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Kapitel 4

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Es war leicht gewesen, den so neugierigen und immer wachsamen Mauern des Nebeltempels zu entfliehen. Niemand war im Treppenhaus gewesen, niemand in der Kräuterküche und auch im Garten draußen herrschte Totenstille. Lennys nahm kaum etwas um sich herum wahr, sondern schritt zügig in Richtung des nahegelegenen Waldrandes. Sie wollte dieses Kapitel ihrer Reise schnellstmöglich hinter sich bringen und es erfüllte sie mit Genugtuung, dass Beema weder ihre so hoch angepriesene Tempelführung noch eine große Abschiedszeremonie hatte durchführen können – mehr noch, sie ahnte noch nicht einmal, dass ihr Ehrengast sich bereits wieder auf der Weiterreise befand.

Morgen würde Sara es ihr sagen und vermutlich würde die Vorsteherin diese verspätete Nachricht nicht gerade freundlich aufnehmen. Lennys hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Die Novizin war nicht aus Zucker und vielleicht gefiel es ihr sogar, Beema ein wenig zu verärgern.

Der Wald roch ein wenig modrig, Feuchtigkeit breitete sich aus. Dem sonnigen Spätsommertag würde wieder eine kühle Nacht folgen, in der sich die empfindlichen Bewohner dieser Region behaglich vor den ersten Kaminfeuern des Jahres ausstreckten und heißen Tee aufbrühten.

Sie war allein hier. Und sie würde es die ganze Nacht bleiben. Endlich fern von Fragen, von Ratschlägen, von leerem Geschwätz. Diese kostbare Zeit würde nicht an Schlaf verschwendet, sondern einem gemessenen Gang in tiefen Gedanken und dem puren Genuss der Stille und der Freiheit gewidmet. Wie selten waren diese Momente geworden....

Die Reise hierher war hektisch gewesen, immer wieder begleitet von Mitgliedern aus der Gemeinschaft und vor allem von Menrir, der nahe Gahl auf sie gewartet hatte und bis Elmenfall nicht von ihrer Seite gewichen war. Von dort aus hatte sie denselben Weg nehmen müssen, der immer wieder von Händlern und Reisenden bevölkert war, da die Zeit drängte und ein Umweg nicht in Frage kam.

Sie hatte kein bestimmtes Ziel in dieser Nacht. Ob sie Akosh an diesem oder am nächsten Tag erneut aufsuchte, war nicht wichtig. Egal, wo ihr Weg sie jetzt hinführte, sie würde jeden Schritt der Ruhe auskosten.

Sara saß immer noch allein in dem Zimmer, das noch Stunden zuvor Lennys' Quartier gewesen war. Sie musste sich hier nicht verstecken, es wäre ja nicht ungewöhnlich, wenn der hohe Gast auch einmal allein sein wollte. Aber ihr stand nicht der Sinn nach Gesellschaft. Obwohl die Leere des Raumes sie niedergeschlagen machte, wollte sie ihn auch nicht verlassen. Er war das Letzte, was sie an diese kurze und besondere Zeit erinnerte. Sie hätte gerne etwas für Lennys getan, doch wusste sie noch nicht einmal, worum es wirklich ging. Tote Cycala, ein Feind – vielleicht aus der Vergangenheit -, ein Brunnen, der allem Anschein nach gar keiner war, ein Silberanhänger eines alten Dämonenkultes und geheime Zusammenkünfte des Sichelvolkes im Keller eines Goldschmieds. Was davon gehörte zusammen, was nicht? Was tat Lennys überhaupt? Versuchte sie wirklich, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Nein, sie war sich ihrer Sache doch schon sicher.... Sie wollte es beenden, ja. Aber wie? Wer war ihr Feind, wen wollte sie in die Schranken weisen? Menrir wusste es wohl, doch Sara wollte nicht fragen. Sie wollte auch nicht neugierig sein. Aber wenn es irgendetwas gab, was sie tun konnte, dann würde sie es nicht erfahren, indem sie hier nur herumsaß.

Das Mädchen hatte nicht die geringste Vorstellung, was sie von hier aus überhaupt tun konnte, doch solange sie gar nichts tat, machte sie die Situation bestimmt nicht besser.

Mit einem vagen Gedanken verließ sie schließlich den Raum und schlich dann die Gänge zur breiten Treppe hinab, von dort aus weiter in einen schmalen Flur und dann eine weitere, wesentlich schmalere Steintreppe hinunter in den Keller.

Niemand war mehr in der Bibliothek, doch zumindest die vorderen Räume waren Tag und Nacht geöffnet, da „der Durst nach Wissen einen jederzeit übermannen kann“, so der alte Meister der Schriften, der hier tagsüber alles penibel verwaltete.

Die flackernde Öllampe verbreitete nur schwaches Licht, aber es reichte für Sara um sich zurecht zu finden. Das, worauf sie es es abgesehen hatte, lag nicht hier vorne, sondern in einer der hinteren, abgeschlossenen Kammern, versperrt für einfache Novizinnen und nur unter strenger Aufsicht durch den Bibliothekar für höhere Tempeldienerinnen zugänglich. Hier wurde das Wissen verwahrt, das Beema für unnötig, teils sogar für unwahr oder verwerflich hielt.

Sara gehörte nicht zu der Riege der Auserwählten, denen dieses Recht zuteil wurde, aber sie zählte zu den Lieblingen des Schriftenmeisters, da sie gelehrig und gleichzeitig umsichtig und still war. Und so war sie vor einiger Zeit Zeugin geworden, als der alte Mann den Schlüssel seiner Heiligtümer in ein Geheimfach seines Schreibtischs geschoben hatte. Er hatte Saras Anwesenheit ganz vergessen und als er sie endlich bemerkt hatte, saß sie tief über eine Schriftrolle gebeugt da und ließ nicht erkennen, dass sie von seinem Geheimnis wusste.

Das Fach war nicht abgeschlossen, aber auch nicht für Uneingeweihte zu erkennen. Man musste die mittlere Schublade beinahe ganz herausziehen, dann ließ sich ein Teil der inneren Seitenwand des Pultes zur Seite schieben. Der Spalt dahinter war nicht groß, bot aber vier Haken Platz, an denen bronzeschimmernde kleine Schlüssel baumelten. Sie unterschieden sich beinahe unmerklich an ihren Bärten und bevor die Novizin alle in ihre Tasche gleiten ließ, merkte sie sich genau, in welcher Reihenfolge sie zuvor aufgehängt worden waren. Niemand würde merken, dass ein Fremder sie für kurze Zeit an sich genommen hatte.

Die vier Kammern lagen nebeneinander an der Nordwand des Kellers. Sara brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass die hohen Regale des dritten Raumes das beherbergten, worauf sie aus war. Hier lagerten die alten Aufzeichnungen über die Geschichte Sacuas, über alte Mythen, Legenden und Sagen des gesamten Kontinents. 'Lügen und Märchen', wie Beema einmal gesagt hatte, als eine junge neue Novizin sie danach fragte. Die Historie spielte keine Rolle im Nebeltempel, es sei denn, es ging um Traditionen in der Heilkunst. Die wenigen Fakten, die im Tempelunterricht gelehrt wurden, waren ungenau und öde, so dass den meisten Mädchen schon nach den ersten Lektionen die Lust auf weitere Nachforschungen verging.

Sara hingegen hatte in Menrir einen neuen Lehrer gefunden und in langen Gesprächen im Garten hatte er ihr von Dingen berichtet, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Doch auch er hatte sich über das Land Cycalas ausgeschwiegen, hatte ihr nur wenig vom Großen Krieg erzählt und immer wieder betont, dass sie das Wissen darüber erlangen würde, wenn 'die Zeit reif sei'.

'Vielleicht ist sie das auch nie...' hatte er noch hinzugefügt.

'Sie ist es.' dachte die Novizin jetzt und ließ das flackernde orangefarbene Licht über die Reihen der Schriftrollen und Bücher wandern. Genau wusste sie nicht, wonach sie suchte, aber sicher war, dass Berichte über den Reichtum Manataras oder über die Religion der Chaz-Priester bei ihr von nachgeordnetem Interesse waren.

Es war unglaublich, wie viele alte Dokumente hier lagerten und verstaubten. Grundrisse von teilweise längst verfallenen Bauten, Stammbücher alter Familien, Chroniken von Dörfern und Städten, Karten von allen möglichen Regionen Sacuas und vielerlei Sammlungen von Geschichten und Aufzeichnungen über das Leben und Sterben mehr oder minder bedeutender Personen. Verzeichnisse über nicht mehr existenten Grundbesitz stapelten sich neben Auflistungen von Ernteerträgen und Berichten über hohe Festlichkeiten und unter dem Regal hatte jemand flache Körbe mit losen handbeschriebenen Pergamenten gefüllt, die mit den Jahren nahezu unleserlich verblasst waren.

Sara fragte sich, ob der alte Meister sich in diesem Chaos irgendwie zurecht fand, denn eine Ordnung war nicht zu erkennen. Auch schienen die meisten Werke in keinem sehr guten Zustand und der ganze Raum sah aus, als wäre seit Jahren niemand hier gewesen. So sauber und gut sortiert die öffentlichen Bereiche des Archives auch waren, so vernachlässigt und unübersichtlich war der verschlossene Teil.

Nach einiger Zeit machte sich jedoch Enttäuschung bei der Novizin breit, denn alle Schriftstücke hatten eines gemeinsam: Sämtliche Daten endeten noch vor der Zeit des Großen Krieges, aus der „Dunklen Zeit“ oder den nachfolgenden Jahren gab es jedoch keinerlei Aufzeichnungen. Außerdem beschränkten sich alle Informationen größtenteils auf das Mittelland, seltener auch auf Manatar, doch nicht über Valahir hinaus. Die Karten endeten an der Bergkette und in keinem der Texte war auch nur mit einem Wort erwähnt, dass die Welt hinter den Gipfeln nicht zu Ende war.

Etwas ratlos ließ sich Sara auf einem wackligen Hocker nieder und dachte nach. Es musste doch auch neuere Schriften geben, irgendetwas, was nicht unter zwölf Jahre altem Staub begraben lag. Trotzdem war sie sich sicher, dass sie im richtigen Raum war. In der angrenzenden Kammer war die große Sammlung von Heilrezepten und Giftanleitungen, in der nächsten die Korrespondenz des Tempels und seine wirtschaftliche Buchführung und im hintersten Raum schließlich alles Niedergeschriebene, was über die Religion und seine Zeremonien und Mysterien vorhanden war. Und da Sara selbst viel Zeit hier unten im Keller verbrachte, wusste sie auch, dass es keine weiteren Archive gab, weder offensichtliche noch verborgene. Konnte es tatsächlich sein, dass man sich weigerte, derartige Dokumente aufzubewahren? Oder dass Beema sie nicht einmal dem alten Bibliothekar anvertrauen wollte und sie an einen anderen Ort hatte bringen lassen? Aber warum? Es war kein Geheimnis, dass die Vorsteherin ihre Novizinnen nicht zum Nachdenken bringen wollte, dass sie den Tempel über alle Zeiten und Unruhen erhaben sah und dass fremde Kulturen und Religionen ihrer Ansicht nach nur der Reinheit des Tempels schadeten – es sei denn, sie machten durch hohe Besuche von sich reden. Doch selbst in dem so kläglichen Geschichtsunterricht wurden Länder wie Cycalas oder Shanguin inzwischen, zumindest was ihre Existenz betraf, erwähnt. Warum fand sich dann hier überhaupt nichts?

Sara dachte an die Karte, die sie Lennys gegeben hatte. Sie war viel neuer gewesen als alles andere hier unten und sie hatte offen zwischen den Schriftrollen im vorderen Bereich gelegen – warum auch immer – und niemand schien sie bisher zu vermissen. Ein seltsamer Zufall war es gewesen, fast als ob diese Rarität genau auf sie gewartet hätte ... als hätte sie jemand gerade für sie dort hingelegt.

Sie beschloss, sich wider besseren Wissens noch einmal die anderen Kammern anzusehen und stellte den Hocker wieder in die Ecke. Dabei fiel ihr Blick auf den kleinen Schreibtisch, an dem der alte Meister wohl in den Papieren las, die er nicht mit nach draußen nehmen wollte. Darauf lag aufgeschlagen eine schlecht zusammengebundene, dünne Sammlung von kleinen Pergamentblättern, auf Vorder- und Rückseite mit sehr kleiner, enger Schrift beschrieben und insgesamt recht gut erhalten. Besser als die meisten Dokumente hier.

Sie beugte sich darüber. Ihre schwache Lampe reichte kaum aus um die winzige Schrift zu entziffern, immer wieder verschwamm die schwarze Tinte mit dem Schatten, den sie selbst auf die Aufzeichnung warf. Vorsichtig hob Sara den Lederdeckel an, in den die Blätter gebunden worden waren.

Kein Titel. Kein Verfasser.

Die erste Seite begann mit einer einfachen, unauffälligen Überschrift:

„26. Tag des Neb

Die Küste ist menschenleer, aber wir haben auch nichts anderes erwartet“

Sara war stutzig geworden. Das Wort 'Küste' kam ihr in diesem Schriftbild seltsam vertraut vor. Das 'K' war mit einem kleinen spitzen Haken verziert, den sie schon einmal gesehen hatte... vor gar nicht allzu langer Zeit.

Plötzlich fiel es ihr ein. Die Karte mit den Kreuzen, die es hier eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Die Karte, die als einziger Gegenstand in diesem Keller weniger als zwölf Jahre alt war. Wer immer sie geschrieben hatte, er war auch der Verfasser dieses Pergaments.

Ohne den geringsten Zweifel an dem, was sie tat, klappte Sara die Lederdeckel wieder zusammen und schob das Manuskript unter ihren Umhang. Dann verließ sie das verbotene Zimmer wieder, schloss sorgfältig hinter sich ab und brachte die Schlüssel wieder in ihr Geheimfach im Schreibtisch zurück. Bevor sie den Ausgang zur Treppe erreichte, löschte sie noch die Lampe, um möglichen verspäteten Spaziergängern im Tempel nicht sofort aufzufallen, doch schon nach wenigen Schritten wusste sie, dass dies nicht nötig gewesen wäre. Durch die hohen Fenster in der Eingangshalle schimmerte fahles Mondlicht. Sie hatte weit mehr Zeit im Archiv verbracht, als es ihr bewusst gewesen war.

Schnell lief sie zurück in den oberen Stock und war erleichtert, als sie unbemerkt wieder Lennys' Zimmer erreichte. Sie kam nicht gerne hierher zurück, aber dies war der einzige Ort im ganzen Tempel, an dem sie mit Sicherheit ungestört blieb.

Sara versuchte, nicht auf das leere Bett zu achten, als sie sich unter dem Fenster auf dem Boden niederließ und die Öllampe wieder entzündete. Sie drehte das Licht hoch und plötzlich erschienen die feinen Linien und Buchstaben viel klarer und deutlicher als noch zuvor im Keller. Ohne jegliche Ahnung, was sie erwartete und ob das, was sie vor sich hatte, überhaupt von Belang war, begann sie zu lesen.

„26. Tag des Neb

Die Küste ist menschenleer, aber wir haben auch nichts anderes erwartet. Die Menschen hier haben Angst vor dem Meer, Angst vor der Dunkelheit, Angst vor allem. Niemand wagt sich bei Nacht hierher, sie erzählen sogar von einem Dämon, der in der Finsternis aus den Fluten steigt und ahnungslose Wanderer zu sich holt. Lächerlich, diese Leute.

Sechs Tage hat unsere Reise gedauert, der Gegenwind hat uns viel Zeit gekostet. Doch wir hatten keine Eile. Niemand von uns sehnte sich nach einem Land, in dem unsere Brüder und Schwester gejagt und ermordet werden, in dem unser Name mit Abschaum und Schande gleichgesetzt wird. Aber wir werden sie nicht weiter sterben lassen, wir werden nicht weiter zu Hause sitzen und stumm die Nachrichten aufnehmen, die uns die wenigen überlebenden Boten bringen. Heute beginnt ein neuer Kampf.

Vielleicht wird niemand von uns überleben. Doch wenn die Mächte, die ich anbete, mir wohlgesonnen sind, werden diese Zeilen einmal den Weg zurück zur Sichel finden und unser Volk wird dann wissen, was geschah.

Welch ein Moment, als wir den Fuß auf diesen schmutzigen Boden der Lügen setzten. Wir fühlten uns willkommen, doch nicht von denen, die hier leben, sondern von den unseren, die uns hier erwarten. Sie brauchen unsere Hilfe nicht, sie sind stark genug, den Kampf alleine zu gewinnen. Doch es gab schon zu viele Tote und mit jedem Mann, mit jeder Frau, die heute Nacht hier gelandet sind, werden die Opfer auf der anderen Seite wachsen und die Verluste auf der unseren werden schwinden. Hier, im Schatten der Ruinen, beginnt unser Weg und wir Kinder der Nacht werden der Sonne begegnen und entgegen ihrem Lauf nach Osten wandern. Wie ihr werden wir auch unserem Feind entgegensehen und ihm nicht den Rücken kehren.

27. Tag des Neb

Wir kommen gut voran. Über die weiten Ebenen wären wir wohl noch schneller gewesen, aber auch wenn diese Gegend wie ausgestorben ist, wollen wir uns noch nicht zu sehr zeigen. Ich musste lachen, als Farhor von den abergläubischen Geschichten erzählte, die sich um diese Region ranken. Angeblich sollen hier die Seelen der Toten umherwandern, weshalb es trotz des fruchtbaren Bodens hier kaum Dörfer und Siedlungen gibt. Es ist nicht zu fassen, um wie viel Lebensqualität sich diese Bauern hier durch solche Gerüchte bringen. Uns kann es nur recht sein.

Noch in der letzten Nacht haben wir uns auf den Weg gemacht und inzwischen haben wir den Wald erreicht, der östlich der Ruinen liegt. Valahir wacht stets über uns und in seinen Schatten scheint die Heimat weit weniger fern. Manches ist wirklich wie zu Hause. Die Berge über uns und wir inmitten eines dichten schützenden Forstes, der uns als einen Teil von sich aufnimmt. Doch im nächsten Moment ist das Sichelland so weit entfernt, dass es mir das Herz zerreißt. Mögen diese Zeiten bald ein Ende und wir den Weg zurück finden.

Tagsüber ruhen wir, obwohl voller Kraft, um in der von uns so geliebten Dunkelheit weiterzugehen. Vielleicht können wir sogar bis morgen früh den großen Fluss erreichen, den sie hier Ben-Apu nennen. Vielleicht....

Phio hat Recht, wir dürfen nichts überstürzen. Er rechnet damit, dass wir heute abend den ersten Menschen hier begegnen werden und dass diese uns nicht freundlich gesonnen sind, ist allen hier klar. Wir können jetzt keine Rücksicht mehr darauf nehmen, wer dem Bösen mehr und wer weniger zugetan ist – die wenigen Verbündeten dieses Volkes, die wir haben, werden die Einzigen sein, die wir nicht aus dem Weg schlagen.

Morgen sollen wir auch endlich neue Nachrichten aus Goriol erhalten. Phio rechnet fest damit, dass es wenigstens einer der Boten bis zu uns schafft. Wir brennen alle auf das, was uns bevorsteht, so sehr wir diesen Boden hier auch verabscheuen. Doch jetzt, da wir endlich hier sind inmitten des Kampfes, wollen wir auch unsere Fähigkeiten beweisen – die Kräfte unseres Volkes, das zum Feind zu haben das Verderben bedeutet. Das Ende ist zum Greifen nah, auch wenn niemand von uns weiß, ob er es erleben wird. Was bedeutet schon der Tod?

28. Tag des Neb

Wie schwer es doch ist, jetzt die Feder zu führen, doch kann ich auch nicht an mich halten, von den Ereignissen des Tages zu berichten.

Der Ben-Apu ist nicht mehr weit, doch noch bevor das Rauschen seiner Wasser uns erreichte, wurden wir zu einer Rast gezwungen, die uns mehr bescherte, als wir an diesem Tage zu hoffen gewagt hatten.

Wir erwarteten eben, dass sich die Bäume lichteten, um den Blick auf die Hügel vor dem Fluss freizugeben, als wir auf ein Lager von drei Männern stießen. Ehe bevor sie uns bemerkten, konnten wir sie belauschen und schnell wurde uns klar, dass sie sich ihren Lebensunterhalt mit dem Abschlagen unserer Köpfe verdienten. Der Inbegriff der Wertlosigkeit und der Verderbtheit saß vor uns, scheinbar wartend auf sein gerechtes Ende.

Ich weiß nicht, wann ich zuletzt solch süßes Blut gekostet habe, doch gar lange liegt es zurück. Sie hatten nicht einmal Zeit, ihre plumpen Schwerter zu ziehen, so schnell hatten unsere Klingen ihre Kehlen durchschnitten. Es war wenig Blut für uns, derer wir an die Fünfzig sind, doch genug für einen Schluck des Sieges, der uns berauschte wie eine ganze Kiste besten Sijaks.

Phio hielt uns davon ab, mit ihren Leichen ein Zeichen zu setzen, noch sollten wir uns verborgen halten. Es fiel ihm aber schwer, sich gegen uns bluttrunkene Krieger durchzusetzen, die den Schlachten immer mehr entgegenfiebern.

Auf Meldungen aus dem Osten warten wir noch vergebens, doch sind wir guter Hoffnung, dass noch viele unserer Brüder und Schwester nahe Goriol am Leben sind. Sicherlich wird der Ring um die Cas nicht so leicht zu durchbrechen sein und die Erwählten werden wie ein Kreis wirbelnder Schneiden all jene zur Hölle schicken, die sich heranwagen. Um sie muss man sich keine Sorgen machen.

Noch immer schmecke ich die Tropfen auf meiner Zunge, die meine Sinne schier explodieren lassen. Welch eine Wohltat in meinem hohen Alter, den Geschmack des Feindes noch einmal in mir aufnehmen zu dürfen. Es werden mehr werden... die nächsten Tage werden ein Fest!

29. Tag des Neb

Hier, im Heidekraut an den steilen Ufern des Ben-Apu, brennt die Sonne besonders, doch wir haben keine Wahl. Kein Wald im Umkreis eines Tagesmarsches, keine Schatten spendenden Berge, keine Höhlen oder Vorsprünge, die uns vor dem grellen Licht bewahren würden.

Den ganzen Tag haben wir auf Nachrichten gewartet und Phio fürchtete schon, keiner ihrer Boten habe es bis zum Fluss geschafft. Erst am Nachmittag konnten wir aufatmen. Jul-Huma, den ich selbst einst im Säbelkampf ausgebildet habe, fand uns hier in der Böschung liegend und auf den Abend wartend. Er kam direkt von den Cas und mit Erleichterung vernahmen wir, dass alle neun Erwählten wohlauf seien. Sie halten sich in dem großen Waldgebiet nördlich von Goriol auf, aber es sei schwer, zu ihnen durchzudringen, da viele Krieger und Kopfjäger des Landes in diesem Gebiet unterwegs seien. Die Neun könnten sich dort verschanzen, doch unsere Gruppe ist wohl zu groß, um ungesehen zu ihnen zu gelangen. Die anderen Cycala haben sich ebenfalls in viele kleinere Verbände aufgeteilt und versuchen, einen sicheren und schnellen Weg nach Orio zu finden. Es wird nicht leicht, sie dabei zu unterstützen. Jul-Huma erzählte, außer ihm seien noch zwei weitere unserer Brüder auf den Weg geschickt worden, aber er habe sie schon vor zwei Tagen aus den Augen verloren. Dass er, der Langsamste und wohl auch Erschöpfteste von allen Dreien, als Erster zu uns findet, ist kein gutes Zeichen.

Das Land hier bietet zu wenig Deckung und Schutz und so warten wir jetzt, bis es vollkommen Nacht geworden ist, bevor wir wieder aufbrechen. Der junge Jul wird uns nicht zurückbegleiten, sondern versuchen, sich bis Valahir durchzuschlagen. Er hat seine Pflicht erfüllt.

Unser Weg hingegen ist weniger vorgezeigt. Gahl ist ein gefährliches Pflaster, doch am Fluss entlang fehlen uns Verstecke und Deckungen. So werden wir ab heute in vier Trupps mit jeweils zehn bis fünfzehn Mann auf getrennten Wegen vorstoßen. Mit meinen einundsechzig Sommern zähle ich zu den Ältesten hier und Phio übertrug mir die Verantwortung über zwölf Kämpfer, die ich über die südlichste unserer ausgewählten Routen bis zum Wald von Goriol führen soll. Es ist mir eine Ehre, eine solch wichtige Rolle in diesem Kampf zu spielen, doch wünschte ich, Phio hätte diese Auszeichnung einem jüngeren und kräftigeren Mann übertragen.

Die Sonne sinkt und in wenigen Stunden werde ich mit tiefgreifenden Entscheidungen auf mich allein gestellt sein.

30. Tag des Neb

Ich beneide Phio und die anderen, die nach Gahl oder in Richtung der Sümpfe aufgebrochen sind, nicht im Geringsten. Zwar kämpfen wir hier nicht gegen Feinde, sondern nur gegen Stechmücken, doch wenn das Schicksal es gut mit uns meint, werden wir den Waldrand zuerst erreichen. Am Westufer des Ben-Apu gehen wir entlang und wie ich schon befürchtet habe, ist das Gelände nicht für uns gemacht. Doch kommen wir Wenige jetzt schneller voran als die große Schar zuvor. Früher als erwartet haben wir heute morgen bereits die Stelle erreicht, an der sich die zwei Quellarme des Flusses zu dem einen großen Band vereinen, das den Kontinent über eine weite Entfernung in zwei Hälften teilt. Zwei oder drei Nächte müssen wir noch gehen, dann hat uns der Schutz der Bäume zurück.

Meine Gruppe ist gut, stark und voller Tatendrang und Zuversicht. Ich will sie ihnen noch nicht nehmen. Es wäre vermessen, zu glauben, dass wir alle wohlbehalten nach Cycalas zurückkehren werden, doch für jeden, den wir hier verlieren, werden wir ein Vielfaches an Feinden in die Hölle schicken.

Nun will ich noch ein wenig Kraft schöpfen, um dem gewachsen zu sein, was vor mir liegt.

1. Tag des Wentril

Ich glaube nicht, dass sie auf uns gewartet haben, das Aufeinandertreffen kam für beide Seiten zu überraschend. Cycalas bringt seit jeher die größten Kämpfer des Kontinents hervor, doch ein Hinterhalt und eine Übermacht an Gegnern können selbst einem Volk wie dem unseren Wunden beibringen.

Eine Rotte stinkender Banditen kreiste uns von den Ebenen her ein, gerade als wir glaubten, in der Ferne die rettenden Baumwipfel des Waldes erkennen zu können. Wenngleich wir ihnen doch klar überlegen waren, so konnten wir doch nicht verhindern, dass zwei unserer Männer fielen. Ich schreibe dies, während der Rauch des Totenfeuers in meinen Augen brennt.

Wir werden die Flammen schnell ersticken müssen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, doch solange ich ihnen diese letzte Ehre erweisen kann, werde ich es auch tun.

Ungeheuerlich mag es klingen, doch fühlen wir uns jetzt nicht entmutigt oder kraftlos. Vielleicht liegt es am kostbaren Blut derer, die unsere Freunde erschlugen, um dann selbst unsere Klingen zu spüren. Blut ist mächtig, Blut stärkt und belebt. Doch es nimmt uns auch die Fähigkeit zu trauern, so dass wir unsere toten Kameraden ohne Tränen zurücklassen können. Nach dem heutigen Verlust ist der Kampfeswille stärker denn je. So denn Männer, reicht mir meinen Kelch, auf das auch kein Tropfen unseres Siegestrunks verlorengeht!

2. Tag des Wentril

Gestern war es mir nicht möglich, viel zu schreiben, zu aufgewühlt war ich nach dem Kampf und dem Genuss der Belohnung.

Mit mir sind wir nur noch Elf, doch inzwischen ist allen klar geworden, dass auch wir nicht geschlossen nach Hause gehen werden. Noch vor Tagesanbruch überquerten wir den Ben-Apu dort, wo er den großen Wald berührt und befinden uns nun am ersten großen Ziel der Reise. Hier irgendwo sind sie, die anderen, die Cycala, die seit Wochen oder gar Monaten um ihre Ehre und ihr Leben kämpfen. Und die Cas, die neun Erwählten, die zu finden unser größter Wunsch ist. Wir werden ihnen beistehen und sie zurück geleiten, wenn der Sieg einmal unser ist.

Niemand weiß, wo der Hohe ist. Shaj Saton will die Gräfin des Abschaums, Orjope, selbst richten und sicher hält er sich irgendwo südlich der Berge auf. Doch ist sein Versteck ein großes Geheimnis, denn nichts würde uns mehr schmerzen als der Verlust des Obersten Gebieters der Nacht. Manche glauben, er sei in der Mitte der Cas, die ihn mit ihrem Leben schützen. Andere denken, er hält sich verborgen, sei selbst für die Unseren kaum auszumachen und würde dann zuschlagen, wenn der Feind am unvorsichtigsten ist.

Ich kenne Saton seit seiner Geburt, er versteckt sich nicht. Die Cas stehen ihm näher als irgendjemand sonst in unserem Lande und so glaube auch ich, dass er an ihrer Seite kämpft. Es ist ein gutes Gefühl, ihm so nahe zu sein.

Heute werden wir nicht lange ruhen, sondern auch bei Tageslicht weiterwandern. So sehr wir uns auch den Schatten des Forstes ersehnt haben, so gefährlich ist es hier doch auch. Lange an einem Ort zu bleiben, würde wohl unseren Tod bedeuten, und so harren wir nur kurze Zeit aus, ohne Schlaf, der in diesen Zeiten ohnehin keine Wirkung zeigen würde.

3. Tag des Wentril

Der heutige Marsch hat uns dem Mondsee ein gutes Stück näher gebracht, doch die Kämpfe haben wieder das Leben eines unserer Gefährten gekostet. Insgesamt achtzehn Feinde fielen unter unseren Klingen und obgleich meist nur dumme, plump bewaffnete Bauern, verstehen einige von ihnen doch auch, ein Schwert zu halten. Wir haben sie nicht unterschätzt, aber ein Narr, der eine Waffe ohne Sinn und Verstand um sich schwingt, kann unter Umständen ebenso gefährlich sein, wie ein Meister des Säbels.

Unsere Kelche waren mehr als einmal randvoll und unser Durst wächst mit seiner Befriedigung. Ich hoffe, am See auf die Gruppe zu treffen, die von Drom angeführt wird und deren Weg unserem am nächsten liegt.

Hin und hergerissen zwischen Kämpfen, kostbaren Tropfen auf meinen Lippen, Gesprächen mit meinen Männern und der Wanderung durch diesen Forst, finde ich kaum Zeit für meine mir so wichtigen Zeilen. Mit dem Mondsee im Rücken wird es uns leichter fallen, uns zu verteidigen, so dass wir heute nacht dort im Wechsel ein wenig ausruhen können. Es spielt keine Rolle mehr, ob wir bei Tage oder in der Dunkelheit weiter marschieren, denn von nun an müssen wir nicht nur auf unsere Gegner achten, sondern auch wieder nach Freunden Ausschau halten.

4. Tag des Wentril

Wir sind nur noch Sieben. Drei weitere Tote zählen wir nach der Wanderung zum Mondsee in unseren Reihen, doch dies ist noch nicht das Schlimmste. So friedlich liegt der See vor uns und verschweigt den Unwissenden, was nur wenige Stunden vor unserer Ankunft geschehen sein muss. Ein einziger Bruder aus Droms Folgschaft hat den Angriff barbarischer Krieger überlebt und konnte uns schwer verletzt von der dunklen Stunde berichten. Was er sagt, wage ich kaum niederzuschreiben, doch will ich nicht den Eindruck erwecken, Angst zu spüren.

Drom hat zusammen mit neun Kameraden den Mondsee erreicht, was wirklich anerkannt werden muss, hat er doch auf dem Weg hierher nur einen einzigen Gefährten verloren. Er erlaubte den Seinen, hier zu rasten, wie auch wir es vorhatten, und sehnte bereits das Treffen mit mir herbei. In einem vielleicht etwas unbedachten Moment, da die Wachen möglicherweise auch etwas unaufmerksam waren, griffen Unbekannte das Lager an. Es fällt mir schwer, dem Jungen alles zu glauben, was er im Fieberwahn angesichts seiner schweren Verletzungen berichtet. Er spricht von einer Übermacht, weit mehr als zwanzig Mann, und es waren keine einfachen Recken aus den Dörfern dieser Gegend. Sie trugen dicke Lederpanzer, waren groß und schwer und trugen gewaltige Kriegsäxte bei sich, mit denen sie das Blut unserer Freunde vergossen. Ihre Augen seien stechend grün, die Hände und Gesichter vernarbt und teilweise missgestaltet, so sagt er, und trotz seines Fieberwahns brachte der Verletzte einen abgrundtiefen Abscheu vor diesen Kreaturen zum Ausdruck. Wäre er nicht halbtot unter dem Leichnam eines Freundes verborgen gewesen, so der Junge, so könnte er jetzt nicht mehr von dem berichten, dessen Zeuge er geworden war.

Ich weiß nicht, was ich von seinen Worten halten soll, doch gewiss ist, dass wir auf der Hut sein müssen. Die Feinde sind wohl weiter gezogen in Richtung Elmenfall, das verraten ihre Spuren und die Erinnerung des Überlebenden. Wir müssen unbedingt herausfinden, wer sie sind und für wen sie kämpfen. Und wir müssen die Cas warnen, wenn sie nicht schon längst davon wissen.

Der Verdacht liegt nahe, dass diese Axtkrieger aus der Halbinsel im Nordosten kommen. Seit jeher ist dieses Volk der größte Widersacher Cycalas, doch kennt es unsere Stärke und hält sich aus Angst vor uns schon seit Jahren im Ödland verborgen. Jetzt, da der halbe Kontinent sich im Krieg gegen uns befindet, mögen sie ihre Chance wittern, doch weiß ich nicht, wer sie zu diesem neuen Kampf aufgerufen hat. Mit dem Streit in Orio haben sie nichts zu tun und was bringt es ihnen, unsere Brüder und Schwestern fern der Heimat zu erschlagen?

Shaj Saton wird mehr darüber wissen. Ich bete, dass er tatsächlich bei den Cas ist, und dass wir jene auch bald finden werden.

5. Tag des Wentril

Ich habe sie gesehen. Zwei Gestalten wahrlich widerlicher Natur machten sich über totes Wild her, als wir sie durch die Bäume beobachteten. Sie bemerkten uns erst, als wir von hinten auf sie zustürmten und ihnen die Kehlen durchschnitten.

Kein Zweifel, sie kommen aus Zrundir.

Der Junge, den wir mehr tot als lebendig am Mondsee gefunden haben, hat den Kampf gegen seine tiefen Wunden verloren. Wer auch immer diese Zeilen liest, mag es als kaltherzig ansehen, wenn ich sage, dass es uns keinen Kummer bereitet hat. Wir kamen mit ihm nur langsam voran und konnten kaum steile Hänge erklimmen, was uns zusätzliche Gefahr einbrachte.

Trotzdem war er uns eine große Hilfe und hat durch seine Worte vielleicht unser aller Leben gerettet, jetzt, da wir auf einen weiteren Kampf vorbereitet sind. Wir ehrten ihn mit einem großen Totenfeuer und einigen Tropfen Feindesbluts.

Noch gibt es keine Spuren der Cas, doch wir vermuten sie inzwischen weiter tief im Wald und werden ihren wahrscheinlichen Aufenthaltsort morgen erreichen. Von Phio und den anderen fehlt noch jede Spur, aber ihre Reise führt durch die Sümpfe und sie werden dort viel Zeit verlieren. Nun werde ich mir noch ein paar Stunden Schlaf gönnen, denn je näher wir unseren Erwählten kommen, desto enger werden auch die Reihen unserer Feinde. Sie wissen wohl noch nicht, wer sich in ihrem Zentrum befindet.

5. Tag des Wentril – Nachtrag.

Eben haben wir wieder eine Handvoll Zrundir-Kämpfer besiegt, doch ihr nun recht häufiges Erscheinen macht mir Sorgen. Dorfbewohner und Soldaten des Landes scheinen immer seltener zu werden. Zum ersten Mal fürchte ich, die Cas könnten nicht mehr alle am Leben sein. Auch wir sind nur noch Fünf von einst Dreizehn.

6. Tag des Wentril

Wir haben sie gefunden und sie sind wohlauf! Morgen mehr.

7. Tag des Wentril

Lange Stunden liegen hinter mir und der dreizehnte Morgen seit unserer Ankunft an der Westküste naht. Doch dies muss ich niederschreiben, denn vielleicht wird es keine weiteren Worte mehr von mir geben.

Nach vielen weiteren Kämpfen haben wir gestern mittag eine Anhöhe erreicht, die in eine niedrige Felswand mitten im Wald übergeht. Wie groß war die Freude, als der Erwählte Haz-Gor uns plötzlich begrüßte und zu dem geheimen Ort brachte, der seit Tagen das Lager der Cas beherbergt. Sie waren alle da, alle Neun, und alle noch fähig zu kämpfen. Ich fragte sie nach Saton, unserem Shaj der Nacht, doch sie wollten mir zunächst nichts über seinen Verbleib sagen. Erst als ich vom Tode Droms und der Schlacht am Mondsee berichtete, nickten sie sich zu und brachten mich in eine niedrige Höhle in der Felswand, wo der Shaj mich erwartete. Nie zuvor habe ich mich so erleichtert gefühlt, denn solange er lebt, gehört der Sieg uns.

Ich erzählte noch einmal von Drom, von Phio, von den fremden Kriegern und von den Verlusten, die meine Gruppe erlittten hatte. Saton dankte mir und ließ mich wissen, dass es tatsächlich Soldaten aus Zrundir waren, die uns so zusetzten. Anscheinend hatten sie von niemand anderem als der Gräfin Orjope selbst gehört, was hier vor sich geht. Zrundir hasst alles, was aus dem Sichelland kommt, denn zu gern würden diese Barbaren unser Reich ihr Eigen nennen. Hier, den Rücken von naiven Bauern gestärkt und unter dem Schutze des Sonnenbanners Orios, können sie uns gefahrlos töten, und die Tatsache, dass Orjope sie für ihre Dienste reich entlohnt, stachelt sie noch mehr an. Wir kämpfen nun gegen drei Fronten... gegen dumme, aufgehetzte Dorfbewohner, gegen eine rachsüchtige Gräfin und ihre Diener und gegen die Kreaturen aus Zrundir – die vielleicht die Grausamsten von allen sind.

Saton ist siegesgewiss. Er ist stolz, dass so viele Gebieter der Nacht hierher gekommen sind, um ihn zu unterstützen, denn obwohl uns niemand im Zweikampf besiegen kann, ist eine Rückkehr nach Cycalas für jeden einzelnen doch ungewiss. Doch er betonte, wie so oft, dass es wichtig ist, dass die meisten unserer Krieger nördlich Valahirs bleiben, denn nur dieses Land gilt es zu beschützen. Nur er und die neun Cas hätten die Pflicht, uns über die Grenzen Cycalas' hinaus zu verteidigen, selbst, wenn es ihr Leben kostet.

Über die neun Erwählten darf ich an dieser Stelle nicht sprechen. Die größten Kämpfer des Landes, deren Sichel tödlicher ist als alle Säbel Cycalas' zusammen, sie werden den Kampf entscheiden und alles für den letzten Schlag Satons vorbereiten. Doch sollten diese Seiten den Falschen in die Hände fallen, ist der Schaden jetzt schon groß genug, weshalb ich an dieser Stelle lieber schweige.

Nun warten wir auf Phio, aber auch auf andere Nachrichten aus dem Norden. Der Zug nach Orio ist nicht mehr fern und wir sind zuversichtlich, die Burg Orjopes zu stürmen, bevor Zrundir uns mit einer größeren Kriegsmacht angreifen kann.

Wer weiß, ob ich noch einmal schreiben kann, jeder Tag und jede Stunde sind von jetzt an eine einzige Schlacht. Allein heute haben wir mehr Feinde erschlagen als in all den Tagen zuvor, doch dank der Cas hatten wir keine neuen Verluste. Mögen unsere Mächte uns weiter beschützen.

10. Tag des Wentril

Ich kann nicht mehr beschreiben, was ich sah. Die Cas sind am Leben, doch Saton ist tot.

Orjope wird sterben, doch ich werde nicht dort sein, um ihren Tod zu begrüßen. Hier liege ich wieder am Ufer des Ben-Apu und sehe denen hinterher, die bald die Grenzen zu Orio überschreiten werden. Ich kann ihnen nicht mehr helfen, meine Kraft ist am Ende. Wer weiß, wo ich eine Bleibe finde, doch sehne ich mich nach Ruhe fernab des Sichellandes, fernab von Kampf und Krieg und den Erinnerungen, die mich plagen. Diese Seiten werde ich bei mir tragen und eines Tages wird der Moment kommen, da sie vielleicht jemandem nützlich sind.

Dies schrieb Gromuit, Säbelwächter aus Askaryan, der seine Klinge der Tiefe Saguns übergeben wird, um nie wieder zu kämpfen.“

Die Öllampe war fast ausgebrannt, doch Sara reagierte nicht auf das Flackern, sondern sah noch lange auf die letzten Worte Gromuits. Beinah wünschte sie, sie hätte diese Aufzeichnung nie in die Hände bekommen. Mehr Fragen als Antworten hatten sich ergeben, mehr Befürchtungen waren gesät denn zerstreut worden. Was wirklich geschehen war, wusste sie nicht, doch sie zweifelte jetzt an den undeutlichen Geschichten, die man sich im Tempel und auf den Dörfern erzählte. Manchen von ihnen musste sie jedoch mehr Wahrheit anerkennen, als sie es bisher getan hatte, doch der Umstand, dass sie das nicht erschreckte, machte ihr mehr Angst als die wahren Tatsachen.

Sie hätte gern gewusst, was aus Gromuit geworden war, ob er es geschafft hatte, sich in Sicherheit zu bringen und vor allen Dingen, wie dieses Dokument seinen Weg in den Nebeltempel gefunden hatte. Der Shaj der Cycala, Saton, war gestorben, doch hatten es seine engsten Vertrauten, die Cas, geschafft, in ihre Heimat zurückzukehren? Shaj... das war vermutlich ein Herrscher, eine Art König. Und die Cas? Wohl so etwas wie eine Leibgarde oder die obersten Krieger. Was war in dem Wald geschehen, der sich westlich von ihr ausbreitete, wie war Saton ums Leben gekommen und was hatte es mit dieser düsteren Grafschaft Orio auf sich? Was war überhaupt vorgegangen vor zwölf Jahren und warum um alles in der Welt sprach niemand darüber? Warum gab es keine Aufzeichnungen, warum war alles ein so großes Geheimnis? Zwölf Jahre, damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, und sie hatte nichts von dem geahnt, was gar nicht so weit von hier in den Wäldern passierte. Es war doch keine Ewigkeit her, nur ein Wimpernschlag im Anbetracht der Geschichte des Kontinents. Und doch taten alle so, als wäre nie etwas Besonderes geschehen.

Die Lampe erlosch und Sara saß nun in dem dunklen Zimmer, allein mit ihren Gedanken und einem alten Manuskript, dessen wenige Seiten es schafften, sie in ein gewaltiges Nichts der Unwissenheit und Unentschlossenheit zu stürzen.

'Was tue ich hier eigentlich?' dachte sie dann. 'Ich trauere einer kurzen Zeit der Abwechslung hinterher, breche in die Bibliothek ein um meine Neugier zu befriedigen und werde meine Oberin anlügen, um eine Herrin zu schützen, die mich in dem Moment vergessen hat, da sie mir den Rücken zukehrt.'

Menrir hätte ihr mehr sagen können, doch der war weit weg, in Goriol oder auch zu Hause in Elmenfall. Und sie wollte ihn auch nicht fragen. Sie wollte im Grunde mit überhaupt niemandem darüber sprechen, aber gleichzeitig sehnte sie sich nach der Antwort auf all ihre stummen Fragen. Der Bibliothekar wusste vielleicht auch mehr, doch er würde schon toben, wenn er erfuhr, dass sich jemand Zugang zu den geheimen Kammern verschafft hatte. Zudem existierte das Thema „Großer Krieg“ innerhalb der Tempelmauern praktisch nicht. In einem einzigen Buch, nämlich der „Geschichte des ewigen Kontinents Sacua“ war diese Zeit erwähnt und dieses Werk war auch gleichzeitig die einzige Quelle von Saras bisherigen Kenntnissen über Cycalas gewesen. Was aber stand schon darin? Dass es wegen eines nicht zustandegekommenen Handels zwischen dem Sichelland und einem mittlerweile zerfallenen kleinen Reich im Norden zu einem großen Streit gekommen war, der auf beiden Seiten zu vielen Opfern geführt hatte. Die Cycala galten jetzt als gern gesehene, aber seltene Gäste südlich der Bergkette und sie waren vorsichtig und misstrauisch, was aufgrund der durchlittenen Kämpfe nur allzu verständlich war. Diese ungenaue Beschreibung war zwar mit einigen Namen und Details über die vorangegangene Handelsbeziehung ausgeschmückt worden, doch eben diese letzten Tage und Wochen vor und nach Satons Tod wurden vollständig verschwiegen.

'Es hat keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken'. Sara tastete nach der kleinen Ölflasche auf einem Ecktisch und füllte im Dunkeln die Lampe nach. Sie spürte das warme Öl über ihre Hand laufen als sie ein wenig davon verschüttete und unwillkürlich dachte sie an eine blutende Wunde, die sich ähnlich anfühlen musste, wenn man im Kampf keinen Schmerz spürt.

Wie viel wusste Lennys? Zur Zeit des Krieges war sie noch recht jung gewesen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Zu jung um in den Schlachten des Drei-Morgen-Waldes zu kämpfen, doch alt genug um dort oben im Sichelland mitzubekommen, was vor sich ging. Und Akosh? Was war mit ihm? Er konnte durchaus hiergewesen sein, während Gromuit sein Tagebuch schrieb. Vielleicht hatte er sogar an seiner Seite gekämpft, bevor er sich als Goldschmied in Goriol niedergelassen hatte.

„Es geht mich nichts an!“ wies die Novizin sich selbst halblaut zurecht, da ihre Gedanken schon wieder abschweiften. Es gab dringlichere Überlegungen, so etwa, wie sie möglichst lange vor Beema verbergen konnte, dass Lennys schon längst nicht mehr im Tempel war. Je weniger Menschen davon wussten, dass die Gesandte Cycalas' allein durch die Gegend streifte, desto besser.

Und wenn sie angegriffen wurde? Wenn man sie in einen Hinterhalt lockte? Wenn sie verletzt wurde? Dann würde niemand nach ihr suchen, denn jeder vermutete sie noch in der sicheren Obhut des Nebeltempels. Menrir und Akosh schienen daran gewöhnt zu sein, dass sich Lennys nur von Zeit zu Zeit bei ihnen blicken ließ. Wie lange würde es dauern, bis sie sich ernsthafte Sorgen und Gedanken um sie machten? Und falls wirklich etwas geschah... würde sie, Sara, jemals davon erfahren?

Vom Hof her drangen Geräusche durch das Fenster. Sara musste nicht nachsehen, sie wusste, dass es die beiden eingeteilten Vorsteherinnen waren, die um diese Zeit schon alles für die Morgenzeremonie vorbereiteten, um anschließend neben den Opfergaben zu wachen. Es erschien Sara lächerlich, ja geradezu grotesk, dass sie jetzt wieder ähnliche Aufgaben erfüllen musste. Diese drei kurzen Tage hatten ihr ein anderes Leben gezeigt, fernab von den Protokollen des Glaubens und den strengen Regeln der Oberin Beema. Eine kleine Welt, nicht mehr als ein Staubkorn voller Lügen und Ignoranz, das war der Tempel plötzlich geworden. Unbedeutend, schmutzig und naiv. Und doch war er ihr einziges Zuhause und die Zukunft darin, so einsam und arm sie auch sein mochte, war die einzige, die sie hatte.

Draußen gab es Nichts und Niemanden für sie. Keine Familie, keine Freunde. Keine Heimat, kein Geld. Sie konnte ein paar Heiltränke und Pasten anrühren und kleinere Wunden und Krankheiten behandeln, doch niemand würde sich ihr anvertrauen, war sie doch nicht viel mehr als eine dahergelaufene Magd. Eine denkbar bequeme Lösung für Beema, zu wissen, dass die von ihr so verachtete Sara ein Leben lang diesen Mauern und ihren Bewohnern dienen würde. Weil sie es musste. Weil sie in der Schuld dieser Gemeinschaft stand, die sie aufgefangen und versorgt hatte, als sie als kleines Kind hilflos ausgesetzt worden war.

Eine lebenslange Schuld und eine lebenslange Pflicht, der sie sich fügte und unterstellte, weil sie keine Wahl hatte.

'Weil ich bisher keine Wahl hatte...' verbesserte sie sich dann in Gedanken und drehte die Lampe wieder aus. Wie von selbst schob sie Gromuits Aufzeichnungen wieder unter den Umhang und verließ den Raum zum letzten Mal.

Goriol bot kaum mehr als schwarze Schatten und graue Schemen, denn jetzt, weit nach Mitternacht, waren alle Lampen gelöscht. Selbst die Fenster des „Rebstocks“ waren finster und blind, als hätten sie vergessen, wie sehr dahinter manchmal das Leben tobte. Niemand begrüßte den fremden Reiter, der von Süden her in der Stadt Einzug hielt, doch ausnahmsweise war er dankbar über die Ruhe. Er wollte sich nur ein wenig umsehen, Augen und Ohren offen halten und dann wieder ein Lager in den grünen Hügeln aufschlagen, um morgen erneut und standesgemäß seinem Willkommen entgegenzusehen. Die ersten Abzweigungen ließ er östlich von sich liegen, die Straßen waren zu groß, zu licht, er dort zu auffällig. Es war nicht sein erster Besuch in der Stadt der Wanderer, ganz im Gegenteil. Inzwischen fand er sich dort auch im Dunkeln ebenso gut zurecht wie in seinem Heimatort und er wusste, dass der Weg nur wenige Meter weiter in eine schmale Gasse mündete, in der jetzt gewiss kein Neugieriger aus dem Fenster spähen würde.

Ein schmuckes und auffallend gepflegtes Häuschen markierte die Kreuzung. Es war ihm schon häufiger aufgefallen, passte es doch so gar nicht in diese eher ärmliche Gegend. Wohnhaus und zugleich Werkstatt eines Goldschmieds, so hieß es. Der Reiter hatte den Eigentümer nie getroffen, er hatte aber auch nicht viel für Schmuck oder ähnlichen Zierrat übrig.

Gerade als er die ersten Zaunpfosten des hübschen Vorgartens erreichte, hörte er ein Geräusch von der Tür des Anwesens. Jemand kam heraus.

Es war ein älterer Mann, mager und nicht besonders groß. Er hüstelte kurz und gab sich sichtlich Mühe, die Pforte besonders leise zu schließen, doch als er die schwarze Silhouette des Reiters erblickte, rief er viel lauter als nötig durch den verbliebenen Türspalt:

„Und gute Besserung, dein Magen wird sich schnell wieder erholen!“

Nun wandte sich der Alte wieder dem Fremden auf der Straße zu, der die Szene amüsiert beobachtet hatte.

„Zu so später Stunde noch Krankenbesuche, Menrir? Oder sollte ich eher sagen 'zu so früher Stunde'?“ fragte der Reiter lachend.

„Oh... Algar... ich hörte schon, dass du in der Gegend bist. Ja, mein Freund hier hat wohl etwas Falsches gegessen, aber es ist nur halb so schlimm.“

Algar schüttelte den Kopf. „Und deswegen weckst du gleich die ganze Nachbarschaft auf? Merkwürdige Methoden, aber ich kann hier wohl nicht die gleichen Manieren erwarten wie im Südreich.“ Es klang ein wenig überheblich.

Menrir schlurfte zum Gartentor.

„Und warum bist du dann hier, wenn wir dir doch zu ungehobelt sind?“

„Nun sei doch nicht gleich beleidigt, ich wollte dich nur ein wenig necken!“ lenkte Algar ein. „Und um auf deine Frage zu antworten: König Log schickt mich, um nach dem Rechten zu sehen. Anscheinend kam es im Mittelland in letzter Zeit zu einigen unschönen Zwischenfällen...“

„Davon weiß ich nichts. Und selbst, wenn es so wäre, so wüsste ich nicht, was Log das angeht. Er herrscht über den Süden“

„Du bist sehr abweisend, alter Freund. Und es wundert mich doch sehr, wie du über den König sprichst. Man könnte fast meinen, du hättest dich von ihm abgewandt.“

„Wir ... du und ich ... wir waren nie Freunde, Algar, nur flüchtige Bekannte. Und ehrlich gesagt, hätte ich nicht geglaubt, dir überhaupt noch einmal gegenüber zu stehen, seit du damals aus Mongetal fortgegangen bist.“

„Du wirst noch ewig auf diesen alten Geschichten herumreiten, fürchte ich.“ sagte Algar mit gespielter Langeweile. „Komm, lass uns einen trinken gehen.“

„Da hast du schlechte Karten, der Wirt des 'Rebstocks' liegt bereits im tiefsten Schlaf. Sehr beneidenswert.“

„Und wo willst du hin mitten in der Nacht? Doch nicht nach Elmenfall? Du brauchst wenigstens zwei Tage für diese Strecke.“

„Lass das meine Sorge sein. Wenn du eine Unterkunft für die Nacht benötigst, kann ich den Wirt für dich wecken, aber er wird dir sicher keinen Wein mehr ausschenken, auch wenn du noch so gut zahlst.“

Algar zuckte die Achseln.

„Ich brauche kein Nachtlager, ich bin nicht so anspruchsvoll wie andere und gebe mich auch mit Gras und Moos zufrieden.“

„Das wiederum sieht dir gar nicht ähnlich. Dass du nicht anspruchsvoll bist, meine ich. Gut, dann will ich den Boten Logs nicht länger aufhalten und weiter meines Weges ziehen. Oder kann ich noch etwas für dich tun?“

„Du bist nicht gerade höflich, Menrir. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du willst mich wieder loswerden. Warum nicht ein freundliches Wort zum Sohn deines einst besten Freundes?“

„Weil eben dieser Sohn meinen – nicht nur einst – besten Freund tief enttäuscht und verletzt hat. Und weil du mir zu eingebildet bist, Algar, das sage ich dir ganz offen. Ich respektiere Logs Befehle und Wünsche. Aber ich unterstehe ihnen nicht, vergiss das nicht. Und nun lass mich bitte gehen, ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“

Widerstrebend lenkte Algar sein Pferd einige Meter zur Seite, so dass Menrir ungehindert auf die Straße hinaustreten konnte.

„Wir sehen uns noch, alter Heiler, und dann werden wir uns doch noch einmal unterhalten!“ rief der Bote Menrir halblaut hinterher, als dieser in Richtung Marktplatz weiterging. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, ihm zu Fuß zu folgen, doch dann fiel ihm wieder der Goldschmied ein, der sicher noch wach war. Sollte er ihn im Namen Logs um ein Gespräch oder zumindest um einen Becher Wein bitten? Diese Leute im Mittelland waren eigentlich sehr gastfreundlich, doch Algar war sich nicht sicher, ob das auch für die Nachtstunde galt.

Mit einem strahlenden Lächeln schüttelte er sich die braunen Locken aus der Stirn und bedauerte, dass kein junges Mädchen hier war, um ihm bewundernde Blicke zuzuwerfen. Er musste sich mit seinem Spiegelbild in einer braunen Pfütze am Wegesrand zufriedengeben und stellte sich vor, wie er spätestens am nächsten Abend wieder der Mittelpunkt aller Feste sein würde, die in Goriol so häufig stattfanden.

Für diese Nacht jedoch ließ er es gut sein und drehte der Stadt wieder den Rücken zu, um sich auf den Wiesen, die sich vor ihm erstreckten, einen geeigneten Ruheplatz zu suchen.

Immer noch ein wenig verärgert zog Menrir das Tempo an.

„Zwei Tage bis Elmenfall...“ grummelte er vor sich hin. „Was bildet dieser junge Kerl sich eigentlich ein? Noch bevor die Sonne das nächste Mal untergeht, sitze ich zu Hause in meiner Küche bei stark gebrühtem Tee und einer Pfeife Belkraut. Zwei Tage... er hält mich wohl auch für einen Greis, der kaum noch kriechen kann...“ Noch bevor der Morgen graute, würde Goriol hinter dem Horizont verschwunden sein und am Nachmittag würde er Elmenfall vor sich sehen. Natürlich nicht, wenn er die gesamte Strecke zu Fuß bewältigte, aber spätestens bei Sonnenaufgang waren wieder Händlerwagen unterwegs und beinahe jeder Reisende war froh um die Begleitung eines altehrwürdigen Heilers. Es würde ein Leichtes sein, sich einen Platz auf einem der Karren zu sichern.

Akosh hatte das Gespräch zwischen Menrir und Algar stillschweigend hinter der Tür verfolgt. Er hatte schon mit dem Auftauchen des Boten gerechnet, wenn auch nicht ganz so schnell. Dass er gerade in dem Moment vorbeigeritten war, da Menrir nach Elmenfall aufbrechen wollte, war schlicht und ergreifend Pech gewesen, doch der Goldschmied hoffte, dass man diesem späten Besuch keine Bedeutung beimessen würde.

Was für ein Tag. Erst der entsetzliche Mord an Agub, dann Lennys' Ankündigungen für die nahe Zukunft, die langen Gespräche mit Menrir und jetzt auch noch dieser Spion aus Manatara. Ein leichter Kopfschmerz machte sich bemerkbar, was Akosh aber nicht weiter verwunderte. Er ertrug Stress, Anstrengung, Schlafentzug oder auch Hunger und Schmerzen ohne Weiteres. Doch ständige Gesellschaft, auch wenn es heute meist nur der alte Heiler gewesen war, zehrten an seinen Kräften. Er war gern allein. Wie gut verstand er Lennys, die auch am liebsten auf andere verzichtete und ihre Wege ohne Begleitung ging.

Sobald der neue Tag anbrach, wollte er Kontakt zu den anderen aufnehmen. Es würde nicht leicht werden, doch er hatte Erfahrung darin, geheime Botschaften so zu übermitteln, dass niemand sonst davon Wind bekam. Vielleicht würde Lennys schon morgen zurückkommen, dann war es gut, wenn alles vorbereitet war. Das Kellergewölbe wartete schon längst auf ein neues Treffen und an keinem Sichelländer waren die jüngsten Nachrichten spurlos vorbeigegangen. Sie würden alle kommen und sie würde nicht auf sich warten lassen. Das allerdings würde Lennys auch nicht dulden.

Er ging in den Wohnraum zurück und ließ sich seufzend auf einem Lehnstuhl nieder. Schwere Zeiten standen bevor und er versuchte, nicht daran zu denken, wie er damit umgehen würde. Trotz seiner Erfahrungen, trotz der Vorzeichen und Warnungen fühlte er sich nicht für das gewappnet, was auf ihn zukam. Etwas fehlte und nach allem, was er aus Lennys' knappen Worten entnehmen konnte, war es ihr genauso gegangen. Und dieses Etwas hatte sich geändert.

Noch konnte er es nicht so recht glauben. Ja, sie war in Valahir gewesen, da hatte Menrir sich verplappert. Und sein Gesichtsausdruck bei diesem Ausrutscher hatte mehr verraten als tausend Worte. Doch wenn Lennys in die Berge gegangen war, wenn sie wirklich in dieser Höhle gewesen war, dann war sie sich dessen, was vor ihnen allen lag, bereits viel sicherer als er selbst.

Und dann wiederum bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass er das seinige dazu tun musste.

Es waren nicht die Berge, die seinen Schatz bewachten, doch es kostete dennoch Überwindung, dorthin zu gehen. Jeder Schritt würde ihm schwerfallen, denn einmal dort gewesen, gäbe es kein Zurück mehr. Gab es das überhaupt noch? Lennys hatte sich entschieden. Sie hatte ihr Eigentum zurückgeholt. Hatte er denn jetzt noch ein Recht, das seine zu verleugnen?

„Ich werde auch gehen. Ich werde ihn holen. Sobald du wieder hier warst, Lennys, sobald du zu unserer Gemeinschaft gesprochen hast, werde ich es dir gleich tun und dann werde auch ich bereit sein.“

Erst als er die Worte laut aussprach, begann er auch, an sie zu glauben.

Äste und Ranken peitschten ihr ins Gesicht und Dornen zerrissen die Haut an ihren Armen und Beinen. In dunkelgrünen Schlieren raste der Wald vorbei und sie rannte so schnell, dass sie schon beinahe glaubte, zu fliegen. Noch immer waren sie hinter ihr, sie konnte sie hören, sie spüren... fast schon riechen. Wie sie es hasste, fortzulaufen. Ein Akt der Feigheit und des Verrats, doch noch durfte sie dem Tod nicht entgegensehen, noch musste sie überleben, um das Leben der anderen Willen. Jeder Atemzug brannte und ihr eigenes Blut rann in warmen Spuren die Haut hinab, doch Schmerzen waren für sie noch nie eine Beeinträchtigung gewesen. Sie sog sie in sich auf, schöpfte aus ihnen neue Kraft. Kraft, die ihr in diesen Augenblicken immer mehr verloren ging.

Gleich, gleich war der Wald zu Ende, gleich begann das offene Land, gleich war sie ohne Deckung, doch ebenso auch ihre Feinde. Dann würde sie sie auch sehen, aber auch gesehen werden, wie sie davonrannte wie ein fliehendes Reh. Wie Beute.

Sie konnte die Rufe hinter sich kaum wahrnehmen, hörte nur ihr eigenes Blut rauschen, ihren eigenen schnellen Atem, ihre Schritte auf Laub und Zweigen... und dazwischen die Rufe der Häscher... was riefen sie? Galt es ihr? Oder...?

Als sie den gewaltigen Schatten, der unmittelbar vor ihr auftauchte, bemerkte, war es schon zu spät. Wie zum Gruß hob er den Arm, doch es folgte keine Geste des Willkommens. Nur ein dröhnender, dumpfer Schmerz, der sie glauben ließ, ihr Kopf würde an der Schläfe entlang zerbersten, ...und dann... vollkommene Dunkelheit.

Lennys fuhr hoch. Ihr Herz raste. Sie hasste diesen Traum. Hier, tief im Wald, wo alles nach Vergangenheit roch, schien er noch lebendiger als sonst.

Eigentlich hatte sie nicht schlafen wollen, doch die Ruhe war zu verlockend gewesen. Und trügerisch. Sie musste endlich einen Weg finden, diese Schwäche in den Griff zu bekommen, die Träume abzuschütteln und in die Vergessenheit zu verbannen. Die Zukunft war vielleicht ein guter Weg, aber kein zuverlässiger.

Es war immer noch Nacht, doch das Tageslicht ließ sicher nicht mehr lange auf sich warten. Sie befand sich nicht allzu weit von Goriol entfernt und überlegte, ob sie nicht gleich zu Akosh zurückgehen sollte. Bald würden hier Händler durch den Wald tingeln, Kräutersammler – vielleicht sogar aus dem Tempel – würden zwischen den Bäumen umherschleichen und dieser alberene Neugierige aus Manatara war sicher auch schon in der Gegend unterwegs. Ein Tag in dem dämmrigen Anwesen Akoshs und die Aussicht auf ein Treffen der Gemeinschaft war vielleicht genau das, was sie jetzt brauchte, um sich abzulenken und gleichzeitig das Gefühl zu haben, einen Schritt voranzukommen.

Der Traum hatte einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Sie kannte seine Fortsetzung zu gut und leise beschlich sie die Ahnung, dass ein längerer Aufenthalt im Mittelland diese Bilder des Unterbewusstseins immer weiter zutage förderte. Nicht nur im Schlaf, nein, auch in schwachen Momenten, wie oben an der Schildkrautlichtung, tauchten sie plötzlich und unvermittelt auf, als würden die Feinde selbst sie schicken.

Lennys hatte nie jemandem davon erzählt. Weder von der Wirklichkeit noch von den Träumen. Es wäre eine Schwäche gewesen, gerade so, als ob sie Hilfe suchte oder nicht in der Lage wäre, allein damit fertig zu werden. Eines Tages würde der Tod sie besiegen und mit ihr würde dieses Wissen sterben. Kein wirklich unangenehmer Gedanke.

Nachdenklich nahm sie den Gegenstand in die Hand, den sie nur zwei Tage zuvor aus der Höhle in Valahir geholt hatte. Es war gut, ihn wieder an ihrer Seite zu spüren, auch wenn sie ihn noch nicht benutzte. Ihr Verlangen war stärker geworden, seit sie ihn bei sich trug, mit jedem Tag, jeder Stunde, jeder Minute brannte es mehr, wollte sich kaum noch zähmen lassen. Nicht mehr lange und die Zeit dieser Entbehrung war vorüber. War es das, was sie wirklich brauchte, um die Schatten der Vergangenheit zu verjagen? Sie wieder aufleben zu lassen? Wie kann man gegen das Ferne und Unwirkliche kämpfen? Ist es nicht leichter, es zu sich zu holen und wieder wirklich werden zu lassen?

Goriol kam näher. Der stille Wald bedeutete ihr nichts mehr, obwohl sie wusste, dass sie sich bald wieder dorthin zurücksehnen würde. Aber auch der Wald war nur ein Ersatz, ein müder, stumpfer Abglanz dessen, wonach sie sich wirklich sehnte. Hier war sie nicht zu Hause, dies war nicht das Sichelland. Und nur dort gehörte sie hin. Es war noch zu früh für eine Heimkehr. Sie durfte nur nicht den richtigen Moment verpassen, ... denn sonst war es vielleicht zu spät.

Akosh war in seinem Lehnstuhl eingedöst. Nicht, weil er müde war oder erschöpft, sondern weil seine Gedanken ihn zu sehr beschäftigt hatten. Schon vor vielen Jahren hatte ihm ein alter Priester beigebracht, das Gehirn einfach auf 'Ruhe' zu schalten, an nichts zu denken, sich mit nichts zu beschäftigen. Diesem Zustand folgte meist ein traumloser Schlaf oder, so wie jetzt, eine vollkommene Leere, die zwischen dem Wachsein und dem Tiefschlaf schwebte.

Es klopfte.

Das Erste, was Akosh wahrnahm, war die Tatsache, dass der Himmel sich hellgrau verfärbt hatte. Die Nacht war vorüber und wer auch immer ihn zu dieser frühen Stunde zu sprechen wünschte, scherte sich nicht darum, dass ganz Goriol noch im Bett lag.

„Wenn das dieser verdammte Algar ist, werde ich ihn mit dem Schmiedehammer erschlagen!“ knurrte Akosh und tastete sich im Halbdunkel zur Tür.

„Wer ist da?“ fragte er unfreundlich, ohne zu öffnen.

„Mach auf.“ sagte Lennys knapp.

„Oh, du....“ Mit entschuldigender Geste ließ Akosh sie herein und unterdrückte dabei ein Gähnen. „Ich hatte dich nicht so früh zurückerwartet.“

„Ich mich auch nicht.“

„Nebenbei bemerkt, du siehst nicht sehr erholt aus. Wo warst du heute nacht?“

Der Goldschmied hatte einen freundschaftlichen Ton angeschlagen und sich nichts bei seinen Worten gedacht, umso überraschter war er, als er eine ausgesprochen barsche und herablassende Antwort erhielt.

„Es geht dich nicht das Geringste an, wo ich meine Nächte verbringe und abgesehen davon solltest du in Zukunft auf ähnliche Beleidigungen verzichten, wenn du den Winter noch erleben willst!“

Akosh zuckte zusammen.

„Oh... ent...entschuldige. Das war nicht so gemeint. Ich dachte nur...“

„Hör auf zu denken! Wo ist Menrir?“

„Er ist zurück nach Elmenfall gegangen, es ist gerade erst zwei oder drei Stunden her. Du sagtest, du brauchst ihn momentan nicht...“

„Tu ich auch nicht. Ich brauche überhaupt niemanden. Hab ich dir vielleicht irgendeinen Vorwurf gemacht?“ fuhr Lennys den verwirrten Akosh bissig an.

„Nein, hast du nicht...“

„Na also. Gibt es irgendetwas Neues seit gestern?“

Akosh nickte.

„Dieser Algar ist hier aufgetaucht, gerade als Menrir vorhin zur Tür hinaus ist. Wusstest du, dass die beiden sich kennen?“

„Menrirs Bekanntschaften interessieren mich nicht, solange er seinen Mund zu halten weiß. Und dieser...Algar... hat gesehen, dass Menrir bei dir war?“

„Ja, aber, Menrir hat ihn glauben gemacht, es wäre ein rein medizinischer Besuch gewesen. Ich weiß aber nicht, ob Algar es ihm abgenommen hat. Menrir war auch nicht sonderlich erbaut von Algars Neugier und hat sich recht abweisend verhalten.“

„Gut so. Ich kann nicht noch mehr Leute brauchen, die sich in unsere Angelegenheiten mischen.“ Ihr Ton wurde etwas ruhiger, doch Akosh wusste aus Erfahrung, dass diese Ruhe oft nur von kurzer Dauer war.

„Du bist also aus dem Tempel ausgezogen?“ fragte er, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Sozusagen. Und es wird hoffentlich nie einen Grund geben, dorthin zurückzugehen. Ich bin froh, dass ich diese schreckliche Beema nicht mehr ertragen muss, sie hat mich wahnsinnig gemacht.“

„Du hast sie doch kaum gesehen.“ lächelte Akosh.

„Ich musste jeden einzelnen Schritt planen, um ihr nicht in ihre schleimigen Hände zu fallen. Das hat schon gereicht.“

„Und Sara?“

„Was soll mit ihr sein?“ fragte Lennys beiläufig zurück und betrachtete wieder die Wandteppiche.

„War sie auch so schlimm?“

Lennys antwortete nicht. Sie wusste nicht, warum sie sich plötzlich noch wütender fühlte, warum ihre schlechte Laune und Gereiztheit sich noch weiter steigerten. War es das Bild, auf das sie gerade sah? Eine Landschaft aus Cycalas, irgendwo im Süden nahe Askaryans. Nein, das war es sicher nicht. War es das Begehren, das sie immer stärker spürte, seit sie in Valahir gewesen war? Akosh hatte nach Sara gefragt.

Lennys dachte an jenen Abend, als sie Sara von dem Schlangendämon erzählt hatte. Auch da war diese Wut in ihr hochgekocht, doch es war unter dem Einfluss von nicht wenig Alkohol gewesen und sie wusste auch, worauf sie so zornig gewesen war. Auf die Unwissenden, die sich mit den Eingeweihten immer mehr vermischten und die Reinheit des Glaubens beschmutzten. Ein Problem, das so alt war wie die Religion selbst und das immer wieder zu einem Streitthema wurde, wenn die Richtigen beisammensaßen. An diesem Abend hatte sie etwas gebraucht, ein Ventil für ihr Temperament, einen Grund, es aus sich herauszulassen.

Und jetzt? Brauchte sie es wieder?

„Lennys?“ fragte Akosh noch einmal vorsichtig. „Ist alles in Ordnung?“

'Das wüsste ich selbst gern.' dachte Lennys. All die Wut war plötzlich verraucht und sie fühlte sich leer und ausgebrannt. Wie ein Totenfeuer, das man zu früh gelöscht hatte.

„Wir treffen uns heute um Mitternacht in deinem Keller.“ sagte sie dann ohne weiter auf Akoshs Frage einzugehen. „Wirst du das hinkriegen?“

„Ja, natürlich. Aber ich werde den ganzen Tag über unterwegs sein müssen, um alle zu erreichen, ohne dass es auffällt. Selbstverständlich kannst du über mein Haus verfügen.“

„Das weiß ich, aber es ist nicht nötig. Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Sie erklärte das nicht näher und Akosh merkte nicht, dass es gelogen war. Der Wunsch nach einem Tag der Abgeschiedenheit in diesem Hause war ebenso verflogen wie der gerade erlebte Zorn und jetzt wollte sie nur noch nach draußen, um das Leben wieder zu spüren. Irgendetwas stimmte nicht. Innerhalb von Sekunden änderten sich ihre Stimmung und ihre Wünsche, mal war sie gleichgültig, dann wieder leicht reizbar. Und dieses Auf und Ab irritierte und ermüdete sie zusehends.

Der Goldschmied hingegen war plötzlich nachdenklich geworden.

„Lennys, ich habe mich entschieden, in die Sümpfe zu gehen. Ich werde das Gleiche tun wie du.“

Sie nickte nur.

„Aber....“ Akosh zögerte.

„Aber?“

„Ich hoffe nur, dass es bei mir nicht genauso schnell geht wie bei dir.“

„Wovon sprichst du?“

„Beobachte dich selbst. Du kannst nicht mehr lange warten. Du hast etwas in dir geweckt, dass jetzt keine Ruhe mehr gibt. Vielleicht war es noch zu früh dafür.“

„Ich habe mich unter Kontrolle.“ sagte Lennys kalt.

„Wie lange noch?“

„Solange es sein muss.“

„Er ist stärker als meiner. Und ich weiß, wie viel Macht der Meinige über mich hat. Wie viel Kraft hast du?“

Lennys funkelte ihn an.

„Du wagst es, mich nach Kraft oder Schwäche zu fragen? Wer bist du? Ich beherrsche ihn, nicht er mich! Es ist nur ein Gegenstand! Nichts weiter! Ich lasse mich nicht so zum Aberglauben verleiten wie du, Akosh!“

„Warum hast du ihn dann dorthin gebracht, weit weg von dir? Hast du nicht befürchtet, er könne dich rufen und dein Verlangen wecken?“

„Es war nur ein Symbol! Die Entfernung war nur ein Bild für die Distanz zur Vergangenheit! Nichts weiter! Wir werden nicht mehr davon reden!“

„Ganz wie du meinst.“ erwiderte Akosh ergeben und sah Lennys unschlüssig an. „Die ersten Händler werden bald zum Marktplatz kommen, ich könnte Utu und Enwyla gut abpassen, wenn ich gleich hinübergehe...“

„Meinetwegen. Ich werde noch einmal in den Wald gehen, vielleicht in die nordwestliche Richtung. Sie können sich nicht ewig verstecken, es muss noch mehr Spuren geben.“

„Soll dich jemand begleiten?“

„Nein. Ich bin bald zurück.“

Lennys hatte den Weg nach Nordwesten nicht ganz grundlos gewählt. Der Wald war hier dichter, wüster, undurchdringlicher als im Osten, denn hier wurde nur selten das Sonnenlicht durch Nebel verschluckt, so dass auch auf dem Boden zahllose Farne, Sträucher und Ranken vor sich hin wucherten. Das unwegsame Gelände hielt viele Wanderer ab und die Händler nutzten lieber die breite Straße, die am Südrand des Drei-Morgen-Waldes entlangführte. Auch die Banditen wussten, dass hier wenig zu holen war und so war diese Region beinahe ideal für solche, die sich gerne verborgen hielten und mit den Wenigen, die sich doch hierher verirrten, leicht fertig wurden.

Die Waldbrücke lag weiter östlich, doch Lennys scheute das Wasser nicht und watete durch eine seichte Stelle des Bachs, um anschließend die steile Böschung hinaufzuklettern, die zu einer Anhöhe mitten im Forst führte. Hier stand sie gut sichtbar für jeden, der darauf aus war, ihr Volk zu jagen und zu vernichten, aber nichts geschah. Kein plötzlicher Angriff, keine unvorsichtige Bewegung im Hintergrund, keine Falle.

Sie setzte sich auf einen Felsbrocken am Rand der Anhöhe und wartete. Wer auch immer sich in diesem Wald herumtrieb, würde sie hier irgendwann sehen. Und wer sie töten wollte, würde es hier und jetzt ganz sicher versuchen. Und dann würde sie sehen, ob sie richtig lag, ob es wirklich die waren, die sie erahnte, und ob sie tatsächlich recht daran getan hatte, nach Valahir zu gehen.

Gegen Mittag begann es zu regnen und noch immer saß die Sichelländerin beinahe unbeweglich auf dem Fels. Geduld war eine Tugend, mit der die Cycala nicht gerade besonders reich ausgestattet war, doch es gab Ausnahmen. Sie hasste Begriffsstutzigkeit und Menschen, die sich dumm anstellten, sie erklärte nicht gerne und erwartete vollste Aufmerksamkeit und Konzentration von allen, mit denen sie sich umgab. Und sie bevorzugte immer den direkten Weg, um etwas zu erreichen, duldete keine Verspätungen und nahm Verzögerungen nur dann in Kauf, wenn sie absolut unvermeidbar waren. Doch hier, auf die vermeintlichen Jäger wartend, die zu Opfern werden würden, hier konnte sie stunden- wenn nicht sogar tagelang ausharren.

Und zumindest die Stunden vergingen allmählich.

'Kommt und holt mich...' dachte sie immer wieder. 'Zwingt mich nicht, euch zu suchen, denn dann werde ich keine Gnade mehr kennen... kommt zu mir...'. Ihre Hand strich über die glatt polierte Sichelklinge an ihrem Gürtel, um dann wie zufällig über dem Gegenstand unter ihrem Umhang zu ruhen. Plötzlich – als wäre sie erneut aus einem Traum erwacht – wurde ihr klar, was sie eigentlich tat. Sie war hier, ein dankbares Opfer, die perfekte Beute und sie präsentierte sich genau so. Weil es der einfachste, der schnellste Weg war, ihr eigenes Verlangen zu stillen. Die ganze Zeit hatte es gar keine Rolle gespielt, ob sie starb oder nicht, sie hatte nur einen Kampf herbeigesehnt, ohne dessen Ende Bedeutung beizumessen. Hatte Menrir doch Recht gehabt? War sie zu schwach für die Macht, die sie erneut heraufbeschworen hatte? Sie hatte leichtsinnig mit ihrem Leben gespielt und diesmal konnte sie keinem Rum und keiner Wut die Schuld dafür geben.

Mehr überrascht als erschrocken über sich selbst, ging sie den Hügel wieder hinab und versuchte, sich auf ihre Umwelt zu konzentrieren. Sie konnte und wollte sich jetzt keine weiteren Aussetzer mehr erlauben und ahnte, dass es nur einen Weg gab, sich selbst wieder in den Griff zu bekommen. Indem sie der Begierde endlich nachgab. Aber nicht wie gerade eben, dass sie blind für Gefahr wurde und jegliche Vernunft ausgeschaltet war, sondern geplant, berechnend, sicher.

Akoshs Keller war beinahe ebenso groß wie der Grundriss des darüber liegenden Hauses. Seine steinernen Wände, die niedrige Decke und das Licht der Ölfackeln verliehen ihm den Eindruck eines Kerkers, gleichzeitig wirkte er aber auch mit seinen kostbaren Teppichen, den dunklen geschnitzten Stühlen und dem gewaltigen polierten Tisch geradezu feierlich und elegant. An die zwanzig schwarz gekleidete Menschen jeden Alters und Geschlechts hatten sich versammelt und hörten die Worte des Goldschmieds. Er sprach knapp und nüchtern und seine Anweisungen waren klar und duldeten keine Fragen oder gar Widersprüche. Dann betrat Lennys den Raum.

Sie war, neben Akosh, die einzige, die aus dem oberen Stockwerk hinuntergestiegen kam, alle anderen hatten den geheimen Ort durch einen engen Tunnel erreicht, der in einer verborgenen Nische des Kellers endete. Seinen Einstieg zu finden, war ohne genaues Wissen nahezu unmöglich.

Schweigen erfüllte das Gewölbe und während Lennys an den Umstehenden vorbei ging, neigten diese leicht den Kopf. Akosh lächelte zufrieden.

Am Ende der Tafel nahm Lennys Platz. Sie wartete, bis alle es ihr gleichgetan hatten und nickte dann Akosh zu, der die bereitstehenden Kelche mit dem rubinroten Sijak füllte. Dann sprach sie:

„Ich danke euch, dass ihr so schnell gekommen seid und ich weiß um das Risiko, das dieses Treffen mit sich bringt. Ihr wiederum wisst, weshalb ich euch gerufen habe und sicher erwartet keiner beruhigende Lügen, sondern nichts anderes als die Wahrheit von mir.“

Neugierige Blicke wurden ausgetauscht, manche auch ein wenig ängstlich, andere wieder leuchtend und zuversichtlich.

„Es gab viele Tote in den letzten Tagen und Wochen....“ fuhr Lennys an keinen Bestimmten gewandt fort. „Ich muss euch keine Namen und Orte mehr aufzählen, ihr kennt sie alle bereits. Agub war der Letzte, von dem wir wissen, dass er in die Hände der Verbrecher gefallen ist. Doch sein Tod brachte uns auch die letzte Betätigung dessen, was wir schon lange vermuteten. Die Barbaren aus Zrundir sind zurück und sie sind gekommen, um gegen uns einen aussichtslosen Krieg zu führen.“

Niemand sagte ein Wort. Sie starrten nur Lennys an und diese sah in die Runde als wolle sie die Anwesenden zu einem Aufschrei herausforden. Doch die Mienen waren gefasst, die Blicke mutig und die Lippen bebten nur vor Zorn und nicht aus Furcht. Sie hatte nichts anderes erwartet.

„Wer nach Hause gehen will, soll gehen. Niemand in Cycalas wird euch daraus je einen Vorwurf machen. Für die, die bleiben, um den Kampf aufzunehmen, der unweigerlich kommen wird, habe ich jedoch noch eine Nachricht...“

Akosh hob den Kopf, er wusste, was jetzt kommen würde. Und alle Cycala hörten mit ihm, wie die Worte gesprochen wurden, die sie schon beinahe vergessen hatten und die noch einmal zu vernehmen sie nie geglaubt hatten. Es war ein Aufruf, der zuletzt vor zwölf Jahren an die Sichelländer gerichtet worden war.

Eine seltsame Stimmung lag in dem Keller, nachdem Lennys geendet hatte. Vielleicht war es eine Mischung aus Angst und Sehnsucht und obwohl niemand auf diesen Moment vorbereitet gewesen war, war es doch allen, als ob nichts anderes als das Unausweichliche geschehen war.

Akosh erhob sich von seinem Platz und sah in die Runde.

„Wir haben heute weder die Zeit noch die Sicherheit, diese Zusammenkunft länger als notwendig abzuhalten. Ihr alle habt viel zu tun und noch mehr darüber nachzudenken, doch bitte überstürzt nichts.“ Er warf einen unsicheren Seitenblick auf Lennys, die aber keine Reaktion zeigte. Dann stand auch sie auf und sagte nur:

„Ihr werdet von uns hören. Seid wachsam.“

Ohne ein Wort des Abschieds ging sie wieder nach oben und überließ es Akosh, das Treffen aufzulösen und die Mitglieder der Gemeinschaft wieder in sicheren Abständen durch den Gang zurückzuschicken. Mehr als zwei Stunden vergingen bis er zurückkam.

„Es ist gut gegangen, wie immer.“ sagte er. „Niemand hat sie gehen sehen.“

„Sie glauben es noch nicht.“ erwiderte Lennys.

„Sie brauchen Zeit. Und ich bin mir sicher, dass sie es glauben, aber es wird ihnen gehen wie mir. Es zu glauben ist eine Sache, es zu begreifen eine völlig andere.“

Lennys warf sich den Umhang über und ging zur Tür.

„Wo willst du hin?“

„Ich werde den Anfang machen. Jetzt.“

Akosh riss erschrocken die Augen auf.

„Du willst jetzt hinausgehen und....? Lennys, nein, das geht nicht. Du kannst nicht alleine gehen, es ist zu....“

„Gefährlich?“ fragte sie spöttisch. „Komm mit, wenn du es nicht lassen kannst, den Beschützer zu spielen, aber halte mich nicht auf und stell dich mir nicht in den Weg.“

Sie wartete nicht. Noch vollkommen von dem plötzlichen Aufbruch überrascht, musste Akosh sich beeilen, den Kurzsäbel aus einem verborgenen Fach unter den Dielen zu holen, seinen schwarzen Umhang herauszusuchen und möglichst ungesehen sein Haus zu verlassen. Er sah sich auf der Straße um, doch Lennys war schon verschwunden.

Einer Ahnung folgend, schlug er nicht den Weg zum Markt ein, sondern folgte der Südgrenze Goriols nach Westen. An den Äckern der Getreidebauern holte er sie endlich ein.

„Das ist ein ziemlicher Umweg...“ keuchte er, als er endlich auf ihrer Höhe war.

„Ich habe nicht vor, von neugierigen Schlafwandlern beobachtet zu werden....“ Abrupt blieb sie stehen und sah ungläubig auf Akoshs Waffe. „Was ist das denn?“

„Mein Shajkan, du kennst ihn doch...“

„Wo ist deine Sichel?“

„Lennys....“

„Hör zu, das ist keine Spassveranstaltung hier! Damit kannst du vielleicht einen durchgedrehten Banditen erledigen oder einen tollwütigen Eber! Überlass den Shajkan denen, die keine andere Wahl haben, aber du hast sie!“

Akosh seufzte. „Ich hatte mir geschworen, sie nie mehr zu tragen...“

„Solange du nur den Eid gegenüber dir selbst brichst, wirst du schon nicht gleich zur Hölle fahren. Aber jetzt haben wir keine Zeit mehr für deine Nachlässigkeiten. Es muss eben so gehen.“

„Und wo gehen wir jetzt hin?“

„In den Wald. Dort wo sie sind. Ich weiß es.“

Bis sie den Rand des dunklen Forstes nordwestlich von Goriol erreichten, sprachen sie kein Wort mehr. Es war eine kühle, etwas feuchte Nacht, wie schon die vorangegangene, doch selbst in einem Eisregen hätte Lennys jetzt nicht gefroren. Eine innere Glut schien sie zu versengen und sie genoss das Gefühl und die Aussicht auf eine Erlösung, die so nahe war wie lange nicht.

Sie bewegten sich lautlos und niemand, der in der beinahe undurchdringlichen Finsternis weiter als einen Meter von ihnen entfernt war, hätte ahnen können, dass zwei Jäger durch die Bäume schlichen, die ihre Gier auf ein Opfer nur schwer im Zaum halten konnten.

Sie hielten sich weiter nördlich, überquerten den Bach und anschließend den Hügel, auf dem Lennys bereits am Nachmittag ausgeharrt hatte. Diesmal war sie weniger risikofreudig und leichtsinnig, sondern hielt sich im Schatten der Bäume und hinter hohen Sträuchern verborgen. Nach einer Weile blieb sie plötzlich stehen. Die Anhöhe lag schon ein ganzes Stück hinter ihnen und selbst, wenn sie jetzt umkehrten, würden sie erst nach Sonnenaufgang Goriol erreichen. Doch das war unwichtig.

„Was ist los?“ flüsterte Akosh.

„Riechst du es nicht?“

„Was?“

„Es riecht nach Met. Nach abgestandenem, gammligen Met.“

Akosh sog die Luft ein und nickte.

„Du hast recht...“

„Hantua aus Zrundir trinken alten Met lieber als frischen. Sie sind hier....“ Ihre Hand umklammerte den Griff der Sichelklinge.

„Wir sind nur zu zweit....“ gab Akosh zu bedenken. „Gegen ein ganzes Lager haben wir keine Chance."

„Ein Lager hätten wir schon längst gehört, sie lassen immer Wachen aufstellen. Es sind höchstens zwei oder drei. Und sie sind nicht sehr weit weg. Met und Schweiß... der Gestank des Abschaums von Zrundir.“ Sie betonte die letzten Worte voll Abscheu und spuckte auf den Boden, dann nickte sie zu einer hohen Wand aus Dornbüschen einige Meter vor ihnen. „Dahinter ist ein kurzer Steilhang.“

Akosh hatte Mühe, ihre leisen Worte zu verstehen.

„Sie sind dort unten, an der Quelle des Goriolbaches. Du wirst sie gleich sehen können....“

Lennys spürte die Dornen nicht, die dünne blutige Linien auf ihre Haut malten und das Leder ihrer Kleidung zerkratzten. Sie schob sich auf dem Bauch liegend durch die Büsche und verspürte einen Hauch von Belustigung, als sie hörte, wie Akosh immer wieder ein Fluchen unterdrückte. Gleich würde er für diese Mühen entschädigt werden. Wie sie auch.

Hinter dem Abhang gurgelte tatsächlich die Quelle des Baches, den sie einige Zeit vorher schon überquert hatten, aber diesmal war sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Ein Feuer brannte daneben und spiegelte sich im Wasser.

Zwei hünenhafte Männer saßen davor und drehten Akosh und Lennys den Rücken zu. Einer von ihnen hatte irgendetwas auf einen langen Spieß gesteckt, den er in den Flammen hin und her wendete, der andere nahm gerade einen gewaltigen Schluck aus einem Lederschlauch, der gewiss nicht mit Wasser gefüllt war. Der, der den Spieß in der Hand hielt, hatte einen kahlen Schädel, der mit Brandnarben übersät war.

Nun stand der andere mühsam auf und schwankte etwas, bevor er sich wohlig streckte.

„Ich hau' mich auf's Ohr. War 'ne lange Nacht, auch wenn's wieder nichts gebracht hat.“

„Diese verfluchten Ratten haben sich in ihre Löcher verkrochen. Wir werden sie schon ausräuchern.“ knurrte der andere.

„Feige sind sie, lassen sich kaum noch blicken. Verdammte Dämonenbrut!“

Lennys spannte die Muskeln an, doch sie spürte Akoshs warnenden Blick hinter sich.

„Der Met ist auch schon wieder leer...“ grunzte jetzt wieder der Betrunkene.

„Was säufst du auch so viel. Wir können nicht schon wieder welchen klauen, sonst fällt es sogar diesem Bauernpack auf.“

„Das sagt grade der Richtige, du hast mindestens die Hälfte davon getrunken!“

„Ach, stell dich nicht so an.“ brummte jetzt wieder der Glatzköpfige. „Wir werden schon wieder was besorgen, aber nicht in der Stadt. Dieser Schönling aus dem Süden treibt sich da rum. Hat wohl mitgekriegt, dass wir hier aufräumen und das Ungeziefer endlich verbrennen, das sich hier wie die Pest ausbreitet! Ha, weißt du noch, diese Missgeburt von gestern? Hat gekokelt wie das Wildschwein hier!“

Lennys schob sich aus den Büschen heraus.

„Das reicht..“ zischte sie und verschwand hinter einigen schwarzen Baumstämmen, noch bevor Akosh sie zurückhalten konnte. Hastig robbte auch er aus den Dornen hervor und schaffte es gerade noch rechtzeitig, Lennys ins Dunkel zu folgen, als auch der Kahlköpfige aufstand und dabei genau in ihre Richtung sah. Doch er bemerkte die beiden Cycala nicht und hielt seinem Kumpanen stattdessen den Spieß hin. „Halt mal und lass es nicht verkohlen. Muss mal in die Büsche!“

Nun trottete er direkt auf die Stelle zu, an der Akosh und Lennys mit den Schatten einiger Eichen verschmolzen waren.

Der Goldschmied wusste, dass er den letzten Fehler seines Lebens begehen würde, wenn er jetzt vor Lennys zuschlug. Das war ihr Moment und auch wenn er ebenso lange darauf hatte warten müssen, so war ihre Begierde doch um ein Vielfaches größer als die seine.

Der Hüne hantierte umständlich an seinem Gürtel herum und wollte sich gerade an einem nahestehenden Busch erleichtern, als er Lennys' heißen Atem im Nacken und eine eisige Schärfe über seiner Kehle spürte. Er erstarrte.

„Ungeziefer nennst du uns. Pest. Dämonenbrut.“ Mit jedem Wort verstärkte Lennys den Druck ihrer Klinge und zog gleichzeitig mit der anderen Hand den Kopf des Soldaten an seinem Ohr zurück. „Du hättest besser gegen die Flöhe in deinem Pelz kämpfen sollen, dreckiger Bastard!“

Sein Atem kam stoßweise, keuchend, rasselnd. Mit jedem Zug schien sich der Tod mehr ihn seine Haut zu bohren.

„Hey, verlauf dich nicht, dein Schwein verbrennt sonst!“ grölte der Betrunkene jetzt vom Feuer her.

„Was ist?“ zischte Lennys. „Willst du ihn nicht herrufen? Eine Einladung zum Tanz mit der Sichelklinge... Das wolltet ihr doch, nicht wahr? Habt ihr nicht eben noch nach uns gesucht?“

Akosh trat ein Stück vor. In seinen Augen glänzte Hunger.

„Gesindel aus dem Norden, nicht mehr wert als der Dreck auf diesem Waldboden....“ krächzte der Zrundir-Krieger jetzt und versuchte, nach seiner Axt zu tasten, die an seinem abgenutzten Gürtel baumelte.

„Gib dir keine Mühe... du brauchst sie nicht mehr....“ sagte Lennys jetzt kalt. „Dies ist... dein letzter... Atemzug....“

Ein leises, beinahe unschuldiges Fauchen zerschnitt die Stille um sie herum und gleichzeitig die Kehle des Hünen. Warmes Blut tränkte seinen Lederpanzer und lief über die Hand der Cycala, die ihn jetzt nach hinten riss, so dass er hart auf dem Rücken landete. Sein Röcheln klang wie das Scharren eines ungeduldigen Tieres.

Langsam, jede Sekunde auskostend, stieg Lennys über den sterbenden Körper und kniete sich dann neben den zerfetzten Hals aus dem weiter das Blut strömte. Sie griff in ihren Umhang und zog den Gegenstand heraus, der so lange in Valahir begraben gelegen hatte.

Es war ein Kelch.

Aus reinstem Silber, edel und glatt, nur in seiner Mitte mit mitternachtsblauen, funkelnden Saphiren besetzt.

„Fühle dich geehrt, wertloser Hantua. Es ist dein Blut, das uns in die Schlacht führt. Die Hölle wird dir dafür sicher einen besonderen Platz gewähren....“

Das Letzte, was der Gefallene spürte, war das kühle Silber, das unerwartet wohltuend über seine tödliche Wunde strich und das Blut auffing, das er vergoss. Grauenerfüllt erkannte er, dass die Frau neben ihm voller Gier ... voller Durst... beobachtete, wie der Kelch sich füllte. Dann war alles vorbei.

„Hey, findest du den Rückweg nicht?“ rief der verbliebene Kämpfer jetzt und kicherte über seinen müden Scherz. „Mach schon, ich muss auch mal!“

„Nimm ihn....“ sagte Lennys heiser, den nun randvollen Kelch auf Augenhöhe haltend. „Und beeil dich.“

Akosh umkreiste den Lagerplatz und im Augenwinkel nahm Lennys kurz darauf seine schwarze Gestalt wahr, die sich seinem Opfer näherte. Sie war zu weit entfernt, um zu hören, wie auch dessen Hals zerschnitten wurde, doch gleich darauf sackte der sterbende Körper des Feindes zuckend zu Boden. Nun war die Zeit des langen Wartens endgültig vorüber.

Je größer und verabscheuungswürdiger der Gegner, desto süßer und berauschender sein Blut, so heißt es von jeher in den Schriften des Nordens. Es mochte nicht der größte, nicht der gefährlichste Feind sein, doch als Lennys den Kelch an ihre Lippen hob, schmeckte sie mit dem ersten Tropfen, dass er mehr als nur einen Cycala auf dem Gewissen gehabt hatte.

Eine Welle der Glut und der Euphorie erfüllte sie und sie erkannte nur noch verschwommen, dass Akosh sich wieder zu ihr gesellte, wartend auf den Kelch, da der seine noch in den Sümpfen verborgen lag. Der Wald um sie herum begann sich zu drehen, gewaltiger als jede Droge betäubte das Blut ihre Sinne und verwischte die Realität zu einem wirbelnden Farbenmeer. Die Wirkung breitete sich in ihrem ganzen Körper aus und der Hunger, die Begierde, die sie die ganze Zeit in sich getragen hatte, erlangte endlich ihre Befriedigung.

Sichelland

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