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Kapitel 3

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In dem Augenblick als die Klinge sich auf die Kehle der Gestalt legte, erstarrte diese. Sie wehrte sich nicht, als Lennys ihr ruhig, aber keinen Widerstand duldend den Arm auf den Rücken drehte, bemerkte aber gleichzeitig schaudernd, dass die Hand, die den Säbel so bedrohlich gegen ihren Hals presste, weder zitterte, noch sonstige Anzeichen von Unsicherheit zeigte.

Der Angriff war vollkommen lautlos vor sich gegangen, doch jetzt durchschnitt Lennys' kalte Stimme das Rauschen des Windes und des Regens.

"Hast du wirklich gedacht, dass ihr mich so einfach kriegen könnt?"

Es war leichtsinnig, was sie tat. 'Viel zu leichtsinnig.' dachte sie. Hier im gewittergebeutelten Wald konnten sich noch zehn weitere Feinde verstecken, die nur darauf gewartet hatten, dass sie sich offen zeigte oder einen von ihnen angriff. Einen Moment lang ärgerte sich Lennys, dass sie nun schon den zweiten großen Fehler in kurzer Zeit machte, doch gleichzeitig fühlte sie sich sicher und überlegen. Hatte sie auch diesen einen Verfolger viel zu spät bemerkt, so war sie dennoch überzeugt, dass eine größere Gruppe ihren scharfen Sinnen nicht entgangen wäre. Selbst eine ganze Flasche Rum hätte ihre Instinkte nicht so stark betäuben können, dass sie blind in eine Übermacht von Angreifern gelaufen wäre.

Sie genoss die spürbare Angst ihres Opfers, sog gierig das Geräusch der stossweisen Atemzüge in sich auf und fühlte ihre Macht in jeder Ader pulsieren. Eine einzige Regung des anderen und er hatte sein Leben verwirkt... ein Schrei und er würde im selben Augenblick nur noch das Gurgeln der durchtrennten Kehle von sich geben können. Doch er bewegte sich nicht...und er antwortete auch nicht.

"Ich gestatte dir deine letzten Worte, bevor du ihrer nicht mehr fähig bist!" zischte Lennys und verstärkte den Druck auf die Klinge. Gleichzeitig ahnte sie dunkel, dass etwas nicht stimmte. So widerstandslos ergab sich keiner, der sonst die Sichelländer mit einer Axt zu erschlagen pflegte. Und während der eine Arm des Unbekannten sich mühelos nach oben drücken ließ, machte die andere Hand noch nicht einmal den Versuch, die bedrohliche Waffe von sich fernzuhalten.

"Ich bin es." sagte die Gestalt plötzlich kaum vernehmbar mit sanfter, aber auch ein wenig angsterfüllter Stimme.

Saras Stimme.

Sofort ließ Lennys den Arm los und gleichzeitig ihren Säbel sinken. Dann fauchte sie wütend:

"Was zum Teufel treibst du hier? Ich war kurz davor, dich zu töten!" Lennys hielt immer noch den Griff der Waffe eng umschlossen, als glaubte sie, ihre Gegenüber würde sich vielleicht doch noch als der erwartete Feind entpuppen, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hielt Sara den Blick zu Boden gesenkt und sagte:

"Ihr hattet mir nicht verboten, nachts hinauszugehen."

Diese Antwort verblüffte Lennys derartig, dass sie am liebsten doch noch von ihrer Klinge Gebrauch gemacht hatte. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr Zorn langsam verrauchte.

"Nein, das habe ich in der Tat nicht. Aber erzähl mir nicht, du wärst zufällig hier – bei diesem Wetter. Du hast mir nachspioniert."

Die Novizin antwortete nicht.

Plötzlich war es wieder taghell, für den Bruchteil einer Sekunde hatte ein Blitz den Wald in weißes Licht getaucht. Lennys sah, dass auch Sara in ihrem Wollumhang bis auf die Haut durchnässt war und ihr leises Zittern war wohl nicht nur auf die eben ausgestandene Angst, sondern wahrscheinlich auch auf die Kälte zurückzuführen, die der Sturm mit sich brachte.

Die Lust auf eine Fortsetzung dieses nächtlichen Spaziergangs war der Cycala jetzt vergangen, zumal sie gerade sehr deutlich vor Augen geführt bekommen hatte, dass sie heute besser keine Risiken mehr eingehen sollte.

"Komm mit." sagte sie barsch und obwohl sie sich auf dem gesamten Rückweg zum Tempel nicht ein einziges Mal nach Sara umsah, so achtete sie doch darauf, dass die beinahe lautlosen Schritte hinter ihr nicht verstummten oder sich zu weit entfernten.

Die Sichelländerin konnte sich nur schwer davon abhalten, die Tür ihres Zimmers laut knallend ins Schloss fallen zu lassen. Ganz war ihr Ärger noch nicht abgeflaut und sie musste ihm irgendwie Luft machen. Da sie aber weder den ganzen Tempel aufwecken noch das Inventar des Schlafraumes zerschlagen wollte – so sehr ihr auch danach war -, nahm sie die Rumflasche, füllte einen Becher und trank ihn in einem Zug leer.

"Was hast du dir dabei gedacht?" fuhr sie Sara dann erneut an. "Wie zügellos muss deine Neugier sein, dass du mitten in der Nacht bei Gewitter und Sturm hinter mir herschleichst?"

"Ich war nicht neugierig." verteidigte sich Sara schwach.

"Ach? Die Alternative wäre, dass dich jemand geschickt hat und das macht die Sache nicht gerade besser für dich – und schon gar nicht für den, der dahintersteckt! Wer ist es? Menrir? Beema? Oder eine deiner vorlauten Freundinnen?"

"Niemand hat mich geschickt. Niemand wusste, dass ich hinausgehe."

Lennys atmete tief durch, doch noch immer kochte ihr Blut und sie wünschte sich sehnlichst, der Feind, den sie vor Kurzem noch vor sich zu haben glaubte, möge jetzt vor ihr erscheinen, um all ihre Wut spüren zu können. Selbstbeherrschung war nie ihre Stärke gewesen und in eben diesem Moment erkannte sie deutlich die Grenze dieser nicht besonders ausgeprägten Eigenschaft.

"Du wirst mir jetzt sagen, warum du dort draußen warst und wehe dir, du verschweigst etwas oder versuchst zu lügen." presste sie dann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Nicht einmal ein Wimpernschlag hat dich von dem sicheren Tod getrennt und im Augenblick bist du nicht sehr viel weiter davon entfernt."

Zum ersten Mal schaute Sara auf. Sie sah in Lennys' abweisendes, kühles Gesicht, dessen Züge aber gleichzeitig edel und anziehend wirkten. Wenn sie lachte, musste sie sicher viele Blicke auf sich ziehen, doch dazu kam es wohl nur selten. Die schwarzen Augen schienen wieder Funken zu sprühen und Sara fragte sich, ob es sonst etwas auf der Welt gab, das Eiseskälte und lodernde Glut so in sich vereinen konnte. Ohne den Blick abzuwenden, antwortete sie, diesmal jedoch nicht leise oder zurückhaltend, sondern direkt und sogar ein wenig selbstsicher.

"Zwei Tage lang hörte ich davon, dass Cycala im ganzen Land ermordet werden. Und dass manche Verbrechen sogar am hellichten Tage geschahen, dass ganze Familien auf einmal ausgelöscht wurden....." Sie stockte und fuhr dann etwas ruhiger fort. "Heute nacht seid ihr alleine in den Wald gegangen und niemand wusste davon. Niemand... hätte ... etwas tun können... wenn eure Feinde euch dort gefunden hätten."

Lennys lachte freudlos. "Willst du mir etwa erzählen, du wolltest auf mich aufpassen, kleines Mädchen?"

Sara sah wieder zu Boden und schüttelte den Kopf.

"Ich weiß nicht, was ich wollte. Ich bin euch eine Last und keine Hilfe und das ist mir wohl bewusst. Aber eines wollte ich ganz sicher nicht: Morgen erfahren, dass auch ihr ein Opfer dieser Verbrechen geworden seid."

"Ich brauche sicher keine halbwüchsigen Tempeldienerinnen, die mich beschützen. Vergiss nicht, wem du gegenüberstehst!" Doch noch während sie sprach, spürte Lennys, dass sie erneut ungerecht wurde. Sara hatte ihr helfen wollen, ohne zu wissen, wie sie das anstellen sollte. Sie hatte gewusst, dass sie selbst keine Chance gegen Angreifer haben würde und trotzdem hatte sie sich alleine nach draußen gewagt, nur, um es im schlimmsten Fall zumindest zu versuchen. Ohne die geringste Ahnung zu haben, in welche Gefahr sie sich dadurch begab. Wie konnte sie auch?

"Es ist nicht deine Aufgabe, auf meine Sicherheit zu achten, das tue ich lieber selbst." sagte Lennys dann etwas entspannter, auch wenn ihr Ärger noch nicht vollkommen verflogen war. "Und ich erwarte, dass du in Zukunft solche Alleingänge bleiben lässt. Genauso wenig wie ich ein Kindermädchen brauche, habe ich Lust, das deinige zu spielen, haben wir uns verstanden?"

Sara nickte, hob dann aber erneut den Kopf.

"Es tut mir leid."

Lennys zuckte die Achseln. Eine Entschuldigung bedeutete nichts, denn der Fehler war bereits geschehen.

"Es gibt sehr viele Dinge, die du nicht weißt. Halte dich aus ihnen heraus, wenn du an deinem Leben hängst."

"Darf ich .. etwas fragen?"

"Frag, aber erwarte keine Antwort."

"Ich würde gerne... etwas mehr über die Sage von Ash-Zaharr erfahren. Darf ich unseren Bibliothekar danach fragen?"

Lennys runzelte die Stirn. Natürlich konnte sie der Novizin schwer verbieten, im eigenen Tempelarchiv alte Schriften zu studieren und genauso natürlich wollte sie das nicht erlauben. Sie hätte Sara niemals diese Kette zeigen dürfen, denn anscheinend hatte die hierzulande kaum bekannte Legende die Neugier des Mädchens geweckt. Und das war das Allerletzte, was gut für sie war.

"Ich mag für diese Tage deine Herrin sein, aber ich werde mir nicht das Recht herausnehmen, über deine Ausbildung zu verfügen. Du wirst in eurer Bibliothek wohl nichts finden, was dich zufriedenstellt. Aber wenn du wissen möchtest, ob ich diese Suche gutheiße, dann heißt meine Antwort 'Nein'. Ich kann dich nicht zwingen, diesen Tag heute zu vergessen, aber ich täte es, wenn ich die Möglichkeit hätte."

"Ich dachte nur, es wäre einfach ein Märchen."

"Das ist es. Ein Märchen. Und es sollte in Vergessenheit geraten. Es war mein Fehler, dass ich das Interesse daran in dir geweckt habe."

Sara sah plötzlich sehr verlegen aus.

"Nicht nur ihr."

"Was meinst du damit?"

"Als Beema uns Novizinnen erzählte, dass eine Gesandte Cycalas hier im Tempel wohnen würde... da wurden plötzlich viele Geschichten erzählt. Über euer Land und die Menschen, die dort leben. Ich habe nie richtig zugehört, weil ich dachte, es wären ohnehin nur Gerüchte."

"Euer Tratsch interessiert mich nicht."

"Eine Novizin – Ilele war es – sagte, in Cycalas würde man den Schlangendämon anbeten und deshalb sei sie sehr überrascht, dass ihr ausgerechnet im Nebeltempel wohnen wollt."

Lennys dachte lange nach.

Ein weiterer Becher Rum folgte und sie ahnte, dass sie am nächsten Morgen dieses Gespräch bereuen würde. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Es war kein Geheimnis, sondern einfach nur eine im Mittelland unbekannte Tatsache. Eine Tatsache, die niemanden etwas anging, auch Sara nicht, zweifellos. Aber in diesem einen schwachen Moment, nach diesem unangenehmen Tag und dem misslungenen Abend, nach zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf, erschien es der Cycala plötzlich gar nicht so abwegig, darüber zu sprechen. Sie gebot Sara wortlos, sich zu setzen und wartete auch noch einige Minuten stumm ab, nachdem sie ihr Folge geleistet hatte.

Dann fing sie an:

"Die Mysterien unserer Tempel sind viel komplexer als die euren und unser Glaube gleicht nicht eurer Götterverehrung. Wir haben keine Götzenbilder, keine morgendlichen Zeremonien, keine Dankesopfer. Wir ehren und respektieren Kräfte und Mächte, die man nicht in klare Worte fassen kann. Wir heiligen das Blut in unseren Adern und den Fortbestand unserer Fähigkeiten. Doch das alles ist nur ein Teil dessen, was ihr unter Religion versteht. Denn es ist wahr, Ash-Zaharr bildet das Zentrum dessen, was wir unseren Glauben nennen. Und manche - in diesem Fall eine eher kleine Gruppe - dient ihm, indem sie einige seiner Eigenschaften übernehmen."

"Gehört ihr.....?"begann Sara, doch Lennys unterbrach sie mit einer Handbewegung.

"Ash-Zaharrs Legende ist älter als die Geschichte Mittellands und beinahe ebenso alt wie die des gesamten Kontinents. Seit Menschen hier leben und sich Märchen erzählen können, existiert die Sage und seit dieser Zeit gilt der Schlangendämon als der Überbringer des Todes. Fünf Geisterwesen beherrschten Sacua, so heißt es. Vier von ihnen waren gut und wohlgesonnen, sie schufen das Leben, das Land, das Licht, das Wasser, aber auch die Freuden und das Glück. Doch der fünfte war das Gleichgewicht, denn wo Leben ist, muß auch Tod sein und wo Licht ist, fällt auch Schatten. Der Tag bedingt die Nacht und der Frieden den Kampf. So war es immer und so wird es immer sein. Und er nannte sich Ash-Zaharr, der Dämon des Blutes und der Finsternis und er nahm das Leben und das Licht, denn nur was genommen wird, kann zurückgegeben werden. Viele kennen sein Bild als das der geflügelten Schlange, die das Blut aus der Kehle ihrer Opfer saugt und davon berauscht wird, denn dies sei seine tiefste Erfüllung. Verflucht wurde seine Gier, und doch ist er der einzige, der nie besiegt werden kann."

"Selbst nicht von den anderen Geistern?"

"Nein. Nicht einmal eine Armee von ihnen könnte den Tod besiegen. Wer kann das schon? Und wer will es? Doch die anderen waren Fünf und selbst Ash-Zaharrs Durst und Verlangen nach Blut, selbst die unübertroffene Macht der Finsternis – sie allein konnten nicht das Gleichgewicht herstellen, dass das Leben benötigt. Und so ... nahm er sich Diener."

"Diener?"

"Menschen, die ihn verehrten. Menschen, die seine wahre Macht und Bedeutung erkannten. Menschen, die es ihm gleichtaten und Unrecht rechtmäßig straften und nicht nur mit Worten kämpften, sondern mit Taten. Und sie wurden ihm nie untreu, sie verleugneten ihn nicht und erwiesen sich nie als unwürdig. Bis heute nicht."

"Die Cycala?"

"Wie gesagt, nur wenige von uns dienen diesem Kult auf dem althergebrachten Weg. Aber ganz Sichelland respektiert den Blutdämon, wenn auch nur eine kleine Gruppe die alten Riten vollzieht. Nicht so im Mittelland. Hier ist er verhasst, er ist der Teufel und der Gefürchtete. Der, den es zu besiegen und zu verdammen gilt. Sein Bild ist das Zeichen der Verfluchten und sein Name ist der Inbegriff von Abscheu und Hass."

Bei diesen Worten fielen Sara die alten Zurechtweisungen ein, die sie schon als kleines Kind gehört hatte.

"Wenn du ungehorsam bist, holt dich der Schlangendämon zu sich.."

Lennys verzog angewidert das Gesicht.

"Ja, für die Mittelländer und auch die Manatarier ist er einfach nur der Abschaum, dessen Reich als die größte Strafe gilt. Aber wie ich heute feststellen musste, fruchtet diese Art von Erziehung bei euch nicht sonderlich."

"Ist das der Grund.... für den Großen Krieg gewesen? Dass manche in Cycalas....Ash-Zaharr verehren?" fragte Sara jetzt vorsichtig.

"Wer braucht schon einen Grund, wenn er Krieg führen will? Man findet immer einen. Und was geschehen ist, ist geschehen. Gejagt wurden damals alle aus dem Sichelland, und keiner wurde gefragt, wem er die höchste Ehre erweist. Was spielt es noch für eine Rolle, wenn ein kleiner, unbedeutender Kult betrieben wird? Glaubst du wirklich, eine .... Sekte.... könne durch ihren Ruf ein ganzes Land zu Fall bringen?"

Lennys wurde lauter. Seit dem Morgen auf der Schildkrautlichtung hatte etwas in ihr gebrannt und war mit jeder Minute stärker geworden. Sie war es nicht gewohnt, sich über lange Zeit beherrschen zu müssen, sei es mit Worten oder mit Taten. Und nun schien die Grenze des Erträglichen schon zum Greifen nah.

"Eine Bande von Fanatikern, sollen sie oben in den Wäldern Cycalas' doch treiben, was sie wollen, denkst du, das beeindruckt irgendjemanden? Die Menschen sehen, was sie sehen wollen und wenn sie der Meinung sind, sie bräuchten einen Grund, zum Schlag gegen uns auszuholen, dann gibt es wohl Naheliegenderes als eine abartige Religion!"

Sara erschrak. Bis eben noch hatte Lennys eher respektvoll, beinahe schon ehrerbietig von den Dämonenanhängern gesprochen, doch jetzt nannte sie sie abartige Fanatiker, die keinerlei Bedeutung für das große Reich im Norden hatten. Und doch hatte sie einen Anhänger der geflügelten Schlange bei sich gehabt.

'Aber sie hat ihn nicht selbst getragen.' rief sich die Novizin ins Gedächtnis. 'Und sie hat ihn weggeworfen, in diesen unheimlichen Brunnen...'

"Da fallen sie nieder, die Cycala, aus Bewunderung für die, die sich einem alten Glauben verschrieben haben!" fluchte Lennys weiter. "Einen toten Glauben! Wem hat das Erbe Ash-Zaharrs je genützt? Es war immer nur eine Illusion, doch die dummen Menschen dort oben, sie sind stolz auf die Tradition und auf die Treue dieser Träumer, die nie die Welt so gesehen haben, wie sie wirklich ist! Verlogen und feige die einen, ignorant und naiv die anderen! Bald wird sich niemand mehr an den Blutdämon erinnern und dennoch wird die Sonne auf- und untergehen! Er wird vergessen sein und niemand wird dadurch besser oder schlechter dran sein! So bedeutungslos für alle und trotzdem halten sie daran fest, als würde ihr Leben von diesen Hirngespinsten abhängen! Hier nennt man sie die Verfluchten und die Dämonenbrut, und genau das sind sie, ja! So wie jeder, der sich in die Seelensklaverei dieser Tempel begibt, wie jeder, der nicht das sieht, was wirklich ist!"

"Bitte...." Sara stand auf und trat auf die Cycala zu, deren Zorn jetzt endgültig aus ihr herauszubrechen drohte. "Bitte... man wird euch hören...."

"Und? Willst du mich etwa zur Ruhe mahnen? Erträgt dieser heilige Ort die Wahrheit nicht?" schrie Lennys zurück.

"Doch... ich meine... nein....bitte Herrin, sie werden alle aufwachen..."

In diesem Moment packte Lennys Sara am Kragen und zog sie so dicht an sich, dass die Novizin das Spiegelbild ihrer eigenen grünblauen Augen in den schwarzen Lennys' erkennen konnte.

"Nenn .. mich .. nicht .. Herrin!" fauchte diese und ließ Sara im gleichen Moment wieder ruckartig los.

"Verschwinde." sagte sie dann mit einer so unerwartet plötzlichen Ruhe, dass Sara glaubte, dies sei die letzte stille Sekunde vor einem alles zerstörenden Vulkanausbruch.

Vollkommen verwirrt von den letzten Minuten und von der so unberechenbaren Reaktion ihrer Herrin ging sie zur Tür und war schon beinahe erleichtert, als diese schützend hinter ihr zufiel. Ratlos blieb sie auf dem Gang stehen und wartete, doch niemand rief sie zurück und Lennys schien auch nicht ihre Wut am Mobiliar des Zimmers auszulassen. Es herrschte Totenstille.

Nach einer guten Stunde ereignislosen Wartens beschloss Sara, ins Bett zu gehen. Es war ohnehin schon sehr spät und sie erwartete auch nicht ernsthaft, in dieser Nacht noch einmal gebraucht zu werden. Aus dem Schlafraum war kein Laut zu hören und vielleicht hatte Lennys sich schon längst hingelegt. Und selbst, wenn nicht – es war sicher besser, ihr heute nicht mehr unter die Augen zu kommen.

Als Sara am nächsten Morgen wieder an Lennys' Tür klopfte, war sie etwas nervös und das immer noch recht ärgerlich klingende „Komm rein“ beruhigte sie nicht gerade.

„Die Sonne ist bereits vor über einer Stunde aufgegangen. Ich wollte eigentlich um diese Zeit schon längst weg sein, wo warst du?“ blaffte Lennys sie an. Man sah ihr nicht an, dass sie nur wenig geschlafen hatte und auch nicht, dass sie am Abend zuvor eine halbe Flasche Rum getrunken hatte. Selbst die schlechte Laune in ihren Zügen war kein ungewöhnlicher Anblick und Sara fragte sich, ob es überhaupt eine zufriedenstellende Antwort auf Lennys' Frage gab.

„Ich wusste nicht, dass ihr mich schon so zeitig erwartet. Es war spät gestern und ich wollte euch auch nicht wecken.“

„Dann wisse ab jetzt, dass Cycala nicht so viel Schlaf brauchen wie ihr. Wir kommen mit wenigen Stunden Ruhe aus. Versuche nicht, es mir gleich zu tun, du wärst nach drei Tagen vollkommen übermüdet. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn du zeitiger gekommen wärst. Ist Beema schon wach?“

„Nein. Sie nimmt nur selten am Morgengebet teil und steht meist erst auf, wenn die Zeremonie beendet ist.“

„Sehr vorbildlich.“ erwiderte Lennys ironisch und griff dann nach ihrem Umhang. „Dann sollten wir jetzt aber keine Zeit verlieren und gehen, bevor sie mich noch in die Hände bekommt. Zieh dich um, wir treffen uns draußen.“

Sara freute sich, dass sie trotz des Zwischenfalls am Vorabend wieder mitkommen durfte, auch wenn sie noch nicht wusste, welche Überraschungen dieser Tag für sie bereithielt. Sie schwor sich aber, es nicht noch einmal zu einer solch gefährlichen und vielleicht sogar provokanten Situation wie gestern kommen zu lassen.

Eine halbe Stunde später hatten sie den Tempel schon hinter sich gelassen und waren in einen steinigen Pfad eingebogen, der hinauf zum Gebirge führte. Die Bergkette Valahir lief direkt hinter dem Nebeltempel aus und ein vergleichsweise kurzer Marsch von zwei bis drei Stunden führte trittsichere Wanderer schon in die Nähe der ersten kleinen Gipfel.

Der Weg war von dichtem Wildbel und den kleinen gelben Blüten der Feldauke gesäumt und immer wieder schützten hohe Kiefern und Tannen vor den glühenden Sonnenstrahlen, die auch heute wieder gnadenlos vom Himmel brannten. Vom Gewitter des Vortages waren nur noch wenige Spuren zu sehen, einige abgerissene Äste, halb versickerte Pfützen und hier und da ein umgestürzter alter Baum, doch all das waren Bilder, die sich hier regelmäßig boten. Das Gebiet um Valahir und den Nebeltempel war solche Unwetter gewöhnt und da ihnen meist ein umso schönerer Sonnentag folgte, störte sich niemand daran. Auch das Gezwitscher der Vögel, das leise Zirpen von Grillen und anderen Insekten und das sanfte Rauschen des Sommerwindes in den Baumkronen verliehen dem Land eine Unschuld, die es noch wenige Stunden zuvor gänzlich verloren hatte.

Sie erreichten die ersten steileren Hügel, aus denen gelegentlich schon Felsnasen hervorbrachen. Feldauken blühten hier immer seltener, stattdessen mengten sich Disteln und grobe Ranken dornigen, wuchernden Unkrauts in das immer stoppeliger werdende Gras. Die Vegetation passte sich der Landschaft an – wilder, robuster und unwirtlicher wurde sie und schien jeden zu warnen, der tiefer ins Gebirge vordringen wollte.

An einer Gruppe besonders verwittert aussehender Kiefern machte Lennys Halt und füllte ihre Wasserflasche an einem dünnen Rinnsal, das zwischen den Felsen hindurchplätscherte.

„Wir werden heute nachmittag Menrir treffen.“ sagte die Cycala dann. „Ich kann nicht mehr ändern, dass ich dir gestern einiges erzählt habe, was dich nichts angeht. Aber auch wenn Menrir davon weiß, erlaube ich nicht, dass ihr das Thema auf den Tisch bringt, auch nicht, wenn ihr beiden allein seid.“

Sara wusste darauf nichts zu sagen. Ihr war ohnehin schon klar gewesen, dass Lennys in einer normalen und vor allen Dingen nüchternen Gemütslage nicht so freizügig gesprochen hätte, wie es gestern der Fall gewesen war und sie hatte auch nicht die Absicht gehabt, mit irgendjemandem darüber zu sprechen – auch nicht mit dem Heiler.

„Eigentlich hatte ich nicht vor, dich noch einmal irgendwohin mitzunehmen,...“ fuhr Lennys jetzt fort. „Aber wer weiß, was du sonst wieder anstellst. Außerdem ist es möglich, dass ich dich später noch brauche, das wird sich zeigen. Falls nicht, hoffe ich, dass du zumindest keine allzu große Behinderung bist.“ Sie nickte in Richtung Valahir. „Warst du schon dort?“

„Ja, schon häufig. Aber nie bis ganz hinauf, nur etwa eine Tagesreise weit.“

„Weiter gehen wir heute auch nicht. Ich erwarte, dass diese Strecke dir keine Probleme macht, sonst lasse ich dich gleich hier zurück.“

„Ich komme gut zurecht.“

„Hauptsache, du hältst das Tempo.“

Sara zögerte einen Moment, dann fragte sie aber doch:

„Gibt es... etwas, worauf ich achten sollte? Ich meine, irgendwelche Spuren oder....“

„Nein. Ich bin heute aus anderen Gründen hier. Solltest du wider Erwarten etwas sehen, was dir ungewöhnlich erscheint, sag es trotzdem. Man weiß nie, wer sich hier so herumtreibt.“

„Ich habe hier noch nie jemanden getroffen, außer ein paar Abenteurern, die sich an den höheren Gipfeln versuchen wollten.“

„Die Zeiten ändern sich. Und Zrundir ist nicht weit.“

Lennys bemerkte Saras erstaunten Gesichtsausdruck. „Was ist? Hast du etwa noch nie von Zrundir gehört?“

„Doch, natürlich. Aber ... ich dachte immer, es wäre nur ein totes Stück Land hinter den Bergen. In den Dörfern erzählt man zwar von bösen Kreaturen, die dort leben, aber ich hielt das immer für ein....“

„Märchen. Ein ähnliches Thema hatten wir bereits, wenn ich mich richtig erinnere. Nur in diesem Fall ist die Wirklichkeit näher als du glaubst. Halt dich fern von diesem Land und momentan besser auch von Valahir. Hier an den Ausläufern sollte noch keine Gefahr drohen, aber wir sollten sie auch nicht zu sehr herausfordern. Bist du soweit? Wir haben genug geredet und ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.“

Sie machten sich wieder auf den Weg und wandten sich nach Nordosten ins Gebirge hinein und bald folgten den holprigen Steigungen keine sanften Senken mehr. Von dem ausgetretenen Pfad war jetzt nichts mehr zusehen, nur dann und wann schien der Rankenbewuchs des felsigen Bodens etwas weniger dicht zu sein. Nach einer Biegung um die Steilwand eines spärlich bewachsenen Hügels herum standen sie dann urplötzlich im Felsland Valahirs. Nur wenige robuste Kräuter wucherten noch zwischen den Steinen hervor und das staubig-gelbliche Grau der Felsen dominierte die Landschaft beinahe ins Unerträgliche. Hier vermischten sich die kühlen Berge mit der Wüste im Osten, hier traf die leblose Einöde auf ein Schauspiel natürlicher Macht. Niemand hätte sich freiwillig allein in diese Gegend gewagt, denn ein harmloser Stolperunfall konnte hier zur Todesfalle werden, wenn niemand Hilfe holte. Wanderer gab es nur selten und die wenigen, die Sara jemals getroffen hatte, kamen zumeist im Frühling und bevorzugten dann die westliche Seite des Steilaufgangs. Hier jedoch schien alles tot und abweisend. Seit der Erfrischung an dem Rinnsal unter den Kiefern schien eine Ewigkeit vergangen.

„Es gibt hier nur wenig Wasser. Die nächste Quelle erreichen wir erst in etwa einer Stunde. Mein Ziel liegt ganz in ihrer Nähe, es ist also nicht mehr weit. Hast du noch zu trinken?“

„Ja, ein wenig. Es wird reichen.“

„Das sollte es auch. Der Aufstieg ist bei dieser Hitze schnell anstrengend für Ungeübte. Und ich muss zugeben, dass ich kein Freund der Sonne bin. Wir sollten es schnell hinter uns bringen.“

Sara hätte nie geglaubt, dass eine Stunde so quälend lang sein konnte, doch es war nicht der Durst, der auf ihr lastete. Auch nicht die Hitze und ebensowenig der Staub oder der immer beschwerlichere Weg durch die Berge. Vielmehr spürte sie, dass etwas Unheimliches über der Gegend schwebte, gerade als ob die bizarren Formen der Felsen ihnen mit stummer Geste zu verstehen gaben, sie mögen umkehren und Valahir für immer den Rücken kehren. Nein, sie waren hier nicht willkommen, obwohl es nichts gab, was sie direkt bedrohte. Aber dies war nicht das freundliche, wilde und doch umschmeichelnde Bergland, dass die Novizin von ihren Ausflügen her kannte. Hier gab es keine Grasnarben, keine springenden Ziegen, keine Vögel und keine duftenden Pflanzen. Nur einige dicke schwarze Käfer und hin und wieder das entfernte Zischen einer fliehenden Schlange .. und die zähen Findlingswurzeln, die unter ihren Namensgebern hervorbrachen. Das war alles an Leben und es schien ihnen nicht wohlgesonnen.

„Es gefällt dir hier nicht?“ fragte Lennys als sie Saras angespannten Blick bemerkte.

„Nein. Aber das spielt keine Rolle.“

„Mir auch nicht. Ich hasse diese Gegend. Aber wir können bald umkehren.“ Sie deutete auf eine Art Plateau, hinter dem zahlreiche Felsnadeln wie ein versteinerter Wald aufragten. „Dort hinten. Es dauert nicht mehr lange.“

Erst als sie die Stelle erreichten, erkannte Sara, dass es nicht viele einzelne Blöcke waren, die hier dicht zusammenstanden, sondern eher eine von Spalten und Furchen durchzogene Wand, als hätte ein Riese mit stählernen Klauen hier gewütet. Eine Spielerei der Natur womöglich, doch es wirkte seltsam fehl am Platz, obwohl das Land auch sonst nur aus Chaos und Wüstenei zu bestehen schien.

Eine der Spalten war besonders breit und gerade als Sara überlegte, wie sie wohl entstanden war, sah sie Lennys darin verschwinden. Der Durchlass war gerade breit genug für einen nicht allzu kräftig gebauten Menschen und als Sara Lennys nervös folgte, erkannte sie, dass es sich um einen ausgesprochen gut getarnten Eingang zu einer Höhle handelte. Eine eher kleine Höhle, vielleicht gerade einmal so groß wie die Kräuterküche im Nebeltempel und beinahe ebenso niedrig. Ein merkwürdig gurgelndes Geräusch in einer düsteren Ecke verriet, dass dort die von Lennys beschriebene Quelle aus dem Berg sprang. Leise murmelnd verschwand der dünne Wasserlauf in einer weiteren tiefen Bodenfurche.

Der enge Durchlass nach draußen ließ nur wenig Tageslicht herein. Nach der erhitzenden Wanderung empfand Sara die plötzliche Kühle und Dunkelheit als angenehm, doch schon bald begann sie ein wenig zu frösteln.

Lennys ging langsam an der Höhlenwand entlang. Sie musterte jeden Quadratzentimeter des Gesteins, tastete über Spalten und Risse und blieb manchmal sogar stehen, nur um eine auffällige Stelle besonders genau zu begutachten.

Unterdessen setzte sich Sara auf einen scharfkantigen Steinblock, der nahe des Eingangs lag, um doch ein wenig von der Wärme draußen abzubekommen, ohne dabei den Raum noch weiter zu verdunkeln. Sie nahm einen letzten Schluck abgestandenen Wassers aus ihrer abgeschrammten Flasche, wollte sie aber erst erneut füllen, wenn sie sich wieder auf den Rückweg machten.

„Ich habe ein wenig Öl dabei und könnte euch damit eine Fackel machen.“ bot sie dann an.

Lennys schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig und verpestet nur die Luft. So rein wie hier ist sie wohl im ganzen Gebirge nicht. Die Feuchtigkeit der Quelle bindet den Staub und diese abscheuliche Hitze ist ebenfalls nach draußen verbannt. So soll es auch bleiben.“

Nach einer Weile blieb die Cycala wieder stehen, diesmal aber nicht suchend, sondern eher, als würde sie vor einem besonders schweren Schritt kurz durchatmen. Dann schob sie ihren Arm in ein Felsloch, das Sara in der Finsternis noch nicht einmal erahnen konnte. Sie zog etwas hervor, was die Novizin ebenfalls nicht zu erkennen vermochte und ließ es in die Tasche ihres Umhangs gleiten.

„Irgendwann...“ sagte sie leise und mit einem Hauch Überheblichkeit, „kehrt alles nach Hause zurück. Sollen sie hier nun die passende Antwort finden, aber nicht das, was sie erhofften. Niemand....“, ihre Stimme wurde einem Zischen, „... niemand wird ihn mir je wieder nehmen.“ Dabei lächelte sie nicht und ihre Bewegungen waren immer noch gemessen und zugleich kraftvoll, nicht enthusiastisch oder übermütig. Doch ihre Züge schienen ein wenig entspannter und die schwarzen Augen funkelten nicht mehr gefählich, sondern schienen seltsam sanft zu leuchten. War ihr Auftreten schon von Beginn an arrogant und ein wenig herrisch gewesen, so konnte sie ihre Selbstsicherheit nun kaum mehr verbergen.

Sara gab sich nicht dem Irrglauben hin, dass diese Worte für sie bestimmt waren. Zweifellos war Lennys hierhergekommen, um genau das zu suchen und zu finden, was sie nun verborgen unter ihrem Umhang trug und die Novizin war beinahe erleichtert, nicht zu wissen, worum es sich dabei handelte. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob es vielleicht eine Waffe war... oder eine Trophäe.... ein Schatz... oder ein schreckliches Geheimnis... .

'Es geht mich nichts an.' dachte sie zum hundertsten Mal an diesem Tag. 'Sie weiß, was sie tut und ich bin nur hier, um ihr zu dienen.'

„Wir gehen.“ Lennys klang wieder genau wie sonst, als wäre nichts geschehen, dass ihre Gemütslage auch nur um einen Wimpernschlag verändert hätte. Sie winkte Sara zu der Quelle, die tatsächlich aus etwa einem Meter Höhe aus dem Fels sprudelte und dann in der Unterwelt versickerte. Kaum hatten beide ihre Flaschen gefüllt, eilte die Cycala schon hinaus, als wolle sie diesen Ort wieder so schnell wie möglich verlassen.

Es war Mittag geworden. Gnadenlos versengte die Hitze das Land und Sara freute sich, als sie sich schneller als erwartet wieder dem winzigen Bach bei den Kiefern näherten. Bald würde das Gelände wieder vertrauter und grüner werden. Und nicht mehr lange, dann würde sogar der Nebeltempel in weiter Ferne am Horizont zu sehen sein...

„Wir werden uns hier trennen.“ stellte Lennys fest. „Ich möchte, dass du zum Tempel gehst und Menrir aufsuchst. Sag ihm, ich warte am Waldrand auf ihn, nordwestlich des Tempels. Dort, wo er so gern Pilze sammelt. Ich habe keine Lust, jetzt Beema in die Arme zu laufen, ich gehe lieber direkt dorthin. Findest du den Weg allein?“

„Ja.“

„Gut. Du kannst noch Pause machen, wenn du es nötig hast, aber warte nicht zu lange. Ich werde ohnehin vor euch da sein.“

Ohne ein weiteres Wort des Abschieds ließ sie Sara unter den düsteren Bäumen zurück und wandte sich in die westliche Richtung dem Drei-Morgen-Wald zu, der am Horizont dunkelgrün schimmerte.

Es war ein Umweg, doch Lennys nahm ihn gern in Kauf. Der Tempel war ihr zuwider und sie war froh, seinem Anblick noch eine Weile zu entgehen. Außerdem konnte sie so das Tempo anziehen und ein wenig von dem abbauen, was sich in ihr aufwallte.

Sie brannte auf eine ruhige Minute im Schatten der Bäume, auf einen unbeobachteten Moment, in dem sie sich den Triumph noch einmal vor Augen führen konnte, den sie eben erlebt hatte. Lächelnd ließ sie ihre Hand über den Umhang gleiten, bis sie den harten Gegenstand spürte, den sie vorhin in der Finsternis der Höhle rasch verborgen hatte. Er war da. Er war immer noch dagewesen. Niemand hätte ihn dort finden können, niemand wusste davon. Und doch... zu viel war geschehen um ganz sicher zu sein, zu viele Dinge, die einer Erklärung bedurften. Zu viele Geheimnisse, die an den Falschen geraten waren. Doch nicht dieses eine. Und falls doch.... dann würden sie zu spät kommen, würden nichts mehr finden. Wie ein erstes Omen der blutigen Niederlage, der sie entgegenrannten. Sie beschleunigte ihren Schritt.

'Ihr wusstet nicht, wo er ist. Was hättet ihr mit ihm getan, wenn ihr ihn gefunden hättet? Ich hätte ihn nie aus der Hand geben dürfen, niemals. Ein unverzeihlicher Fehler. Nur ein einziger hätte ihn finden und zurückbringen können, doch sein Wissen war nur vage und sein Wille stand dem meinen entgegen. Gleich wird er erkennen, dass ich mich von niemandem beherrschen lasse....'

Kein Zorn loderte in ihr wie sonst, nur Genugtuung und ein Gefühl der Erhabenheit. Doch gleichzeitig ahnte sie, dass mit diesem Sieg, den nur sie kannte, noch etwas Anderes in ihr zurückgekehrt war. Etwas, das sie ebenso begraben hatte wie die Erinnerungen an die Schildkrautlichtung, etwas, dessen Bekämpfung vielleicht noch schmerzhafter gewesen war. Und nun kam es zurück, langsam, schleichend, doch unaufhaltsam. Ein Verlangen, das bald in jeder Ader pulsieren würde, das sich in ihr ausbreiteten würde und sie dann ganz erfüllte... und diesmal würde sie nicht dulden, dass man es zügelte.

'Nur ein wenig noch...' dachte sie weiter. 'So lange hast du in mir geschlafen, also erwache nicht zu schnell. Die Belohnung, der rechtmäßige Preis, wird kommen, wenn die Zeit reif ist. Wie lange hast du mich gefoltert, wie lange gequält und mich beherrscht... was bedeutet nun noch diese kurze Zeit,....du wirst willkommen sein... Verlangen...'

Der Drei-Morgen-Wald roch noch immer nach feuchter Erde und nassem Laub, die Sonne hatte hier noch nicht alle Spuren der letzten Nacht verwischen können. Unter einer hohen Eiche nahe des Waldrands fand Lennys jedoch eine trockene, moosbewachsene Stelle, auf der sie sich niederließ. Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bis Menrir hier ankam, denn nicht nur seine Gelenkigkeit, sondern auch seine Ausdauer litten zunehmend unter dem Alter. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie nicht gesagt hatte, der Heiler solle allein hierher kommen. Wenn Sara ihn begleitete, würde sie noch mehr erfahren als ohnehin schon. Weniger als der Gedanke daran beunruhigte Lennys jedoch die Tatsache, dass sie sich zunehmend an die Novizin gewöhnte. Normalerweise wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, irgendjemanden mit in diese Höhle zu nehmen. Oder auf diese Lichtung. Was um alles in der Welt war nur in sie gefahren? Doch war es nicht auch gut gewesen, dass sie sich eine Begleitung gewählt hatte? Was wäre denn gewesen, wenn sie ganz allein in diesen Brunnen gestarrt hätte – kein Mensch weit und breit, der sie, wenn auch noch so lose und kaum wahrnehmbar, an einer hauchdünnen Kette in der Realität, im Hier und Jetzt hielt. Was wäre geschehen, wenn sie unbeobachtet und ungehört heute diesen wichtigen Moment hätte erleben dürfen? Sie hatte sich unter Kontrolle gehabt, weil sie musste. Sara war wie eine Grenze, die sie nicht überschreiten durfte, wie ein schwebendes Beil der Vernunft über ihr, das zuschlug, wenn sie zu weit ging. Natürlich, das Mädchen hätte alles stillschweigend hingenommen, hätte die Geheimnisse wohl mit ins Grab genommen und sich jeglicher Wertung und jeglichen Urteils enthalten. Doch ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen, tat Sara etwas, was Lennys allein nicht immer so gelang, wie es nötig war. Sie zügelte und bremste das Temperament der Cycala. Bis zu einem gewissen Punkt. Dieser war gestern abend natürlich überschritten worden und Lennys wusste ganz genau, dass es in Zukunft Situationen geben würde, in denen nicht einmal Sara verhindern konnte, dass sie die Beherrschung verlor. Aber selbst wenn sie es könnte,... sie würde dann schon nicht mehr da sein. War das nicht auch besser? Oder spielte es überhaupt eine Rolle? War diese einfache Novizin es überhaupt wert, sich über sie Gedanken zu machen? Nein, natürlich nicht. Sie war in zwei sehr wichtigen Momenten anwesend gewesen, in einem Augenblick des Sieges, und in einem anderen... Niemals hätte Lennys es Niederlage genannt.

'Ich unterliege nicht. Nie.'

Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass Sara nichts anderes war als das Publikum. Das Publikum, dem man einen Triumph offenbaren konnte, das davon Kenntnis nahm. Das Publikum, vor dem man seine wahren Stärken verbarg, um es hinzuhalten, um es neugierig zu machen. Und das Publikum, vor dem man nicht verlieren wollte. Es hatte kein Gesicht, keinen Namen. Ein Beobachter, der vielleicht wertete und dessen Wertung zugleich unwichtig war. Der Anreiz allein zählte. Denn ein Spiel, ein Kampf,.. war doch reizlos ohne Zuschauer....

Ferne Stimmen rissen Lennys aus ihren Gedanken. Sie waren unverwechselbar.

„....und mit etwas Glück und natürlich viel Fleiß wirst du diesen Herbst vielleicht schon in die nächste Klasse aufsteigen. Glaub mir Sara, du wirst einmal eine wirkliche gute Heilerin, nicht jeder hat so viel Talent....“

„Ich mache noch zu viele Fehler, Menrir. Vielleicht sollte ich noch ein Jahr warten mit der Prüfung, dann wäre ich mir viel sicherer....“

„Aber das wäre doch reine Zeitverschwendung, Kind, glaub mir. Und Beema könnte auch nicht mehr so viel auf dir herumhacken, wenn du eine Stufe höher gestellt bist. Du dürftest dann sogar alleine nach Goriol gehen, ohne eine Vorsteherin, die auf dich achtgibt. Allein dafür lohnt doch schon der Versuch. Und ich bin sicher, du würdest die Prüfung mit Leichtigkeit bestehen, wenn du nur willst....“

„Ich weiß einfach nicht, ob es das Richtige ist. Und im Moment möchte ich auch gar nicht darüber nachdenken. Ich habe eine andere Aufgabe zu erfüllen und die geht vor. Um Kräuter und Tränke kann ich mich danach auch noch bemühen...“

„Wenn du sie von ihren Pflichten abhältst, alter Mann, dann bekommst du es mit mir zu tun!“ Lennys war aufgestanden.

Menrir grinste sie durch die Bäume an. „Keineswegs, ich denke nur auch an ihre Zukunft. Und diese ist gar nicht so weit entfernt.“

„Aber sie steht auch noch nicht heute auf ihrer Tagesordnung, also lass das. Du warst übrigens schnell.“

„Oh, danke, welch seltenes Lob. Nun, mit einer so netten Gesellschafterin geht es sich gleich viel leichter.“

„Dann ist ja für deinen Rückweg bereits gesorgt. Ich werde heute nicht mehr in den Tempel kommen, deshalb habe ich dich auch hierher bestellt.“

„Du übernachtest doch nicht etwa hier im Wald?“ fragte Menrir ungläubig.

„Nein, wobei mir das in der Tat am liebsten wäre. Ich gehe nach Goriol, um mit Akosh zu reden und werde bis morgen dort bleiben. Aber ich dachte, du wärst beleidigt, wenn ich dich heute nicht noch einmal sprechen würde.“

Misstrauisch runzelte der Heiler die Stirn. „Du scheinst mir ungewöhnlich gut gelaunt heute. Natürlich wäre ich nicht beleidigt gewesen, aber es ist schön, dass du mich noch einmal treffen wolltest. Darf ich fragen, ob du... irgendetwas Neues erfahren hast?“

Lennys tat gelangweilt.

„Nein. Ich war auch nirgends, wo es etwas Neues geben könnte.“

„Was willst du damit sagen?“

„Sara und ich haben heute einen kleinen Ausflug gemacht. Sie hat dir also nichts davon erzählt?“ Sie warf einen Seitenblick auf die Novizin, die einige Meter entfernt schweigend wartete und sich nicht anmerken ließ, ob sie dem Gespräch folgte.

„Lennys, du weißt genau, dass sie mir kein Wort von dem erzählt, was sie mit dir erlebt. Auch heute nicht. Willst du mir sagen, wo ihr ward? Oder warum du mich ausgerechnet hierher bestellt hast?“

„Ich dachte, du magst diese Stelle und mir persönlich ist der Wald auch lieber als das Ödland von Valahir. Ich war froh, es wieder hinter mir zu lassen.“

Die Farbe wich aus Menrirs Gesicht und er schien einen Moment lang sprachlos. Dann presste er hervor:

„Du warst in Valahir?“

„Nur in den Ausläufern.“

„Du warst nicht... nein.... wo... was hast du dort gemacht?“ stammelte der Heiler.

„Muss ich dir das wirklich erklären? Es gab da etwas, was mir gehört.“

Menrir rang um Luft, stützte sich dann gegen den Stamm einer Buche und starrte Lennys entsetzt an.

„Es gab? Aber .. du hast ihn doch nicht etwa... mitgenommen?“

„Was glaubst du? Dass ich dorthin gehe, nur um nachzusehen, ob er noch da ist? Er gehört mir, Menrir, .... mir! Und er war lange genug dort gelegen, verborgen, aber nie vergessen!“

„Er sollte aber vergessen werden! Er wurde nicht ohne Grund dort zurückgelassen und gerade jetzt... gerade jetzt... das hättest du nicht tun dürfen, Lennys!“

Die Cycala sprang auf, doch sie schien nicht im Mindesten verärgert über die Zurechtweisung.

„Hätte ich nicht, nein? Wer sagt das? Es ist allein meine Entscheidung! Viel zu lange hat er dort auf mich gewartet und ich auf ihn! Es ist an der Zeit, alter Mann, doch du siehst das nicht!“

„Du weißt genau, was du damit in Gang bringst! Du wirst ihn nicht nur unschuldig im Umhang verbergen und er wird dich rufen, wo immer du bist! Und nicht nur dich! Ist dir nicht klar, was geschehen wird?“

„Vielleicht ist es dir noch nicht klar. Du kannst es nicht verhindern. Niemand, hörst du, niemand wird es verhindern, es war nur eine Frage der Zeit. Akzeptiere es.“

Sie sprach ganz ruhig. Menrir hatte genauso reagiert, wie sie es erwartet hatte, doch es spielte keine Rolle. Er konnte nicht verstehen und er musste es auch nicht. Dass er überhaupt davon wusste, war schon mehr Ehre als den Meisten zuteil wurde und noch hatte er Zeit, sich mit diesem Wissen abzufinden. Wenn er das nicht tat, war es sein Problem.

„Wann....?“ fragte er jetzt.

„Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Nicht heute, wohl auch nicht morgen. Aber nicht mehr lange, Menrir... nicht mehr lange... Ein kurzes Warten, was ist das schon im Vergleich zu der Zeit, die schon vergangen ist? Aber sie geht dem Ende zu, schnell und unaufhaltsam. Sehr bald, Heiler....“

Es bestand gar keinen Zweifel daran, dass Lennys diesen Moment, was auch immer dann geschehen mochte, auf ihre Art herbeisehnte. Und ebenso wenig konnte man bestreiten, dass Menrir genau das Gegenteil dachte. Er schien etwas zu fürchten und gleichzeitig zu wissen, dass sein Wille hier unbedeutend und machtlos war. Also versuchte er, das Thema zu wechseln.

„Du willst... jetzt zu Akosh?“

„Nicht sofort. Erst wenn die Sonne etwas tiefer steht. Ich habe heute genug von ihr und bleibe lieber im Schatten des Waldes.“

„Du willst nicht, dass wir....“ Er nickte zu Sara hinüber, die immer noch nahe der Buche stand, „..dass wir mit dir mitkommen nach Goriol, nehme ich an?“

„Ehrlich gesagt, ist es mir egal. Wenn ihr in die Stadt wollt, werde ich es nicht verbieten. Aber das Treffen mit Akosh wird unter vier Augen stattfinden, nicht unter sechs oder acht.“

„Und morgen? Wirst du morgen zum Tempel zurückgehen?“

„Vielleicht. Unsere Sachen sind noch dort.“

„Das heißt, du willst bald weiterziehen?“

Ein gefährliches Glitzern erfüllte Lennys' Blick.

„Manche Dinge, die auf mich warten, werde ich nicht im Nebeltempel oder seiner Umgebung finden. Jetzt noch nicht. Und ich brenne auf sie...“

„Wir wissen noch zu wenig.“

„Ich weiß genug, aber sei beruhigt, es wird bald noch mehr Zeichen geben, die auch dich überzeugen werden. Und vergiss nicht... du musst nicht mitkommen. Wenn du dein Leben hier weiterhin in Ruhe genießen willst, tu es.“

„Du weißt genau, dass ich mit dir gehe. Aber ich weiß noch nicht, wie weit. Heute kommen mir zum ersten Mal Zweifel. Trotzdem.. darf ich dich etwas fragen?“

„Seit wann so förmlich?“

„Ich wüsste gern, wann du dich zu dem Weg nach Valahir entschlossen hast. Es war nie die Rede davon...“

„Manchmal kommen Entscheidungen so plötzlich wie ein Gewitter in der Nacht, und ebenso wie man diesem Gewitter nicht entgehen kann, konnte ich mich nicht vor dieser Frage verstecken.“

„Du hat nicht lange darüber nachgedacht?“

„Das muss ich nicht. Ich weiß, dass es richtig ist.“

Menrirs Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er da völlig anderer Meinung war, doch er sagte nichts weiter. Stattdessen wandte er sich Sara zu.

„Sara, hast du Lust auf einen Ausflug in die Stadt der Wanderer? Du bist lange nicht dort gewesen, soweit ich weiß. Wir könnten Lennys dorthin begleiten und dann im Gasthof übernachten. Oder willst du lieber zurück nach Hause?“

Die Novizin warf Lennys einen unsicheren Blick zu. „Ich tue, was mir gesagt wird. Aber wenn ihr wünscht, kann ich mich schon auf den Weg nach Goriol machen und eurem Gastgeber mitteilen, dass ihr ihn heute noch aufsucht.“

Lennys sah überrascht auf. „Sieh an, du entwickelst also Eigeninitiative. Vielleicht ist die Idee gar nicht so schlecht. Gehe nach Goriol und frage dort nach Akosh, dem Goldschmied. Sage ihm, ich werde bei Einbruch der Nacht da sein und ich wünsche ihn allein zu sehen. Und er soll im Wirtshaus ein Zimmer für euch bestellen. Es ist besser, wenn er sich darum kümmert.“

Nun schaltete sich wieder Menrir ein. „Du willst sie allein nach Goriol schicken?“

„Ich bin kein Kind mehr.“ sagte Sara leise, aber bestimmt. Lennys zuckte die Achseln.

„Siehst du, Menrir, sie weiß schon, was sie tut. Glaub mir, sie kommt allein besser durch den Wald als wenn sie dich im Schlepptau hat, soviel habe ich schon mitbekommen.“

„Es ist gefährlich!“

„Nicht in dieser Gegend, denke ich. Sara, geh jetzt. Wir werden nachkommen und dann kannst du mit Menrir euer Nachtquartier aufsuchen.“

Sara nickte, und schon kurz darauf war sie im Wald verschwunden.

Die Waldbrücke sah noch genauso aus wie am Vortag und Sara musste sich selbst mahnen, schnell weiterzugehen. Es war nicht ihre Aufgabe, die Gegend noch einmal abzusuchen, sie hatte einen Botendienst zu verrichten, der keinen Aufschub duldete. Sie versuchte, nicht auf die zersplitterten Geländerbalken zu achten, die Blutflecken zu ignorieren und sich nicht vorzustellen, welche Grausamkeiten hier stattgefunden hatten. Als sie den Schauplatz der vergangenen Verbrechen hinter sich gelassen hatte, atmete sie erleichtert auf.

Goriols Dächer leuchteten rot und orange in der Spätnachmittagssonne, als Sara den Hügel, an dem der Wald endete, herunterlief. Sie war schon längere Zeit nicht mehr hier gewesen und freute sich auf die „Stadt der Wanderer“. Mit ihrer Vorsteherin und einigen Novizinnen hatte sie schon oft den Markt besucht, von dem es hieß, es sei der größte in ganz Mittelland. Jetzt jedoch bauten die Händler ihre Stände ab und freuten sich auf einen feucht-fröhlichen Feierabend im „Rebstock“, dem größten Gasthaus des Ortes. Hier würden sie und Menrir heute Nacht Quartier beziehen, während Lennys sich bei Akosh aufhielt.

Sara hatte noch nie von dem Goldschmied gehört, was aber nichts heißen musste. Geschmeide und wertvolle Edelsteine gehörten nicht in den Tempel und außer Ilele kannte sich kaum jemand mit den Angeboten an Schmuck und teurem Zierrat in Goriol aus. Sie hätte Akosh wohl auch gekannt, zumindest jedoch von ihm gehört. Sara war froh, dass sie nicht auf ihre Mitnovizin angewiesen war und genoss es, allein durch die zunehmend leerer werdenden Straßen zu schlendern. Neben ihr trieb ein Bauer gerade die letzten Hühner zusammen, die er wohl nicht hatte verkaufen können.

„Verzeiht, darf ich euch etwas fragen?“ Sara hatte den Eindruck, dieser Alte könne nicht von weit her angereist sein und als Einheimischer kannte er sicher alle Menschen, die in Goriol lebten. Der Bauer grinste sie zahnlos an, wohl in der Hoffnung, doch noch ein paar Deben Gold herausschlagen zu können.

„Aber sicher mein Kind. Ein Huhn gefällig?“

„Nein danke, wenngleich die euren besonders gesund aussehen. Aber ich möchte euch um eine Auskunft bitten.“

Der Alte ließ sich keinerlei Enttäuschung anmerken.

„Nun, dann bist du beim alten Gam an der richtigen Stelle. Frag nur.“

„Ich suche nach einem guten Goldschmied in der Stadt. Man hat mir Akosh empfohlen, aber ich weiß nicht, wo ich ihn finden kann.“

„Akosh sagst du? Hm, wer hat dir denn diesen Tipp gegeben? Zugegeben, er versteht sein Handwerk, aber seine Dienste sind teuer und er arbeitet auch nicht für jeden. Warum gehst du nicht zu Morgur? Es ist der Bucklige dort drüben, er baut auch gerade ab.“

„Das ist ein sicher guter Rat, werter Gam, aber trotzdem würde ich gerne erst mit Akosh sprechen. Wenn er mir zu teuer ist, werde ich aber morgen gerne Morgur aufsuchen.“ Sara setzte ein liebreizendes Lächeln auf. Gam hob die Schultern.

„Du bist doch vom Tempel oben, oder? Ich erkenne es an deiner Tasche. Meine Nichte hat die gleiche, vielleicht kennst du sie? Sie heißt Velba und ist Anfang des Jahres zu euch gekommen.“

„Oh ja, natürlich kenne ich sie!“ rief Sara mit – wie sie hoffte – erfreuter Miene. Tatsächlich hatte sie die kleine Velba nur einmal flüchtig in der Wäschekammer gesehen, wo sich das Mädchen nicht sonderlich geschickt angestellt hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass ihr Novizinnen euch Arbeiten bei einem Goldschmied wie Akosh überhaupt leisten könnt.“ brummte Gam weiter.

„Es ... es ist keine Arbeit für mich. Aber ich fürchte, ich kann euch das nicht näher erklären, ich wollte Akosh so schnell wie möglich aufsuchen.“

„Hm, verstehe schon. Na gut, er wohnt am Ende der Gasse, die vom Marktplatz nach Süden abzweigt. Ganz hinten, ein einzelnes Haus aus Sandstein und mit Fensterläden aus dunklem Eichenholz. Nette Hütte, wenn du mich fragst, aber wozu braucht ein einzelner Mann ein so großes Haus?“

„Vielen Dank, Gam, ihr habt mir wirklich sehr geholfen!“ Sara verneigte sich leicht zum Abschied.

„Schon gut, Kleine, grüß' mir meine Nichte und sag ihr, sie soll keinen Unsinn machen, dort oben im Tempel!“

„Ich werde es ihr gern bestellen, Gam! Auf Wiedersehen!“

Schnell eilte Sara die Straße hinunter, die zum Marktplatz führte. Soweit sie sich erinnern konnte, kam nach Gams Beschreibung nur eine einzige Gasse in Frage, die bis an den Dorfrand im Süden führte. Sie musste also beinahe die ganze Stadt durchqueren und es war sicher besser, wenn sie nicht von zu Vielen dabei gesehen wurde. Einige Händler kannten sie ja von ihren gelegentlichen Ausflügen und selbst, wenn sie ihre verräterische Tasche von nun an unter dem Umhang verbarg, war es doch nicht schwer zu erraten, wo eine junge Frau ohne Begleitung plötzlich herkam. Eine weite Reise nicht gewagt und in dem Ort kannten sich beinahe alle. Auch wenn Lennys nichts davon gesagt hatte, so war es Sara klar, dass Beema nicht unbedingt erfahren musste, dass sie sich gerade alleine hier herumtrieb.

Sie schlug einen Bogen und lief eine Weile durch ein Gewirr von schmalen Gassen, durch Hinterhöfe und durch Mauerdurchlässe, um so den großen Marktplatz und die breiten Händlerstraßen zu umgehen. Endlich erreichte sie den Dorfrand und nach mehreren Biegungen um Gärten und Weiden stand sie schließlich vor einem hellgelben, freundlich aussehendem Gebäude. Türen, Fensterläden und auch der niedrige Zaun um den gepflegten Vorgarten waren aus dunkler, polierter Eiche gezimmert – allein diese Arbeiten mussten ein Vermögen gekostet haben. Trotzdem wirkte das Haus nicht übertrieben oder gar angeberisch, vielleicht, weil es nur aus einem Geschoss bestand und noch nicht einmal ein Schuppen vorhanden war.

Etwas nervös öffnete die Novizin das Tor und glaubte im selben Moment, einen Schatten hinter einem Fenster verschwinden zu sehen. Noch bevor sie an die schwere Tür klopfen konnte, schwang diese auf.

„Akosh arbeitet nicht für Fremde, mein Mädchen, es tut mir leid.“

Der Urheber der klangvollen Stimme blieb im Dunkel hinter dem schmalen Türspalt verborgen, der gerade groß genug war, um einen Fuß dazwischen zu schieben. Darauf verzichtete Sara allerdings.

„Dennoch bitte ich um einen Augenblick Gehör durch den Goldschmied. Ich komme vom Nebeltempel.“

Die Tür öffnete sich ein Stück weiter und das Gesicht eines sympathischen Mannes von gut dreißig Jahren erschien. Er hatte dunkelbraune, glatt nach hinten gekämmte Haare mit grauen Strähnen an den Schläfen und Sara war sich sicher, dass die meisten Novizinnen ihn nicht nur seiner Arbeit wegen bewundert hätten. Seine Augen waren ebenso braun wie sein Haar und musterten sie jetzt neugierig.

„Vom Tempel? Dort wird man sich meine Dienste kaum leisten können.“

„Dies ist auch nicht der Grund meines Besuches. Allerdings....“

Plötzlich stutze der Goldschmied. „Vielleicht ist es doch besser, wenn du einen Moment hereinkommst. Ich mag es nicht, wenn die Nachbarschaft meine Gäste belauscht.“

Akosh zog Sara ins Haus und schloss die Tür direkt hinter ihr wieder.

Im Flur war es dämmrig und angenehm kühl und ein schwacher Lilienduft durchzog das Gebäude. Auch hier dominierte das dunkel polierte Eichenholz, aus dem Türen und Rahmen und sogar der Boden gefertigt war.

„Wer hat dich hierher geschickt?“ fragte Akosh jetzt direkt.

„Es war Lennys, die Gesandte Cycalas'. Sie läßt euch durch mich eine Nachricht überbringen.“

Akosh runzelte die Stirn, doch die Falten glätteten sich gleich darauf wieder.

„Und wie lautet sie?“

„Die Botschafterin wird heute bei Einbruch der Nacht hier eintreffen.“

„Heute schon? Ich hatte nicht so bald mit ihrem Erscheinen gerechnet. Aber ich freue mich. Es ist mir eine große Ehre, sie meinen Gast nennen zu dürfen. Weißt du, ob sie hier übernachten wird?“

„Sie wird von Menrir begleitet und Lennys meinte, er und ich könnten im Gasthaus schlafen. Sie meinte, sie selbst würde hierbleiben.“

„Nun, ich werde sofort alles Nötige vorbereiten. Ich könnte auch leicht dich und Menrir beherbergen, aber wir wollen uns in ihren Wünschen beugen. Am besten, wir gehen gleich zum „Rebstock“ hinüber und kümmern uns um eure Unterkunft. Bis zu ihrem Eintreffen wird nicht mehr viel Zeit vergehen.“

Er wollte sich gerade der Tür zuwenden als ihm noch etwas einfiel. Er musterte Sara noch einmal genauer.

„Bist du die Novizin, von der Menrir erzählt hat? Die in Lennys' Diensten steht?“

„Ja, mein Name ist Sara.“

„Schön, Sara. Ich bin sicher, du machst deine Sache gut.“ Er lächelte freundlich und bat sie dann hinaus, um sie zum Gasthaus zu begleiten.

Die Sonne war schon fast vollständig untergegangen als Menrir an Akoshs Tür klopfte. Lennys stand ein paar Meter entfernt und starrte unergründlich ins Leere, doch kaum öffnete sich die Tür einen Spalt, schritt sie zügig an Menrir vorbei, noch bevor dieser zu Wort kommen konnte. Der Heiler schaffte es gerade noch, ihr ins Dunkel des Gebäudes zu folgen, bevor die Tür wieder zufiel.

Obwohl es jetzt im Flur seines Hauses stockfinster war, verneigte sich Akosh tief vor seiner Besucherin.

„Seid willkommen. Mein Haus ist euer Haus und ich bin euer Diener.“

Lennys verzog keine Miene und antwortete nur:

„Es ist gut, Akosh, es ist nicht die richtige Zeit für Förmlichkeiten. Wo ist Sara?“

„Sie wartet nebenan. Ich dachte, es wäre nicht gut, sie allein im „Rebstock“ zu lassen, doch das Nachtquartier ist bestellt und kann von ihr und Menrir...“ Er nickte dem Heiler einen Gruß zu, „...jederzeit bezogen werden.“

„Mir wäre sofort am liebsten.“ erwiderte Lennys. „Ich habe einiges mit dir zu besprechen und möchte nicht länger warten. Menrir, nimm Sara und geh zum Gasthaus, ich brauche euch heute nicht mehr.“

Als sie den geräumigen und geschmackvoll eingerichteten Wohnraum betraten, wartete Sara, bereits wieder in ihren Reiseumhang gehüllt, in einer Ecke am Fenster.

„Du kannst jetzt gehen. Ruh dich aus, wir werden morgen wieder so früh wie möglich zum Tempel zurückkehren. Menrir wird in deiner Nähe bleiben, zu später Stunde neigt das gemeine Volk hier manchmal zu ungehobeltem Benehmen.“

Während sich Akosh im Flur von dem Heiler und der Novizin verabschiedete, betrachtete Lennys den Wandschmuck an der dunkel getäfelten Wand des Wohnraums. Einige fein geschmiedete Silberstatuen standen auf schmalen Regalbrettern, geschnitzte Reliefbilder mit lebhaften Szenen aus Schlachten und heiligen Zeremonien belebten den düsteren Grund und ein besonders prächtiger, mit silberfarbenen Symbolen bestickter Wandteppich zog alle Blicke an der Westwand auf sich.

Die Cycala zog die Brauen hoch als ihr Gastgeber wieder den Raum betrat.

„Du empfängst nicht viele Fremde hier, nehme ich an?“

„Gar keine, um genau zu sein. Nebenan ist ein kleineres Zimmer, dass weniger auffällig geschmückt ist, dort finden meine Kundengespräche statt.“ Akosh füllte einen glänzenden Messingbecher mit einer rubinroten Flüssigkeit und reichte ihn Lennys.

„Sijak?“ fragte sie überrascht.

„Leider nicht der Beste, sondern eine weniger gute Sorte aus Askaryan. Jedoch beinahe ebenso schwer zu bekommen wie der Semonische.“

„Wenigstens du beweist Geschmack, Akosh.“

„Hätte ich geahnt, dass ihr mich schon heute beehrt, hätte ich mich um bessere Gastfreundschaft bemühen können.“

„Das ist nicht nötig. Und bitte, rede nicht so geschraubt, wir sind hier unter uns.“

„Darf ich dir noch etwas Anderes anbieten?“ fragte der Goldschmied etwas entspannter.

„Nein, danke. Erzähl mir, wie es hier zugeht. Ich habe lange nichts von euch allen gehört.“

„Wir kommen zurecht. Die Menschen sind zwar meist naiv und oberflächlich, aber auch freundlich, hilfsbereit und großzügig. Eben anders als bei uns zu Hause. Trotzdem vermisse ich das Sichelland... auf meine Art.“ Er deutete auf den Wandteppich und die Bilder. „Damals sah mein Haus ähnlich aus. Manchmal vergesse ich hier ganz, dass sich vor meiner Tür nicht die Weiten Cycalas' ausbreiten, sondern eine plumpe, verschlafene Stadt, in der sich alles nur um Handel, Wein und Frauen dreht.“

„Aber du gehst nicht zurück?“

„Nein. Noch nicht. Obwohl... es hier nicht mehr sicher ist.“

„Das war es nie. Auch wenn Menrir anderer Meinung ist.“

„Ich dachte, er macht sich Sorgen?“

Lennys stellte den Becher ab und stand auf, um sich eines der Bilder näher anzusehen. Es zeigte einen Sichelkämpfer, umringt von zehn gefallenen, missgestalteten Feinden. Ein Meisterwerk. Dann antwortete sie, mit dem Rücken zu Akosh gewandt.

„Ja, das tut er, aber nicht über das, was wirklich Anlass zur Sorge gibt. Er wird alt und sieht manches nicht so, wie er es sehen sollte.“

„Er hat viel getan.“

„Natürlich hat er das. Aber ich glaube, er wird mir jetzt nicht mehr die Hilfe sein, die er einst war.“

„Du hast nie wirklich Hilfe gebraucht. Was willst du tun? Ihn zurücklassen?“

„Nein, ich denke nicht. Und ich will jetzt auch nicht mehr von Menrir reden.“

Akosh seufzte und nippte an dem Sijak. „Unruhige Zeiten. Manche wollen gerne zurückgehen, wo sie in Sicherheit sind.“

„Ich kann es ihnen nicht verdenken und meine Meinung kennst du. Wir gehören nicht hierher.“

„Niemand von uns vergisst seine Herkunft, Lennys. Und niemand zieht irgendeinen Ort dem Sichelland vor. Es gibt andere Gründe, hierzubleiben.“

„Belehre mich nicht, das weiß ich sehr wohl und ich unterschätze den Nutzen daraus auch nicht. Es hat sich nur gezeigt, dass selbst die beste Tarnung nicht immer ausreicht. Sag mir, was du bisher erfahren hast.“

„Nicht viel. Im Gegensatz zu Menrir glaube ich aber nicht, dass der Vorfall an der Brücke auf Räuber zurückzuführen ist. Und über Thau brauchen wir diesbezüglich wohl auch nicht reden. Dann gab es noch einen Zwischenfall in Fangmor und zwei Angriffe in Gahl.“

„Zwei?“

„Einer von beiden ereignete sich erst vor wenigen Tagen und ich werde selbst nicht ganz schlau daraus. Vielleicht steckt auch nichts dahinter. Ein Bote, der auf dem Heimweg nach Cycalas war, wurde kurz vor Gahl erschlagen und ausgeraubt. Dies könnte aber tatsächlich auch ein 'normales' Verbrechen gewesen sein.“

„Davon wusste ich nichts. Ich erwarte in Zukunft, dass man mich über Derartiges sofort unterrichtet, verstanden?“

„Natürlich. Und da ist noch etwas...“

„Was denn noch?“

„Es heißt, König Log habe einen Kundschafter ausgesandt, der ihm Neuigkeiten aus dem Mittelland bringen soll. Er soll sich umhören, ob dort alles friedlich ist und wie es den Menschen hier geht. Findest du das nicht auch seltsam? Was geht den König des Südens das Mittelland an?“

Lennys legte die Stirn in Falten.

„Ja, das ist wirklich seltsam. Beinahe, als würde er etwas ahnen oder gar wissen. Und das kann ich mir nicht vorstellen. Vor allen Dingen würde es ihn trotzdem nichts angehen. Log mag ein guter König für sein Land sein, zumindest ist das Volk mit ihm zufrieden. Aber er sollte sich nicht in fremde Angelegenheiten mischen. Was ist das für ein Kundschafter, kennst du ihn?“

Akosh schüttelte den Kopf.

„Ich habe nur von ihm gehört. Er heißt Algur oder Algar oder so ähnlich. Ein junger Heißsporn, so sagt man, und wohl gern auf Festen gesehen. Er soll zu den besten Reitern des Heeres in Manatar gehören und angeblich ist er recht neugierig.“

„Jetzt haben wir also auch noch einen Schnüffler aus dem Süden am Hals. Das hat uns gerade noch gefehlt. Als hätten wir nicht schon genug Ärger.“ Gereizt ließ sich Lennys wieder in einen hohen Lehnstuhl fallen. Als sie nichts weiter dazu sagte, frage Akosh vorsichtig:

„Ist dieser Junge wirklich ein Problem?“

„Er könnte eines werden. Log schickt ihn auf eine Suche, die geradewegs zu uns führt. Das gefällt mir nicht und wenn ich daran denke, was er finden könnte, gefällt es mir noch viel weniger. Sieh zu, dass uns dieser Kerl vom Leib bleibt. Wenn er hier auftaucht, füttert ihn mit Informationen, die ihn in die Irre führen oder sorgt zumindest dafür, dass er nicht mehr erfährt als unbedingt nötig.“

„Vielleicht würde Log uns helfen, wenn er herausbekommt, was dahintersteckt....“ meinte Akosh mit etwas zweifelndem Unterton.

„Erstens brauchen wir keine Hilfe von Fremden, wir kommen gut allein zurecht. Zweitens geht es Log nichts an. Und drittens wäre seine Art von Hilfe sicher nicht die, die mit unseren Vorstellungen übereinstimmt. Aber im Augenblick interessiert mich ohnehin nur Eines: Woher weiß er es? Es ist kein Zufall, dass er ausgerechnet jetzt jemanden losschickt, um das Grenzreich zu kontrollieren.“

„Vielleicht hat er Späher in einer der Städte, die ihm davon berichtet haben. In Thau zum Beispiel, oder in Gahl. Log ist immer gern und gut über die Vorgänge jenseits seiner Grenzen informiert. Und vergiss nicht, dass es jemanden gibt, der sowohl uns als auch Log recht nahesteht."

Lennys sah nicht überzeugt aus, machte dann jedoch eine gleichgültige Geste.

„Daran brauchst du nicht zu denken. Er hat schon lange keinen Kontakt mehr zu Log und in politischer Hinsicht wird er sich auf keinen Fall gegen uns stellen. Wie dem auch sei, habt ein Auge auf diesen... wie hieß er?... auf diesen Schnüffler. Wenn er zu neugierig sein sollte, müssen wir uns etwas einfallen lassen.“

„Natürlich.“

Damit war das Thema vorerst erledigt und Lennys dachte eine Weile nach, bevor sie fortfuhr.

„Was wirst du tun? Du und die anderen?“

„Wer gehen will, den kann und will ich nicht aufhalten. Und ich werde jedem helfen, der nach Hause zurückkehren will, aber so viele werden es nicht sein. Die Meisten werden hierbleiben, wie ich auch.“

„Ihr solltet vorsichtig sein. Du wirst mich sofort informieren, wenn etwas Ungewöhnliches passiert, wenn jemand außerhalb unseres Kreises mehr weiß als gut ist oder auch wenn du auch nur einen Verdacht hast.“

„Hast du denn einen?“

„Mehr als das. Aber wenn ich recht habe, ... Nein, Akosh, es ist noch zu früh um etwas zu sagen. Doch rechne nicht damit, dass diese Angelegenheit schnell aus der Welt geschaffen ist.“

Der Goldschmied sah sie besorgt an.

„Ich habe meinen Beruf nicht verlernt.“

„Das ist auch gut so. Vielleicht werden wir bald froh darüber sein.“

„Gibt es schon Pläne... Befehle... von......?“

„Nein, noch nicht. Wie gesagt, ich stehe selbst noch am Anfang meiner Vermutungen, aber es hat keinen Sinn, jetzt schon Maßnahmen zu veranlassen, solange wir uns nicht sicher sind. In Cycalas ist man momentan noch weitgehend ahnungslos.“

„Und trotzdem bist du hier.“

„Niemand sonst könnte diese Nachforschungen so betreiben wie ich, Akosh. Darüber brauchen wir ja wohl nicht zu diskutieren.“

„Natürlich nicht.“

Sie stand wieder auf.

„Sei wachsam und rechne mit dem Schlimmsten. Falls ich mich doch irre, umso besser. Die Gemeinschaft in Goriol ist die größte außerhalb Cycalas' und mit Sicherheit auch die stärkste. Bereite sie vor, so gut wie möglich, aber ohne ihnen zu viel zu sagen.“

„Vorbereiten ... auf was?“

Er erhielt keine Antwort, doch im Grunde kannte der Schmied sie längst.

Goriol lag noch in seinen schönsten Träumen, als Lennys am nächsten Tag in Akoshs Vorgarten trat. Gerade erst verblasste der Mond und noch nicht einmal der Gesang der Vögel war um diese Zeit erwacht. Scharfe Augen konnten jedoch erahnen, dass der finstere Nachthimmel bald einem sanften Violett-Grau weichen würde.

Die Cycala hatte nicht geschlafen. Ein oder zwei durchwachte Nächte machten ihr nichts aus und diesmal war es wichtiger gewesen, mit Akosh zu reden und anschließend alles noch einmal in Ruhe zu überdenken. Hier, im duftenden Garten des Goldschmieds, zu einer Zeit da die Luft noch kühl und die Straßen noch still waren, kam sie zu einem Entschluss. So viele lose Enden gab es, doch die wenigen, die man greifen konnte, verbanden sich auf seltsame Weise. Es war an der Zeit, dem Bild ein weiteres Teil hinzuzufügen.

Jemand kam die Gasse herunter. Eine schmale, feingliedrige Gestalt in einem vertrauten Wollumhang.

Lennys zog die Brauen zusammen. Es war für mittelländische Begriffe noch mitten in der Nacht und selbst Akosh lag noch im Tiefschlaf. Was zum Teufel machte Sara so früh auf der sonst menschenleeren Straße? Sie war schnell... zu schnell für einen gewöhnlichen Spaziergang, geradeso als ob sie sich aus einem noch unbekannten Grund beeilen wollte, hierher zu kommen.

„Guten Morgen...“ sagte die Novizin atemlos, als sie das Gartentor erreicht hatte und Lennys auf der Steintreppe vor der Tür sitzen sah.

„Findest du nicht, dass du übertreibst? Beim letzten Mal war zumindest schon die Sonne aufgegangen, als wir aufgebrochen sind.“

Sara atmete noch mehrmals tief durch, dann sagte sie:

„Ich bin hier, weil... weil wieder etwas passiert ist. Gerade eben erst. Ich dachte, ihr wollt es so schnell wie möglich wissen...“

Lennys sprang auf und machte einen Schritt auf Sara zu.

„Was ist passiert?“ fragte sie barsch.

Noch immer rang die Novizin um Luft, doch sie beruhigte sich schnell wieder und erzählte weiter.

„Ein Feuer... im Norden der Stadt. Sie haben jemanden an einen Baum gefesselt und dann angezündet. .... Der Wirt von unserem Gasthaus hat es zufällig gesehen, doch... er konnte nichts mehr für den Mann tun...“

„Wann war das? Wo genau? Weißt du, wer getötet wurde?“ Mit einem Mal war Lennys ungewöhnlich aufgebracht und zerrte Sara in Richtung Straße.

„Zeig es mir!“

Sie liefen wieder in Richtung Marktplatz und von dort aus weiter nördlich bis Lennys einen immer stärker werdenden Brandgeruch in den Gassen wahrnahm. Auch mischten sich jetzt aufgeregte Stimmen in das noch zurückhaltende Vogelgezwitscher und als sie um eine Häuserecke bogen, verschlug ihnen der scharfe Gestank von verbranntem Fleisch beinahe den Atem.

Schwache Qualmfäden tanzten noch um die verkohlte Erle, die jetzt ihre nackten, schwarzen Äste in den Himmel reckte. Es war kein sehr großer Baum und nun würde er es auch nicht mehr werden.

Mehrere Menschen standen um ihn versammelt und beugten sich über etwas, das auf dem Boden lag. Unter ihnen war der von Sara bereits erwähnte Wirt, der Ähnlichkeit nach zu schließen dessen Bruder, eine bleiche Frau, die nur fassungslos den Kopf schüttelte und ein Ehepaar mittleren Alters, dass von dem Anblick, der sich bot, anscheinend nicht genug bekommen konnte und immer wieder beteuerte, dass diese Verbrechen doch eine Schande für die Stadt seien.

Ohne auf die überraschten Blicke zu achten, schob Lennys die Umstehenden einfach zur Seite, bis sie direkt vor dem Baum stand - und vor dem, was davor lag.

Die Kleidung des Mannes war nahezu vollständig in seinen Körper eingebrannt. Die wenigen Stellen an Armen, Beinen, Brust und Bauch, die nicht vom Russ geschwärzt waren, schimmerten im Rot blutigen Fleisches und ließen dunkel erahnen, dass noch vor Kurzem Leben in diesem Menschen gesteckt hatte.

Lennys jedoch sah nur auf das Gesicht. Die Flammen hatten noch nicht hoch genug geschlagen, um es bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen, auch wenn die Haare vollständig versengt waren und die Haut von Blasen übersät war. Der starre Blick der Leiche schien ihr zu gelten, als wolle er ihr all das sagen, was sie sich gerade fragte. Doch sie verstand ihn nicht. Alles, was sie erkannte, war, dass ihre Befürchtungen gerade wahr zu werden schienen.

Ein letztes Mal sah sie in das Gesicht des Toten. Es gab keinen Zweifel über seine Identität.

„Was ist geschehen? Hat es jemand beobachtet?“ fragte sie kalt in die Runde. Obwohl sie eine Fremde unter Einheimischen war, schien niemand ihr Vorgehen in Frage zu stellen. Cycala waren im Allgemeinen hoch angesehen und es war kein Wunder, dass sich eine Gesandte des Sichellandes dafür interessierte, wenn in einer Stadt wie Goriol derartige Dinge passierten.

„Nicht direkt...“ brummte der Wirt, ein glatzköpfiger, runder Hüne mit auffällig sanfter Stimme. „Wollte grade ins Bett geh'n, Hatte 'n volles Haus letzte Nacht. Und da hab' ich das Feuer gesehen. Bin gleich losgerannt, dachte, da brennt wieder mal 'ne Scheune oder so. Kommt ja oft vor im Sommer. Und da hab ich das hier gesehen. Aber bis ich Hilfe geholt hatte und löschen konnte, ... naja, da war's schon zu spät. Armer Kerl, hat nie jemandem was getan. Hab' ihn aber auch kaum gekannt.... Trotzdem, so muss man nicht draufgehen. Hat noch gelebt als ich kam. Aber dann ... hab's nicht schneller geschafft.“

„Du kannst doch nichts dafür, Fagg.“ Sein Bruder klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast dein Bestes getan und hättest dich dabei leicht verletzen können. Diese Schweine, wenn ich die erwische. Goriol is 'ne friedliche Stadt. Ja, Herrin, das isses!“ Seine letzten Worte galten Lennys.

Doch die sagte nichts, drehte sich um und ging. Sara nickte kurz dem Wirt Fagg zu, aber er war schon wieder in ein Gespräch mit den anderen Anwesenden vertieft. Also beeilte sie sich, Lennys schnell wieder einzuholen.

Als sie am „Rebstock“ vorbeigingen, blieb die Sichelländerin stehen.

„Ist Menrir bei dem ganzen Theater nicht wach geworden?“

Sara schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat mir einmal erzählt, dass er abends einen bestimmten Tee trinkt, der ihn besonders tief schlafen lässt.“

„Dann wirst du jetzt zu ihm gehen und ihm notfalls den Tee wieder herausschütteln. Kommt beide so schnell wie möglich zu Akosh. Es ist mir egal, ob Menrir ausgeschlafen hat oder nicht!“

Sie wartete keine Antwort ab, sondern war schon wieder auf dem Weg zum Haus des Goldschmieds.

„Akosh, wach auf!“

Lennys hatte weder angeklopft noch sich sonst bemüht, ihr plötzliches Erscheinen anzukündigen. Jetzt stand sie in einem großen, quadratischen Raum mit einem ausladenden Bett, ganz ähnlich dem, das man ihr im Tempel zur Verfügung gestellt hatte.

Knurrend zog sich Akosh die Leinendecke über den Kopf und fuhr wütend auf, als die Cycala sie wieder herunterriss.

„Was zum Henker....! Ach du bist es. Entschuldige bitte, Lennys. Normalerweise werde ich nicht so aus dem Schlaf gerissen.“

„Agub ist tot.“

„Was?“ Entsetzt starrte er sie an.

„Es ist noch keine Stunde her. Zieh dich an, ich warte im Wohnraum auf dich.“

Fassungslos hörte sich der Goldschmied einige Minuten später an, was geschehen war. Geistesabwesend nahm er die Sijakflasche, die noch auf dem Tisch stand, füllte einen Becher und stürzte den Inhalt hinunter. Lennys kommentierte das nicht, tat es ihm aber auch nicht gleich, sondern wartete ab, bis Akosh die Nachricht verdaut hatte. Es dauerte eine Weile.

„Agub war ein guter Freund. Er war immer besonders vorsichtig. Ich verstehe das nicht.“

„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“

„Gestern. Ich habe ihn auf dem Markt getroffen. Es war alles wie immer.“

„Er hatte keine Familie, soweit ich weiß.“

„Nein. Er war ein Einzelgänger, aber kein Griesgram und immer freundlich. Auch die Leute im Dorf mochten ihn. Was geht hier nur vor?“

Lennys ging zum Fenster. Von Menrir und Sara war noch nichts zu sehen.

„Hat man euch oft zusammen gesehen?“

„Nein, ich glaube nicht. Er war manchmal hier oder wir haben ein paar Worte auf der Straße gewechselt. Aber nicht auffällig viel. Er hatte mit einigen Dorfbewohnern genauso häufig oder sogar noch mehr Kontakt, ebenso wie ich. Und was wir hier hinter meiner Tür besprochen haben, hat ja niemand mitbekommen.“

„Und mit den anderen?“

„Auch nicht viel mehr, soweit ich weiß. Wir sind uns unserer Situation durchaus bewusst. Und wir sind vorsichtig, schon immer. Keiner geht regelmäßig bei den anderen ein oder aus, kein Beobachter käme auf die Idee, dass uns etwas verbindet.“

„Irgendjemand ist ganz sicher auf diese Idee gekommen, nur wissen wir nicht, wodurch. In Gahl hat alles angefangen. Dann Fangmor. Thau. Die Waldbrücke. Wieder Gahl. Und jetzt noch einmal Goriol. Die Vermissten nicht mitgerechnet, von denen ich nicht glaube, dass jemand überlebt hat. Es passiert im ganzen Mittelland, im Süden wie im Norden. Es trifft Familien und Einzelgänger, Händler und Krieger. Das einzige, was alle gemeinsam haben, ist ihre Herkunft.“

„Du bist hierher gekommen, nachdem Morells Haus abgefackelt wurde. Hast du es da schon geahnt?“

„Sonst wäre ich nicht hier. Es war der dritte große Anschlag, bei dem Cycala getötet wurden. Zwei weitere galten zu diesem Zeitpunkt schon als vermisst, nur wird darüber nicht geredet.“

Plötzlich schien Akosh etwas einzufallen und er starrte Lennys lange an.

„Du musst nach Hause gehen.“

Lennys lachte kühl. „Gibst du mir jetzt Anweisungen?“

„Nein, verzeih. Aber wir ... wir versuchen uns zu verbergen, uns zu schützen. Doch deine Heimat ist offenkundig und du bist die meiste Zeit allein unterwegs. Lennys, bitte... du musst doch auch daran denken, dass du....“

„Dass ich was? Jetzt hör mir mal zu. Du wirst mir nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Wenn sie schon wissen, dass Agub und Morell und all die anderen aus dem Sichelland waren, was sollte mir dann eine Verkleidung nutzen? Und wer, wenn nicht ich, kann sie finden? Wer, wenn nicht ich, kann sich ihnen entgegenstellen? Sag es mir! Na los! Nein, Akosh, diesmal ist deine Vernunft fehl am Platz. Wir werden nicht mehr darüber diskutieren.“ Sie funkelte ihn warnend an und Akosh zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen. Er warf einen Blick aus dem Fenster.

„Da kommen zwei Leute die Straße herunter. Das werden Menrir und das Mädchen sein.“

„Warte einen Moment.“ Lennys hielt den Schmied zurück, der gerade in den Flur gehen wollte, um die beiden Gäste hereinzulassen.

„Du wirst mir alles sagen, was du in Erfahrung bringen kannst. Und du wirst alles tun, was nötig ist, um dem ein Ende zu setzen. Du weißt, was ich damit meine.“

Er nickte. „Die Geschichte wiederholt sich...“

„Vielleicht tut sie das. Aber wenn... dann wird sie diesmal ein anderes Ende haben. Mach dich bereit und sorge dafür, dass es niemanden unvorbereitet trifft.“

Von der Straße her waren undeutliche Stimmen zu hören. Anscheinend hatte Menrir Schwierigkeiten, mit Saras Tempo Schritt zu halten und bat sie, langsamer zu gehen. Akosh stand auf.

„Wie viel willst du ihnen sagen?“ fragte er.

„Das hängt von ihrer Reaktion ab.“

In der Tat war der Heiler ziemlich außer Atem, als er, im Wohnraum sitzend, dankbar einen Becher Wein von Akosh entgegennahm. Sara schien weit weniger erschöpft und wartete, von der angespannten Stimmung unangenehm berührt, im Schatten der Tür auf das, was nun kommen würde. Lennys verlor keine Zeit.

„Ein weiteres Mitglied unserer Gemeinschaft wurde getötet und ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass es auch diesmal kein Zufall oder ein gewöhnliches Verbrechen war. Ich brauche keine weiteren Beweise mehr.“ Sie sprach zu niemand Bestimmten, sondern in den Raum hinein ohne jemanden anzusehen. Dann wandte sie sich Menrir zu.

„Ich gehe sofort zum Tempel zurück. Du musst mich nicht begleiten, ich werde nur noch einige Dinge erledigen, bevor ich abreise.“

„Du willst den Nebeltempel also schon wieder verlassen?“ keuchte Menrir. Hinter ihm wurde Sara blass.

„Ich habe dort nichts mehr verloren. Von dort aus konnte ich mich ein wenig in der Gegend umsehen, ohne zu viel Aufsehen zu erregen und ganz nebenbei auch noch etwas anderes erledigen. Gestern. Aber das, was ich wissen wollte, habe ich nun schneller in Erfahrung bringen können als gedacht. Je früher ich von da wegkomme, desto besser.“

Sie sah Akosh an. „Wenn ich zurück bin, wünsche ich euch alle zu sehen. Wo ist euer Treffpunkt?“

Akosh lächelte. „Wir stehen direkt darauf. Unter meinem Haus habe ich ein Kellergewölbe ausgebaut.“

Lennys wirkte verärgert. „Und du sagst mir, niemand könne einen Zusammenhang zu dir herstellen? Noch einen gefährlicheren Platz als hier hättet ihr euch kaum auswählen können!“

„Keine Sorge. Ein Tunnel führt von außen dorthin und seinen Eingang kennen nur die Eingeweihten. Und von hier aus kommt man auch nur hinunter, wenn man von der verborgenen Falltür weiß. Niemand wird je mehr als einen Besucher an einem Abend bei mir beobachten, wenn überhaupt.“

„Und wenn jemand den Zugang findet, ... gut, du wirst wissen, was du tust.“ Sie klang nicht überzeugt, verfolgte das Thema aber nicht weiter.

„Wann willst du uns treffen?“ erkundigte sich Akosh.

„Ich gebe dir rechtzeitig Bescheid. Ich möchte jetzt keine weitere Zeit verlieren. Sara, du kommst mit, damit der Tempel seine Novizin wiederbekommt. Menrir, was ist mit dir?“

Der Heiler druckste herum.

„Wenn du es wünschst, begleite ich dich natürlich. Aber der Weg ist für mich recht anstrengend,...“

„Tu was du willst. Möglicherweise suche ich dich bald in Elmenfall auf, aber warte nicht auf mich. Falls du bei Akosh bleiben willst, soll es mir auch recht sein. Wir werden uns sehen.“

Sara sah keinen der Umstehenden an, als sie Lennys nach draußen folgte. Die Straßen von Goriol kamen ihr plötzlich nicht mehr fröhlich und einladend vor, obwohl die ersten Sonnenstrahlen goldene Punkte auf die Erde warfen und Tautropfen in den Büschen und Gräsern diamanthell glitzerten. Es würde vielleicht ein schöner Tag werden, aber nicht für sie. Vor ihren Augen hatte sie noch die verbrannte Leiche Agubs und auch der Brandgeruch schien sich nicht wirklich verflüchtigen zu wollen. Doch all das war nichts im Vergleich zu dem, was sie eben in Akoshs Haus gehört hatte.

Lennys würde gehen. Sie würde den Tempel verlassen und nicht zurückkehren. Niemand hatte vorher sagen können, wie lange die Gesandte Cycalas bleiben würde, vielleicht nur wenige Tagen, vielleicht Wochen. Dass sie jetzt schon wieder abreisen würde, hatte sicher keiner vermutet.

Es waren drei anstrengende Tage gewesen, nicht wegen der Wanderungen oder der kurzen Nächte, sondern weil Lennys ständige Aufmerksamkeit und Umsicht erwartete, weil sie unberechenbar war und man es ihr kaum recht machen konnte. Und dennoch ... diese Aufgabe war anders gewesen als alles, was der Tempel Sara bisher geboten hatte. Sie hatte eigene Entscheidungen treffen dürfen, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Sie war gefordert worden, hatte das Gefühl gehabt, endlich das Leben kennenzulernen, ihm sogar einen Sinn zu geben, der nicht nur aus Beten und Kräutersammeln bestand. Und nun, da ihr dies allmählich klar wurde, war es auch schon vorbei und sie würde zurückgehen in die Düsternis einer Gemeinschaft, in der sie sich nie wirklich willkommen gefühlt hatte.

Tief in ihre Gedanken versunken, nahm Sara den Weg kaum wahr. Einem Mahnmal gleich erinnerte die Waldbrücke wieder an die Toten, doch der Drei-Morgen-Wald war wie ein grünes, verwaschenes Band, das zu allen Seiten vorbeiflog und sich viel zu schnell wieder hinter der Novizin schloss. Den Wald hinter sich zu bringen bedeutete, den Tempel zu erreichen. Der Tempel wiederum bedeutete das Ende eines kurzen Abenteuers, das Sara jetzt verfluchte. Hätte Menrir doch nur eine Andere erwählt, wäre doch Lennys gar nicht erst hierhergekommen... hätte sie doch nie gespürt, wie es war, den Fesseln Beemas zu entfliehen und jemandem zu dienen, der so anders war als Lennys. Dann würde sie es nie vermissen, es nie zurücksehnen und sein Ende nie bedauern.

Sie sprachen kein Wort bis sie den Kräutergarten erreichten, hinter dem sie sich nur drei Tage zuvor zum ersten Mal begegnet waren. 'Wahrscheinlich hat sie diesen Augenblick längst vergessen..' dachte Sara, doch sie war deshalb nicht wütend oder enttäuscht. Nein, eher schwang ein wenig Neid in diesen Gedanken mit. Was hätte sie dafür gegeben, selbst alles einfach vergessen zu können.

Wie immer zur Mittagszeit, herrschte im Innern des Gebäudes reges Treiben. Das gemeinsame Mahl war gerade beendet worden und die kurze Stunde der freien Zeit wurde gerne für ein Schwätzchen im Treppenhaus oder einen schnellen Besuch in der Bibliothek genutzt. Überall eilten Novizinnen in braunen, roten, schwarzen und grauen Kutten umher, tuschelten aufgeregt über den Tempelklatsch und kicherten über die Frisuren ihrer Freundinnen. Kaum öffnete sich die Tür zum Küchengang und Lennys trat heraus, verstummten die plappernden Münder aber und öffneten sich sprachlos. Nur wenige hatten die Cycala bisher aus der Nähe gesehen und selbst das nur kurz. Jetzt ging sie aber dicht an den wie eingefroren dastehenden Tempeldienerinnen vorbei, ohne sie dabei auch nur im Geringsten zu beachten. Selbst Sara hatte die Gänge in dieser Zeit noch nie so still erlebt und als sie die eifersüchtigen Blicke auf sich ruhen spürte, war sie ein wenig überrascht, dass ihr der Neid der anderen nichts ausmachte. Aber er befriedigte sie auch nicht.

Oben im Schlafzimmer angekommen, nahm Lennys zum ersten Mal den Beutel in Augenschein, den Menrir zwei Tage zuvor aus Goriol mitgebracht hatte. Sie hielt das Meiste der Ausrüstung für überflüssig und fragte sich, ob der Heiler nicht vielleicht mehr für sich selbst eingekauft hatte. Anderes war brauchbar, so zum Beispiel das Leinenseil und die Lederschnüre. Notwendig war beides jedoch nicht wirklich. Einzig die Schleifsteine fanden Lennys' Zustimmung. Ihr Kurzsäbel hatte eine Bearbeitung dringend nötig. Die Sichelklinge jedoch würde nicht mit dem minderwertigen Werkzeug vom Markt in Berührung kommen. Noch war sie scharf, doch vielleicht würde sie schon bald öfter zum Einsatz kommen und dann durfte nur ein Meister seines Fachs Hand an der wertvollen Waffe anlegen und dabei Material verwenden, wie es im ganzen Mittelland nicht zu finden war.

Sara wusste nicht recht, was sie tun sollte. Die Cycala sortierte die Gegenstände aus Menrirs Einkäufen, überflog gelegentlich die beiden Karten aus der Bibliothek und schärfte schließlich die Säbelklinge. Sie gab ihr keine Anweisungen, stellte keine Fragen und ließ sich vor allen Dingen überraschend viel Zeit bei ihrer Arbeit.

Nach einer Weile sagte die Novizin:

„Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich euch das Mittagessen bringen...“

Lennys sah sie nachdenklich an. „Nein, ich möchte nichts. Aber geh ruhig, wenn du Hunger hast.“

Sara schüttelte den Kopf.

„Gut, dann nicht. Eigentlich bist du fertig hier. Aber du kannst mir dieses Volk da draußen vom Leib halten, wenn ich gehe. Wann ist am wenigsten los?“

„Während der Abendmesse. Das dauert aber noch einige Stunden.“

„Meinetwegen. Soviel Zeit habe ich. Ach ja... ich will nicht, dass Beema etwas davon mitbekommt. Du kannst ihr morgen sagen, dass ich fort bin.“

Sara nickte. Beema würde toben, aber was spielte das für eine Rolle? Früher ja, da wollte Sara keinen Ärger mit der Vorsteherin, wollte nicht auffallen und am liebsten ihre Ruhe haben. Doch jetzt kam es ihr gerade recht, dass der letzte Befehl, den sie für Lennys erfüllen würde, einer war, der noch einmal für Wirbel sorgte. Was, wenn sie es ihr auch morgen nicht sagen würde, sondern erst zwei oder drei Tage später? Niemand würde es merken und eine Strafe, weil sie selbst sich in dieser Zeit vor dem Tempeldienst gedrückt hatte, war kaum zu befürchten, obwohl ihr nicht einmal das etwas ausgemacht hätte.. Jeder Tage, jede Stunde, in der Beema nichts von Lennys' Abreise wusste, würde der Cycala entgegenkommen, denn niemand konnte ahnen, dass sie dann schon längst nicht mehr im Nebeltempel war. Und sie? Sie würde die Stunden irgendwo im Wald verbringen oder in dem leeren Schlafzimmer. So lange, bis es auffiel. Wie lange konnten sie und Lennys fehlen, bevor es jemand merkte?

Sara beschloss, ihrer Herrin nichts davon zu sagen. Was, wenn es nicht klappte? Lennys würde es nie erfahren, nur sie selbst würde wissen, dass sie der Gesandten noch einen letzten Gefallen getan hatte. Das reichte. Dennoch machte sie die Aussicht darauf nicht froh. Im Gegenteil. Angst vor dem Wald hatte sie nicht, aber sie wollte nicht allein die Freiheit kosten, die sich ihr dort bot. Sie wollte nicht einfach darin herumspazieren. Sie wollte nicht so tun, als sei sie weiter in den Diensten dernSichelländerin. Sie wollte es sein.

Der Tempel war ihr Zuhause, seit sie denken konnte. Als kleines Kind hatte man sie hier ausgesetzt und seitdem war sie nichts anderes gewesen als ein Fußabtreter für Beema, Eria, Ilele und all die anderen. Natürlich, der Bibliothekar mochte sie und Menrir sowieso, aber sonst? Es gab schöne Erinnerungen, so an den Kräutergarten, das Archiv, die stillen Stunden allein im Schatten der Tempelmauer. Und weniger Schöne, die sie schon gar nicht mehr zählen konnte. Ein Zuhause, das sie für immer verlieren würde, wenn sie es verließ. Ohne die Aussicht auf ein Neues. Hier hatte sie eine Unterkunft, eine Ausbildung, sie wurde mit allem versorgt, was sie brauchte und hier drohte ihr keine Gefahr. Jenseits der Tore wartete das Nichts, die Ungewissheit, aber keine Zukunft. Sie bezahlte eine lebenslange Schuld, wenn sie hierblieb, denn der Tempeldienst war der Preis für eine Kindheit, eine Jugend und eine Sicherheit heute. Und doch bedeutete er ihr nichts. Es war nur gerecht, dass Beema verlangte, dass sie eine gehorsame Novizin war, dafür, dass sie überhaupt hier sein durfte. Was hatte sie sonst für eine Wahl?

Lennys schien Saras Anwesenheit bereits wieder vergessen zu haben. Sie war wieder in die Karte vom Drei-Morgen-Wald vertieft, die sie zwei Tage zuvor zur Schildkrautlichtung geführt hatte und fixierte genau diesen Punkt, markiert mit einem in eine Raute eingeschlossenem Kreuz. Ash-Zaharr, der Schlangendämon, ruhte nun dort, aus reinstem Silber und voller Geheimnisse.

So verbrachten sie lange Stunden, Lennys über die Karte gebeugt und tief in Gedanken versunken, Sara mit dem Blick auf Lennys, wartend und hoffend, dass diese Zeit nicht verging.

Nach einer Ewigkeit, wie es der Cycala schien, und einem Wimpernschlag, so kam es Sara vor, läutete die große Glocke im Westturm des Tempels. Das Zeichen zur Messe.

Ohne sich auch nur die geringste Gemütsregung anmerken zu lassen, warf sich Lennys den Umhang über, band sich Menrirs Beutel über die Schulter und ließ einen letzten Kontrollblick durch den Raum schweifen. Er blieb an Sara hängen.

„Wir werden uns nicht mehr sehen, denke ich. Ich werde Beema irgendwann wissen lassen, dass ich mit dir zufrieden war. Vielleicht hilft dir das.“

„Danke...“ flüsterte Sara und wünschte sich, dieser Moment wäre vorüber, denn er quälte sie weit mehr, als sie erwartet hatte. Es war mehr als nur ein bisschen Wehmut. Dann rang sie sich zu einer letzten Frage durch:

„Wo geht ihr jetzt hin?“

Lennys musterte Saras grünblaue Augen aufmerksam. Es gab keinen Grund, der Dienerin ihre Pläne zu offenbaren. Doch eigentlich gab es auch keinen Grund, der dagegen sprach, sie hatte ohnehin schon ganz andere Dinge mitbekommen.

„Vielleicht sehe ich mich noch ein wenig im Wald um. Spätestens morgen werde ich noch einmal Akosh aufsuchen und mit ihm ein Treffen mit den Cycala vereinbaren. Dann werde ich sehen...“

„Und Menrir?“

„Das ist seine eigene Entscheidung. Ich komme gut allein zurecht, aber wenn er unbedingt in die Gefahr rennen will, ....“

„Es ist aber auch für euch gefährlich.“ sagte Sara leise.

„Darauf kommt es nicht an. Und ich weiß mich zu wehren.“

Es gab nichts mehr zu sagen. Sara fühlte sich wie ein ferner Beobachter, diese Szene hatte nichts Abschließendes, kein wirkliches Ende. Selbst, als sie sich wieder und wieder ins Gedächtnis rief, dass sie gleich zum letzten Mal in ihrem Leben die Cycala aus dem Raum gehen sehen würde, kam es ihr so unwirklich vor wie ein Traum, an den man sich nur mühsam erinnert.

Lennys nickte ihr ein letztes Mal zu. Ihr Blick war eindringlich, dann nachdenklich und schließlich vielleicht sogar ein wenig bedauernd, so als wolle sie noch etwas sagen, es dann jedoch verwarf. Wortlos ging sie hinaus und schon längst waren ihre Schritte verhallt, als Sara, allein in dem Schlafzimmer zurückgeblieben, endlich begriff, dass sie jetzt keine Herrin mehr hatte.

Sichelland

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