nicht hinwerfen ... wäre schade ...“

Nebel über Pisa

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