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Kapitel 2

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Eigentlich war die Bezeichnung „Festsaal“ ein wenig zu hochtrabend für den großen runden Raum, obwohl er durch einige reich verzierte Säulen geschmückt und in das Licht zahlreicher Kerzenleuchter getaucht war. Doch konnte beides nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine größere Gesellschaft als die jetzige sich wohl beengt gefühlt hätte. Die schmalen Fenster sorgten kaum für einen erfrischenden Windstoß, der der drückende Hitze, die hier herrschte, hätte Einhalt gebieten können. Eine lange Tafel teilte das Zimmer in zwei Hälften.

Während mehrere Novizinnen noch eilig den Blumenschmuck und den Glanz der Weinkelche kontrollierten, sammelten sich auf der anderen Seite des Tisches allmählich die sieben Tempelvorsteherinnen, die direkt der Oberin Beema unterstanden. Auch sie sollten bei dem bedeutsamen Abend zugegen sein, ebenso der Bibliothekar, der Lagerverwalter, zehn der höheren Priesterinnen und nicht zuletzt der Heiler Menrir. Beema hätte auch gerne weitere Gäste wie den Dorfvorsteher Goriols oder dessen Bruder, einen sehr reichen Großgrundbesitzer, eingeladen, doch wieder hatte Menrir ihr von ihren Plänen abgeraten. Zugegeben, die Tafel würde für die zweiundzwanzig Anwesenden gerade genug Platz bieten, aber wäre es auf diese beiden denn wirklich noch angekommen? Und auch wenn sie den Wunsch der Botschafterin, alles im eher privaten Rahmen stattfinden zu lassen, selbstverständlich respektierte, so wäre doch gegen zwei Vertreter der größten Stadt des Mittellandes sicher nichts einzuwenden gewesen. Doch sie hatte sich dem Willen des Heilers gefügt – wie schon so oft in den letzten Tagen und Stunden seit sie von dem hohen Gast erfahren hatte.

'Hoffentlich...', dachte sie nun etwas missmutig, '...Hoffentlich weißt du diesen Umstand zu würdigen. Du wirst keinen Grund zur Klage haben und vielleicht wirst du endlich begreifen, dass ich mehr wert bin als diese albernen Kinder, mit denen du dich so gerne umgibst.' Sie wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. Diese Hitze tat ihr nicht gut und die stickige Luft in dem Saal würde ihr heute sicherlich wieder zu schaffen machen. Doch ein paar Schritte an der frischen Luft bevor das Mahl begann und einige Schlucke kalten Wassers würden ihren Kreislauf schon wieder in Schwung bringen.

Als Lennys eine gute Stunde später gegenüber der Oberin Platz nahm, schien diese wieder bester Stimmung. Tatsächlich fühlte sie sich nach einem kurzen Spaziergang wie neu geboren und brannte nun darauf, die so zurückhaltende und beinahe abweisende Gesandte Cycalas' für sich einzunehmen.

Die Speisen wurden von den Novizinnen, die für diesen Abend zum Tischdienst eingeteilt worden waren, auf großen polierten Platten hereingetragen und viele der Gäste murmelten anerkennende Bemerkungen beim Anblick von gebratenen Wachteln und Wildfilet, von frischen Trüffeln und kandierten Pflaumen, von golden geröstetem Brot und in Zwiebeln gedünsteter Schwarzwurzel. Solche Köstlichkeiten durften selbst die hochrangigsten Tempelbewohner nur äußerst selten genießen und dass der Lagerverwalter Hio immer wieder einen nervösen Blick auf die matt glänzenden, bastumwickelten Weinflaschen warf, ließ auf einen besonders erlesenen Tropfen darin hoffen.

„Hohe Herrin, ich hoffe, dieses bescheidene Mahl wird euren Erwartungen gerecht. Leider können sich unsere Köchinnen nicht mit denen König Logs messen und sicher wird auch in Cycalas eurem Gaumen mehr geschmeichelt als es hier der Fall ist.“ In Beemas Worten lag nichts anderes als die deutliche Hoffnung auf ein Lob ihres Ehrengastes. Lennys' Antwort enttäuschte sie ein wenig.

„Ihr habt euch mehr Mühe gemacht als notwendig gewesen wäre. Es entspricht eigentlich nicht meiner Gewohnheit, zu so später Stunde noch etwas zu essen.“

Die Cycala fing einen Blick von Menrir auf und fügte dann etwas wohlwollender hinzu: „Aber in Anbetracht dieser Umstände werde ich eine Ausnahme machen.“

Die Oberin wirkte erleichtert, auch wenn sie sich etwas mehr Anerkennung erhofft hatte. Erst als Menrir ihr durch Blicke und ein breites Lächeln seine Begeisterung für das Aufgetischte zum Ausdruck brachte, entspannte Beema sich wieder ein wenig und gab einem Mädchen durch Kopfnicken zu verstehen, dass nun der Wein geöffnet werden könne.

Während ein halbes Dutzend Novizinnen um die Gäste herum huschte um die Kelche zu füllen, beugte sich Menrir zu Lennys hinüber. „Für deine Verhältnisse war es wohl so etwas wie ein Lob, nehme ich an?“

„Ein unverdientes Lob, meiner Meinung nach...“ zischte Lennys zurück. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich das 'runterkriegen soll.“

„Versuch es wenigstens. Sie haben sich wirklich alle viel Arbeit damit gemacht. Und der Wein, der gerade ausgeschenkt wird, ist der beste, den Hio zu bieten hat, er stammt aus Fangmor.“

„Er könnte genauso gut aus Gahl stammen, das macht für mich keinen Unterschied. Ich kann mit Wein nicht viel anfangen.“

Als Sara sich mit einer der Flaschen näherte, um Lennys' Becher zu füllen, hob die Cycala die Hand. „Nicht mehr als nötig.“

Die anderen Gäste schienen nicht zu bemerken, dass Menrir seine Nachbarin zu jedem Bissen überreden musste, und auch die Tatsache, dass sie den Kelch zwar gelegentlich hob, aber nur selten zum Mund führte, entging den meisten. Der Heiler versuchte indes, Beema mit Fragen über die Zubereitung der Speisen davon abzulenken, ihre Gegenüber zu beobachten. Er hätte sich gerne zurückgelehnt und den Abend mit vollem Magen und verwöhnter Zunge genossen, doch als die Oberin nach einem etwas steifen „Ihr könnt euren Köchen ausrichten, dass sie meine Erwartungen voll erfüllt haben.“ von Lennys Seite über beide Wangen strahlte, war er trotz allem mit sich und dem Verlauf des Abends zufrieden. Lediglich die Aussicht auf die nun folgenden Gespräche und die normalerweise eher entspanntere Atmosphäre machten in etwas nervös. Wieder wurden die Becher gefüllt.

„Es wäre mir eine Ehre, euch morgen den Tempel und seine Anlagen zu zeigen, Herrin.“ begann die Oberin nun etwas mutiger, während sie an ihrem zweiten Kelch Wein nippte. „Einige unserer Gewölbe sind für gewöhnlich verschlossen, doch euch soll unsere Sammlung von Waffen und Kunstgegenständen aus alten Zeiten nicht verborgen bleiben.“ Geistesabwesend zog Beema ein Taschentuch hervor und tupfte sich über die Stirn.

Lennys antwortete nicht sofort, sondern beobachtete die Tempeloberste aufmerksam.

„Ich habe einige dringende Angelegenheiten zu regeln.“ sagte sie dann ohne den Hauch eines Bedauerns. „Es ist mir noch nicht möglich, vorherzusehen, wann sich die Gelegenheit für eine Besichtigung ergeben wird, aber ich werde es euch wissen lassen, wenn es soweit sein sollte.“

„Natürlich.... ich stehe euch jederzeit zur Verfügung...“ nickte Beema und griff erneut zu ihrem Taschentuch. „Vielleicht möchtet ihr auch gerne unsere Bibliothek besuchen. Unser Schriftmeister ...Baramon wird euch gerne das Archiv zeigen, ..." Sie sah zu dem einzigen Stuhl, der bislang leer geblieben war. Jener Bibliothekar, von dem sie gesprochen hatte, hatte sich unmittelbar vor Beginn des Essens wegen Unpässlichkeit von der Feier entschuldigen lassen.

"...es reicht mehrere hundert Jahre zurück....“

Menrir runzelte die Stirn. Irrte er sich oder wurde der Atem der Oberin schwerer? Auch schien ihr Gesicht nicht mehr so rosig wie noch vor einigen Minuten... oder täuschte das durch die flackernden Kerzen rings herum? Es war ein heißer Tag gewesen und der süße, schwere Wein wirkte sicher schneller als er es sonst getan hätte. Lennys schien allerdings nichts zu bemerken, sie musterte Beema nur ausdruckslos und schien auf nähere Erklärungen über das Tempelarchiv zu warten.

„... es soll sogar Aufzeichnungen über... den Chaz-Kult enthalten..., obwohl es heißt, ... dass alle... alten Schriften darüber.. vernichtet wurden...“ Beema schluckte und schien nun Mühe zu haben, weiter zu sprechen. Menrir beugte sich nach vorne.

„Oberin, ist alles in Ordnung?“

„Aber ja.. es ist... mir ist nur ein wenig heiß...“ Sie keuchte.

Nun wurden auch einige der Priesterinnen und die Vorsteherin der Kräuterküche auf das Unwohlsein ihrer Schwester aufmerksam.

„Soll ich euch nach draußen bringen?“ fragte eine ältere Frau in hellgrauer Kutte.

„Nein...nein...danke, das ist nicht....oder vielleicht könntest du, Menrir...?“

Der Heiler sprang sofort auf und eilte um den Tisch. „Aber natürlich, Oberin. Die kühle Luft wird euch gut tun, kommt. Und vielleicht auch ein paar Tropfen zur Stärkung...“

Zusammen mit der alten Priesterin half Menrir Beema auf und stützte sie bis sie die Tür des Saales erreichten. Kaum war diese hinter ihnen wieder ins Schloss gefallen, lebten die Unterhaltungen wieder auf und die Anwesenden feierten ungerührt weiter.

„Ihr müsst wissen, Herrin, unsere Oberin ist recht anfällig, was ihren Kreislauf betrifft.“ erklärte eine andere Tempeldienerin. „An Tagen wie heute passiert das öfter, es besteht kein Anlass zur Sorge.“

Ihre Tischnachbarin kicherte weinselig. „Ja, und der arme Menrir muss es immer ausbaden.“

„Es ist nicht viel Zeit.“ flüsterte jemand hinter Lennys. „Ich weiß nicht, wie schnell die Medizin heute wirkt....“

Als sich die Cycala erhob, verstummten sofort Gespräche wie auch Gelächter und auch die Novizinnen, die im Hintergrund neue Flaschen öffneten, schienen in ihrer Bewegung zu erstarren.

Sara trat einen Schritt vor.

„Die Botschafterin wünscht sich nach der weiten Reise nun in ihre Räumlichkeiten zurückzuziehen, doch sie dankt allen Anwesenden wie auch unserer Oberin für diesen gelungenen Abend. Sie bedauert, nicht weiter mit euch feiern zu können und bittet darum, dass das Fest auch ohne ihre Anwesenheit fortgesetzt wird. Bitte richtet Oberin Beema zudem die besten Genesungswünsche im Namen der Gesandten Cycalas' aus.“

Einige der Tischgäste nickten unsicher, andere standen auf und verneigten sich nervös als Lennys nun an ihnen vorbei schritt und auf die Tür zuhielt. Sofort eilten mehrere Mädchen herbei um die Flügel zu öffnen und schüchtern eine angenehme Nacht zu wünschen.

Im ersten Stock herrschte Stille und noch nicht einmal diejenigen, denen die Teilnahme am Festmahl verwehrt geblieben war, schienen sich in die Nähe des Nordflügels zu wagen, in dem das Schlafzimmer lag. Mittlerweile war es in dem Raum angenehm kühl geworden und als Lennys die Vorhänge zurückzog, wehte eine feuchtkalte Brise herein. Der Nebel war zurückgekehrt.

„Was war in ihrem Wein?“ fragte Lennys schlicht als Sara die Tür wieder verschlossen hatte. Die Novizin zögerte.

„Es ist kein Vorwurf. Ich will es nur wissen.“

„Gall-Öl. Ich habe ihren Kelch mit ein paar Tropfen davon eingerieben, bevor die Feier begann.“ antwortete Sara schließlich leise.

„Du warst die ganze Zeit neben mir.“ erwiderte Lennys.

„Nicht, als Beema euch begrüßt und euch zu eurem Platz geleitet hat.“

„Ich bin keine Heilerin. Was ist die Wirkung von diesem Zeug?“

„Es verursacht Hitzewallungen und manchmal auch Übelkeit. Eigentlich ist es nicht sehr stark, aber Beema ist etwas empfindlicher als andere. ... Ich habe auch nur sehr wenig genommen.“

„Nicht mehr als nötig, meinst du.“ Die Spur eines Lächelns zeigte sich auf Lennys Gesicht, doch es war ebenso schnell wieder verschwunden wie es gekommen war.

„Das war gut.“ sagte sie dann nur, doch Sara empfand diese Worte als das größte Lob, das sie hätte bekommen können.

„Dir ist hoffentlich klar,....“ sagte Lennys dann wieder ernst, „..dass Menrir uns beiden dafür den Kopf abreißen würde, wenn er es wüsste?“

„Ja....“

„Er wird ohnehin nicht begeistert sein, wenn er sieht, dass ich gegangen bin. Am besten, wir lassen ihn eine Nacht darüber schlafen. Wenn er heute noch einmal hier oben auftauchen sollte, wirst du ihn nicht hereinlassen, verstanden?“

„Ja.“

„Gut. Du kannst im Vorraum schlafen. Nimm dir ein paar von den Decken, es sind mir sowieso zu viele. Und zieh den Vorhang hinter dir zu.“

Sara nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle.

„Ist noch etwas?“

Statt einer Antwort holte die Novizin etwas aus der Innentasche ihrer Kutte hervor. Der Gegenstand war in ein helles, grobes Leinentuch eingeschlagen.

„Was ist das?“

„Rum aus Manatara. Ich weiß nicht, ob ihr ihn mögt, aber....vielleicht ist er euch lieber als der Fangmor-Wein.“ sagte Sara etwas unsicher.

Lennys starrte sie ungläubig an.

„Sag jetzt nicht, dass du während Beemas Begrüßung auch noch in den Keller eingebrochen bist.“

Sara schüttelte den Kopf.

„Nein. Menrir hat schon vor längerer Zeit einmal erzählt, dass man nördlich von Valahir keinen Wein trinkt. Es ist mir heute morgen eingefallen.“

Draußen auf dem Gang hallten Schritte. Jemand hatte es scheinbar eilig, doch er hastete an dem Zimmer vorbei und war kurz darauf nicht mehr zu hören. Einen Moment lang blieb Lennys' Blick an der Tür haften als erwartete sie, dass doch noch ein ungebetener Besucher hereinstürmte, doch alles blieb ruhig. Sie wandte sich wieder Sara zu.

„Du kannst jetzt schlafen gehen.“ Sie sah auf das Leinenbündel in den Händen der Novizin. „Und lass die Flasche hier.“

„Das war wirklich nicht ... nett...“ sagte Menrir am nächsten Morgen verärgert. „Ich dachte, wir hätten ausgemacht, dass wir versuchen, etwas aus Beema herauszubekommen? Was diese ... Dinge angeht, du weißt schon!“ Er lief gereizt auf dem steinigen Weg des Tempelhofes auf und ab. Kurz zuvor hatte Sara ihn in seinem Gästezimmer aufgesucht und ihm bestellt, dass Lennys ihn draußen hinter dem Waschhaus erwartete, wo um diese Zeit noch keine Menschenseele die Ruhe störte.

„Wir?“ zischte Lennys gefährlich. „Wir haben rein gar nichts beschlossen, sondern du hattest nur deine eigenen Vorstellungen. Und du solltest dir ein für alle Mal merken, dass diese nicht von Belang sind. Versuch nicht, mir Vorschriften zu machen, alter Mann, es könnte das Letzte sein, was du tust!“

„Aber versteh doch...“ erwiderte der Heiler jetzt entschuldigend. „Es geht doch um etwas viel Wichtigeres als um festliche Empfänge. Ich weiß ja, dass du sie nicht magst, aber statt die Gelegenheit eines schnellen Abgangs zu nutzen, wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, zu warten und Beemas Weinlaune auszunutzen.“

„Ehrlich gesagt lege ich auf ihr Geschwätz keinen Wert, selbst wenn sie neue Informationen hat.“ sagte Lennys kalt. „Wenn du glaubst, ihr Wissen sei von Nutzen, dann frag du sie doch. Ich halte mich lieber an zuverlässige Quellen oder noch besser – ich verlasse mich auf das, was ich selbst sehe und höre.“

Menrir beschloss, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Er hätte wissen müssen, dass die Cycala in irgendeiner Form ihren Willen durchsetzen würde, auch wenn ihr dieses Mal der Zufall zur Hilfe gekommen war. Und es war gefährlich, sie weiter zu reizen, obgleich er nach wie vor überzeugt war, dass seine Sichtweise der Dinge mehr Verständnis verdiente.

„Was hast du heute vor?“ fragte er dann resigniert. „Willst du vielleicht nach Goriol? Hio fährt mit dem Pferdewagen hinunter und könnte uns mitnehmen. Soweit ich weiß, treffen dort heute mehrere gefragte Händler ein, wir würden sicher einige nützliche Dinge finden.“

„Geh hin, wenn du willst und kauf, was du für nötig hältst.“ erwiderte Lennys gleichgültig. „Aber hoffe nicht auf meine Gesellschaft, ich habe etwas anderes vor.“

„Und was, wenn ich fragen darf?“

„Ich will mir etwas ansehen. Es ist nicht nötig, dass du mitkommst.“

Menrir wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter nachzufragen. Und obwohl er nicht ernsthaft damit gerechnet hatte, Lennys in den nächsten Tagen auf allen Wegen begleiten zu dürfen, fühlte er sich verletzt. Er fragte sich, ob diese Abfuhr eine Art Antwort auf das misslungene Fest des Vorabends war, das Lennys ihrer Meinung nach nur seinetwegen hatte ertragen müssen.

Noch bevor er den Versuch machen konnte, dem Gespräch doch noch eine freundliche Note zu verleihen, wurden sie unterbrochen. Schritte näherten sich hinter dem Waschhaus und gleich darauf erschien Sara hinter ihnen. Sie blieb einige Meter entfernt stehen, doch Lennys ignorierte ihre Anwesenheit.

„Falls du nach Goriol gehst, kannst du Akosh sagen, dass ich ihn in den nächsten Tagen aufsuchen werde. Sorge aber dafür, dass es sonst niemand mitbekommt. Wenn du lieber hierbleiben willst, soll es mir auch recht sein.“ sagte sie weiter an Menrir gewandt.

„Du brauchst mich also den ganzen Tag nicht?“

„Nein, ich denke nicht. Ich werde kaum vor dem frühen Abend zurück sein, schon allein, damit Beema mir nicht diese entsetzliche Tempelführung aufdrängen kann. Der gestrige Abend in ihrer Gesellschaft war mehr als genug.“ Dann warf sie einen Seitenblick auf Sara, als hätte sie sie erst in diesem Moment bemerkt. „Geh nach oben und warte dort.“

Die Novizin nickte und verschwand wieder und Menrir ergriff die Gelegenheit, die Unterhaltung doch noch ein wenig fortzuführen.

„Und? Ist sie so eine verzogene 'Göre' wie du befürchtet hast?“ fragte er neugierig, aber statt einer Antwort runzelte Lennys nur die Stirn.

„Wieso interessiert dich, was ich über diese Leute hier denke? In ein paar Tagen bin ich von hier verschwunden und bis dahin habe ich Besseres zu tun als mich um deine Lieblinge zu kümmern. Wehe, du hetzt mir noch mehr davon auf den Hals!“

„Also ist sie gar nicht so übel, habe ich das richtig herausgehört?“ grinste Menrir .

„Genau das ist dein Problem. Du siehst Gespenster und hörst, was du hören willst.“ Mit diesen Worten machte Lennys auf dem Absatz kehrt und ließ den Heiler allein im Hof zurück.

Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer begegnete Lennys niemandem. Die meisten Tempelbewohner waren noch beim Morgengebet versammelt oder bei den Frühstücksvorbereitungen in der Küche zugange. Es würde nicht mehr lange dauern und die Flure waren wieder bevölkert von diesem geschwätzigen und neugierigen Volk. Sie beschleunigte ihren Schritt, um dieser Aussicht möglichst zu entgehen.

Sara wartete wieder in dem kleinen Vorraum, in dem sie schon die Nacht verbracht hatte und als Lennys den Raum betrat, stand sie nur wortlos auf und schloss die Tür hinter der Cycala.

„Und?“ fragte Lennys ohne Umschweife. Sara holte zwei Pergamentrollen hervor.

„Baramon hat den Schlüssel zum Archiv wohl mit zum Gebet genommen. Es gab nur zwei Karten, die nicht eingeschlossen waren. Diese hier...,“ Sie reichte Lennys die kleinere der beiden Rollen, „...zeigt das Gebiet rund um den Tempel bis zu den ersten Gipfeln von Valahir. Aber sie ist sehr genau und scheint auch recht neu zu sein. Die andere zeigt das gesamte östliche Mittelland, aber nicht einmal der Nebeltempel ist darauf eingezeichnet und sie scheint auch sonst einige Fehler zu haben.“

„Was für Fehler?“

„Hier, im Drei-Morgen-Wald soll laut dieser Karte ein Friedhof sein oder eine religiöse Stätte. Aber ich bin schon mehrmals in der Gegend gewesen, so etwas gibt es da ganz sicher nicht.“

Überrascht nahm Lennys ihr die zweite Karte aus der Hand und starrte auf das fleckige Pergament. Ihr Blick verfinsterte sich.

„Wir nehmen diese. Die andere nützt nichts, ich nehme an, dass du dich gut genug hier auskennst, so dass wir auf sie verzichten können.“

Sara sah erstaunt auf.

„Ist etwas?“ fragte Lennys ungeduldig als sie die Verwunderung der Novizin bemerkte.

„Nein... ich... ich dachte nur, ihr würdet lieber alleine gehen?“

„So, dachtest du das. Das würde ich auch lieber, da kannst du dir sicher sein. Aber möglicherweise bist du heute noch einmal nützlich und zurückschicken kann ich dich immer noch. Und jetzt beeil dich, oder willst du etwa so in den Wald?“ Sie musterte den feinen Stoff aus dem Saras dunkelrote Kutte gewebt war.

Die Novizin schüttelte den Kopf.

„Na also. Zieh dich um und komm dann zum Nebeneingang. Und sage niemandem, wo du hingehst. Wenn du schnell bist, sind wir draußen, bevor alle in der Halle herumlungern und Stielaugen kriegen.“

Nachdem Sara hinausgegangen war um die Kleidung zu wechseln, beugte Lennys sich noch einmal über die Karte Mittellands. Sie sah nicht ganz so neu aus wie das andere Pergament, doch etliche Flecken und auch einige Risse an den Rändern ließen sie älter wirken als sie eigentlich war.

Östlich des Mondsees hatte jemand tatsächlich eine Raute mit einem Kreuz darin in den Wald gemalt – das Zeichen für eine Begräbnis- oder Zeremoniestätte, wie Sara bereits richtig erkannt hatte. Das Symbol war noch an einigen anderen Stellen zu finden, allerdings fiel dieses aufgrund seiner Größe am meisten auf.

Lennys wusste, dass sie diese Zeichnung nicht zurückgeben würde. Sie war vielleicht die einzige ihrer Art und die Tatsache, dass der sonst so gewissenhafte Bibliothekar sie offen liegengelassen hatte, beunruhigte sie. Beemas gestrige Erwähnung über das geschichtlich bedeutsame Tempelarchiv hatten Lennys auf die Idee gebracht, Sara in den frühen Morgenstunden nach Karten der Umgebung suchen zu lassen, solange Baramon noch an den Gebeten teilnahm. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass ein Dokument wie dieses jemals ungeschützt in einem Raum herumliegen würde, in dem normalerweise halbwüchsige Mädchen ihre Kräuterverzeichnisse wälzten.

'Das wird es in Zukunft auch nicht mehr' dachte sie dann mit grimmiger Zufriedenheit und rollte die Karte wieder zusammen.

Kaum hatte Lennys den Kräutergarten durch die Seitentür erreicht, öffnete diese sich erneut. Sara hatte nicht lange auf sich warten lassen.

Die Novizin trug ebenfalls robuste Stiefel, darüber eine hellbraune Arbeiterhose aus grobem Leinen und eine einfache lose Bluse aus gebleichter Baumwolle, die von einem breiten Ledergürtel zusammengerafft wurde. Über ihre Schulter spannte sich der Riemen einer abgenutzten Tasche, wie Kräutersammler sie tragen und auf der ein zusammengerollter Reiseumhang aus brauner Wolle festgeschnürt war.

Lennys musste sich eingestehen, dass Sara den bevorstehenden Marsch wohl nicht vollkommen unterschätzte und wusste nicht recht, ob sie damit zufrieden sein sollte oder verärgert, dass sie an dieser Stelle keine zurechtweisende Bemerkung loswerden konnte.

„Gehen wir.“ sagte sie schließlich knapp und schlug den gewundenen Pfad nach Westen ein, der nach etwa einer halben Stunde in den Drei-Morgen-Wald führte.

Zunächst verlief der Weg zwar etwas holprig und vielerorts von Farnen und Dornenranken überwuchert zwischen den Bäumen hindurch, doch war er beinahe immer deutlich zu erkennen. Lennys ahnte, dass nicht nur die Pflanzensammler des Nebeltempels, sondern auch einzelne abenteuerlustige Wanderer den Pfad von Zeit zu Zeit benutzten. Einen Pferdekarren hatte man in dieser Gegend allerdings wohl noch nie gesehen, denn viele Stellen konnte man selbst zu Fuß nur hintereinander passieren.

Beinahe zwei Stunden waren nun seit ihrem Aufbruch vergangen und Lennys hatte seitdem kein Wort mehr an die Novizin gerichtet. Sie war ein wenig überrascht, dass Sara so gut mit ihr Schritt hielt, allerdings hatte die Strecke auch noch keine großen Anforderungen an sie gestellt. Das würde sich nun ändern. Sie blieb stehen und zog die Karte hervor.

„Wir werden uns von jetzt an weiter nördlich halten. Bislang sind wir recht gut vorangekommen, aber wenn du das Gefühl hast, dass es dich doch angestrengt hat, kehrst du besser um.“

Sara schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut.“

Lennys zuckte die Achseln. „Na schön, wenn du meinst. Ich werde keine Rücksicht auf dich nehmen, wenn du schlappmachen solltest.“ Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, studierte sie nachdenklich das Pergament und sah auch nicht auf als Sara vorsichtig die Stille durchbrach.

„Darf ich euch etwas fragen?“

„Frag.“

„Wenn wir nach Norden gehen... wollt ihr...zu der Stelle, die auf der Karte mit dem Kreuz markiert ist?“.

Lennys antwortete nicht, sondern starrte weiter auf die Zeichnung, ohne sie wirklich zu sehen. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, das Mädchen mitzunehmen. Im Grunde wusste sie selbst nicht, was sie sich dabei gedacht hatte. Zugegeben, sie hatte ihr gestern abend tatsächlich einen Gefallen getan, indem sie für Beemas Übelkeit gesorgt hatte. Und diese Karte hier... Aber nein, sie schuldete niemandem einen Gefallen und ganz abgesehen davon wäre es Sara selbst wohl auch lieber gewesen, wenn sie hätte zu Hause bleiben können. Was sollte diese Novizin hier schon nützen? Und vor allem – warum sollte sie ihr irgendetwas erklären? Menrir war es gewesen, der kurz nach ihrer Ankunft dafür gesorgt hatte, dass Sara sowieso schon viel zu viel wusste. Warum eigentlich?

'Ich hätte es gar nicht soweit kommen lassen dürfen..' dachte Lennys. 'Jetzt lasse ich mir schon von einem alten Mann und einem naiven Kind auf der Nase herumtanzen.' Andererseits wusste sie, dass es ungerecht war, denn besonders dumm hatte sich Sara ja eigentlich nicht verhalten, im Gegenteil. Aber war das nicht genau das, was man von einer Leibdienerin zu erwarten hatte – dass sie ohne große Erklärungen das Richtige tat und sich ansonsten quasi unsichtbar machte? Vielleicht hätte Menrir doch eine dieser anderen beiden albernen Gänse aussuchen sollen, dann wäre die Angelegenheit nach zwei Minuten durch einen klaren Rauswurf erledigt gewesen und sie, Lennys, würde sich jetzt nicht solche eigentlich unsinnigen Fragen stellen.

Sie betrachtete noch einmal das Bild Mittellands und die vielen kleinen schwarzen Kreuze. Dann das größte von ihnen. Was tat sie hier eigentlich? Heute morgen, bevor sie dieses Pergament in den Händen gehalten hatte, da hatte sie es noch gewusst. Da war der Weg, den sie heute hatte gehen wollen, noch ein anderer gewesen und er hatte ein Ziel gehabt, das diese Bezeichnung auch verdiente. Und jetzt? Natürlich, sie konnte sich noch anders entscheiden, konnte dem Pfad weiter nach Westen folgen, der später einen Bogen nach Süden schlug und nach Goriol führte. Ein gewaltiger Umweg zur Stadt der Wanderer, aber sie schuldete niemandem Rechenschaft über ihre Entscheidungen. Auch wenn sie hier umkehrte und sich dann in Richtung Gebirge aufmachte, würde sie keine Erklärung abliefern müssen. Und plötzlich verwünschte sie diese Karte, sie verfluchte Sara, weil sie sie ihr gebracht hatte und sie verdammte Menrir, denn ohne ihn gäbe es keine Novizin, die irgendwelche Schriftrollen aus der Tempelbibliothek stahl und jetzt Fragen darüber stellte.

„Es spielt für dich keine Rolle, wo wir hingehen.“ sagte sie dann eisig. „Außerdem hast du selbst gesagt, da wäre nichts.“

Sara zögerte. „Kein Friedhof oder so etwas ähnliches, nein.“

Lennys stutzte.

„Sondern?“

„Ich... bin mir nicht sicher, ob es genau die Stelle auf der Karte ist. Aber dort oben ist eine Lichtung, auf der mehr Schildkraut wächst als irgendwo sonst im Wald. Ich war schon öfter mit der Vorsteherin der Kräuterküche dort, um es zu sammeln. Wir können es nicht selbst anbauen, der Boden um den Nebeltempel ist zu hart dafür...“

„Also nur eine Stelle zum Kräutersammeln? Nichts Besonderes also...“

„Eigentlich nicht. Bis auf den Brunnen.“

„Brunnen?“

„Niemand weiß so recht, wer ihn gebaut hat und auch nicht, warum. Es gibt ja genug Quellen und Bäche im Wald. Er steht mitten auf der Lichtung, aber ich glaube, er führt gar kein Wasser, außer vielleicht, wenn sich der Regen darin sammelt. Ich habe einmal einen Stein hineingeworfen und es hörte sich an, als wäre er auf hartem Boden aufgeschlagen, aber der Schacht ist zu tief und zu dunkel um hinunter zu sehen.“

„Und du sagst, niemand weiß etwas darüber?“

„Nein, ich glaube nicht. Aber es wagen sich auch nicht Viele so weit in den Wald hinauf, es heißt ja, dort hätten einige Diebesbanden ihr Versteck. Vielleicht haben die ja auch den Brunnen gegraben, aber sicher weiß das keiner.“

„Wenn sich dort soviel Gesindel herumtreibt, wundert es mich, dass ihr dort in aller Seelenruhe Kräuter sammeln geht.“ erwiderte Lennys misstrauisch.

„Wir gehen nicht oft hinauf und nur am Tage. Und nie allein. Das Schildkraut lässt sich nur für kurze Zeit im Spätherbst ernten, sonst ist es für die Heilkunde unbrauchbar. Alle haben immer große Angst, wenn es soweit ist und hoffen, dass sie nicht dafür eingeteilt werden, aber passiert ist trotzdem noch niemandem etwas. Vielleicht wissen die Banden, dass von uns nichts zu holen ist oder sie wollen keine Tempeldiener angreifen.“

„Und du warst schon mehrmals dabei?“

„Ich... bin immer dabei.“

Lennys sah nach Norden in den immer dichter werdenden Wald. Das, was sie eben gehört hatte, trug weder dazu bei, ihr das Weitergehen zu erleichtern, noch, sie davon abzuhalten. Es trieb sie vorwärts und hielt sie gleichzeitig mit eisernem Griff zurück. Sie hatte Sara nicht gesagt, dass sie den 'Brunnen' sehr wohl kannte, und genausowenig, dass sie nie im Traum daran gedacht hätte, den Schacht als solches zu bezeichnen. Für sie war er etwas völlig Anderes.

Schließlich traf sie eine Entscheidung und schlug ohne ein weiteres Wort den Weg nach Norden ein.

Bald war kein fester Pfad mehr erkennbar. An einigen Stellen schienen die dornigen Sträucher und tiefhängenden Äste der düsteren Bäume etwas zurückzuweichen, um gleich darauf wieder eisern das Weitergehen zu verhindern. Mehrmals musste Lennys zu ihrem kurzen Säbel greifen um einen Durchgang freizuschlagen. Auch war das Gelände nicht mehr so eben wie zu Beginn der Wanderung, sondern stieg immer wieder steil an und forderte dadurch viel Kraft und Geschick.

Sie erreichten die Lichtung gegen Mittag. Zunächst schien nur der Wald weniger düster zu sein und die Sonne war nicht länger nur über dem dichten Blätterdach zu erahnen, sondern malte dann und wann auch goldene Muster auf den modrigen Boden. Dann plötzlich wichen die Bäume zur Seite und vor ihnen breitete sich eine grüne Oase aus, als hätte jemand ein Loch in die hohe Vegetation geschnitten und nur den feinen Gräsern und dem weißblühenden, dickstängligen Schildkraut erlaubt, weiter zu wachsen.

Lennys blieb unter den letzten Eichen stehen, die den Rand des Platzes säumten.

„Du bleibst hier.“ sagte sie, ohne Sara dabei anzusehen.

„Wenn... jemand....“ begann die Novizin, doch Lennys unterbrach sie.

„Es kommt niemand. Hier gibt es keine Banditen.“

Sie ging auf die Mitte der Lichtung zu und jeder Schritt, den sie tat, forderte mehr Kraft als der gesamte Weg zuvor.

Der Brunnen war aus der Ferne nicht zu sehen. Es war ein einfacher, niedriger Mauerring, nur etwa kniehoch und rundherum von hohen Gräsern verborgen. Keine Pumpe, kein Gefäß, um Wasser an einer ebenso fehlenden Kette hinaufzuziehen. Wasser, das ohnehin nicht da war.

Lennys sah nicht hinein. Sie starrte auf die Mauersteine ohne sie zu sehen, aber sie wusste auch, dass sie noch weit davon entfernt war, in die Tiefe blicken zu können. Vermutlich gab es dort nichts zu sehen außer Schwärze und Leere, der Grund war viel zu tief. Aber wenn man etwas erkennen konnte... irgendetwas... dann wollte sie es nicht sehen. Niemals. Die Vergangenheit war auch so nur allzu lebendig, gerade hier, gerade jetzt. Und es waren jetzt nicht die brüchigen Mauersteine, die sie sah, sondern Bilder aus einer anderen Zeit. Bilder, von denen sie geglaubt hatte, sie hätte sie für immer aus ihrem Gedächtnis verbannt und doch waren sie jetzt lebendiger als jemals zuvor. Sie niederzukämpfen, sie zu vertreiben und sie zurück ins Dunkel zu jagen, in der Hoffnung, sie mögen auf ewig dort in der Vergessenheit verbleiben, war eine Schlacht gegen unsichtbare Feinde. Eine Schlacht, die Lennys in diesen Minuten bestritt, doch sie wusste, dass sie nicht einfach gehen konnte. Sich umdrehen und wieder in das friedliche Grün des Drei-Morgen-Waldes zu starren, würde nicht den ersehnten Sieg bringen. Nein, sie musste es hier schaffen, wohl wissend, dass sie an diesem Ort der Vergangenheit näher war als sonst irgendwo. Sie lief dem Feind in die Arme, denn nur dort konnte sie über ihn triumphieren. Und er konnte sie für immer gefangennehmen, sollte sie bei diesem Versuch unterliegen.

Sara wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie war dort am Waldrand stehengeblieben, wie Lennys es von ihr verlangt hatte und hatte ihre Herrin beobachtet. Diese kniete nun schon so lange unbeweglich am Rande des Brunnens, dass es Sara allmählich unheimlich wurde. Was war das für ein Ort, was war dort unten und warum war ihre Herrin hierher gekommen? Zuerst hatte die Novizin geglaubt, Lennys würde etwas suchen oder vielleicht jemanden antreffen wollen, aber nichts dergleichen geschah. Es kam auch niemand hierher, ganz wie die Cycala es prophezeit hatte. 'Es gibt hier keine Banditen' hatte sie gesagt. Weil sie es nicht glaubte? Oder weil sie es besser wusste? Aber woher kamen dann all die Geschichten von brutalen Überfällen, von Plünderungen und Entführungen? Andererseits hatte Sara hier selbst schon viele Stunden verbracht und noch nie war sie jemandem begegnet, abgesehen von einem Wanderer und einem Kräutersammler, die beide einen verängstigten Eindruck gemacht hatten. Doch heute störte niemand die Stille auf der Lichtung und selbst die Vögel und Insekten schienen ihr sonst so lebhaftes Konzert für die beiden Besucher zu unterbrechen. 'Es ist kein guter Ort', dachte Sara. Auch Lennys war nicht gerne hierher gekommen, und die Tatsache, dass sie scheinbar wusste, was sich hinter oder vielmehr in diesem seltsamen Schacht verbarg, wirkte nicht gerade beruhigend. Trotzdem verspürte Sara keine wirkliche Angst, es war eher so, als würde etwas, das sie selbst nicht sehen konnte, einen Schatten auf ihre Stimmung werfen.

Endlich richtete die Cycala sich wieder auf. Noch konnte sie den Blick nicht abwenden von diesem unscheinbaren Mauerkreis, doch unverkennbar schien sie die Herrschaft über ihren Willen und die gesamte Situation zurückzugewinnen. Sie griff in die Innentasche ihres Umhanges und zog ein schwarzes, zusammengeschlagenes Tuch heraus. Dann nickte sie Sara zu sich.

„Weißt du, was das ist?“ fragte sie und wickelte eine feine Silberkette mit einem kunstvoll gearbeiteten Anhänger aus der Seide. Das Schmuckstück zeigte eine gewundene und doppelt geflügelte Schlange, die das Maul weit geöffnet hatte und schimmernde Fangzähne entblößte. Statt eines Auges funkelte dem Betrachter ein mitternachtsblauer Saphir entgegen.

Sara betrachtete den Anhänger und war sich sicher, dass dies selbst für cycalanische Verhältnisse ein Meisterstück darstellte, denn die Figur wirkte so lebendig und war so detailliert geformt, dass man glauben konnte, sie würde sich jeden Moment auf Lennys' Hand zu winden beginnen.

„Ash-Zaharr..?“ fragte Sara unsicher.

„Du kennst dieses Bild also. Was weißt du darüber?“ fragte Lennys weiter ohne eine Reaktion auf Saras Antwort zu zeigen.

„Nicht viel. Er ist der Dämon der Finsternis und des Todes und lebt ausschließlich von Blut. Er tritt meist als geflügelte Schlange auf. Ein Schauermärchen, um Kindern Angst zu machen und deshalb erwähnen die Tempellehren ihn nicht weiter.“

Lennys nickte düster.

„Ein Märchen. Nicht weiter erwähnenswert.“ Sie streckte die Hand über dem Brunnen aus und ließ die Kette samt Anhänger, ohne sie noch einmal anzusehen, in die Tiefe hinabfallen. Kaum wahrnehmbar schlug das Silber leise klirrend auf etwas Hartem auf.

„Du sagtest, du hättest einmal einen Stein hineingeworfen, um zu hören, wie tief der Schacht ist?“ fragte Lennys dann.

„Ja, als ich das erste Mal hier war.“

Die Cycala sah Sara tief in die Augen und ihr Blick war so bedrohlich wie nie zuvor. „Ich möchte nicht, dass du so etwas noch einmal tust.“

„Das hatte ich nicht vor. Ich weiß, was ich wissen wollte.“ antwortete Sara und hätte sich im selben Moment am liebsten die Zunge abgebissen. Doch Lennys' Ausdruck entspannte sich.

„Dann ist ja gut.“ Sie machte ein paar Schritte in Richtung Waldrand.

„Wir gehen zurück. Es ist spät geworden und ich möchte noch einen kleinen Umweg machen.“

Zunächst folgten sie dem Pfad, auf dem sie hergekommen waren, in Richtung Süden, doch an der Kreuzung bog Lennys nicht zum Nebeltempel im Osten, sondern nach Westen in Richtung Goriol ab. Bald darauf führte der Weg wieder weiter nach Süden und somit direkt auf die Stadt der Wanderer zu. Die Sonne stand schon recht tief. Besorgt warf Sara einen Blick zum Himmel.

„Hast du Angst vor der Dunkelheit?“ fragte Lennys spöttisch.

„Nein. Ich dachte nur, ihr wolltet nicht nach Goriol....“

„Wir gehen nicht in die Stadt. Es ist nicht mehr weit.“

Etwa eine halbe Stunde später erreichten sie einen Bach, über den eine überraschend große und wuchtige Brücke führte. Sara wusste, dass sie für die Händler und Pferdewagen gebaut worden war, die trotz der vielen Banditen den Wald dem offenen Gelände vorzogen. Hinter der Brücke gabelte sich die schmale Straße erneut, doch Saras Befürchtung, sie würden sich nach Westen und somit in Richtung Elmenfall wenden, das von hier aus gesehen noch mindestens eine halbe Tagesreise entfernt war, bewahrheitete sich nicht.

Stattdessen blieb Lennys stehen und sah sich stirnrunzelnd um. Einige splittrige, scheinbar behauene Stellen im Stamm einer Buche am Wegesrand erweckten schließlich ihre Aufmerksamkeit. Sie betrachtete die Einkerbungen genauer und bemerkte auch ähnliche Spuren auf dem Brückengeländer, das an dieser Stelle merkwürdig dunkel verfärbt war.

Mehrmals ging Lennys zwischen den Bäumen und der Brücke hin und her, begutachtete den Boden und einige abgerissene, verottende Pflanzen. Auch den Bach nahm sie genau in Augenschein und schien dabei jeden Zentimenter des sandigen Grundes durch das kristallklare Wasser hindurch in ihr Gedächtnis aufzusaugen. An einem Punkt, den Sara von ihrer Position aus nicht sehen konnte, hielt Lennys inne, sprang die Böschung hinab und landete sicher auf einem flachen Stein, der an einer seichten Stelle aus dem Nass ragte. Sie beugte sich hinab, griff hinunter in den algenüberwucherten Schlamm und zog dann einen länglichen Gegenstand aus dem Wasser. Erst als sie wieder nach oben zurückgekehrt war, erkannte Sara, dass es eine Art Stiel für ein Werkzeug war – grob gehauen und kaum zwei Ellen lang, am unteren Ende dick und vom häufigen Gebrauch blank poliert, nach oben hin aber schmaler werdend und durch einen breiten Schlitz und mehrere Löcher durchbrochen, aus denen noch zwei abgerissene Lederschnüre baumelten.

Ohne den Wert dieses Fundes zu kommentieren, ließ Lennys ihn in ihre Tasche gleiten, aus der er ein Stück herausragte und warf einen letzten Blick auf die Brücke.

„Das reicht für heute. Wenn wir uns beeilen, können wir den größten Teil des Rückweges noch schaffen, bevor die Nacht hereinbricht.“

Sara war froh über diese Worte. Obwohl sie häufiger lange Wanderungen mit der Vorsteherin unternommen hatte, war dieser Tag doch anstrengend gewesen. Sie hatten kaum Pausen gemacht, abgesehen von dem längeren Aufenthalt an der Schildkraut-Lichtung, doch der Kampf durch das Unterholz, der steile Auf- und Abstieg und nicht zuletzt die Schwüle, die sie seit Stunden begleitete, zehrten an ihren Kräften. Vielleicht würde es heute noch ein Gewitter geben.

„Ich hoffe, du hattest einen schönen Ausflug.“ bemerkte Menrir sarkastisch, als er spät abends Lennys' Zimmer betrat. Sie und Sara waren kurz zuvor von ihrer Wanderung zurückgekommen und dem einsetzenden Unwetter nur um Haaresbreite entgangen, doch jetzt heulte der Wind durch den Tempelhof und Donnergrollen hallte zwischen den Mauern wider. Schwerer Regen prasselte auf das Land ringsum und immer wieder wurde der Nebeltempel durch bizarre Blitze hell erleuchtet, um gleich darauf wieder in beinahe greifbarer Dunkelheit zu verschwinden. Die meisten Tempelbewohner waren in den unteren Räumen dicht zusammengerückt und versuchten, sich bei lautstarker Unterhaltung und einigen liegengebliebenen Arbeiten von den Launen der Natur abzulenken, die draußen über das Land tobten.

Ebenso düster wie die Gewitterwolken war Menrirs Stimmung geworden und sie hatte sich mit jeder Stunde des Wartens weiter verfinstert. Erst als er sich schon sicher war, kein vernünftiger Mensch könne sich angesichts des aufziehenden Sturmes noch außerhalb der geschützten Räume aufhalten, waren plötzlich die beiden Gestalten zwischen den Hügeln aufgetaucht. Als sie Minuten später die Kräuterküche betraten, war er ihnen sogleich entgegengeeilt, doch Lennys hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn wissen lassen, dass er frühestens in einer halben Stunde mit einem Empfang in ihrem Schlafzimmer rechnen dürfe.

Und nun stand er genau dort und machte seinem Ärger Luft.

„Kann es sein, dass du wütend darüber bist, dass ich dich nicht mitgenommen habe?“ fragte Lennys ungewöhnlich geduldig, während sie, wieder auf dem Bett sitzend, an einem Becher Rum nippte.

„Unsinn, ich bin nicht wütend. Aber du hättest mir wenigstens sagen können, wo du hingehst. Es ist nicht gut, einfach zu verschwinden und erst so spät zurückzukommen... Stell dir nur vor...“ Doch Lennys hob die Hand und Menrir verstummte.

„Das reicht, alter Mann. Ich bin nicht in der Stimmung, dich erneut darauf hinzuweisen, wo deine Grenzen sind. Und abgesehen davon dulde ich es nicht, wenn man mich anlügt.“ Sie klang nun nicht mehr geduldig, sondern kalt und geradezu herrisch.

„Ich... ich habe dich nicht angelogen.“ antwortete Menrir verwirrt.

„Oh doch, das hast du. Denn natürlich bist du beleidigt, weil ich ohne dich gegangen bin. Aber sei es drum. Warst du in Goriol?“

„Ja, das war ich. Akosh freut sich sehr darauf, dich zu sehen, es ist ihm eine große Ehre. Allerdings wird er nicht mit allzu vielen Neuigkeiten aufwarten können. Abgesehen von dem Überfall an der Waldbrücke vor einer Woche ist nichts mehr geschehen und nach allem was ich gehört habe, handelte es sich hierbei tatsächlich nur um das Werk von gewöhnlichen Räubern.“ Menrir sprach in beiläufigem Ton, und begann nun, in seinen zahlreichen Umhangtaschen herumzusuchen. Er bemerkte nicht den warnenden Blick, den Lennys Sara zuwarf.

„Hier...“ fuhr der Heiler fort. „Getrocknete Blaubuschblätter, gedrehtes Leinenseil, zwei Schleifsteine, zwei neue Proviantbeutel, eine kleine Auswahl an Kräutern und ein Bund Lederschnüre. Alles weitere sollten wir erst besorgen, wenn wir die Gegend endgültig verlassen.“ Eifrig reihte er die neuerworbenen Dinge auf dem niedrigen Tisch auf.

„Alles weitere? Willst du dich unterwegs neu einrichten?“ fragte Lennys mit wenig überzeugtem Blick auf die Einkäufe.

„Nun, wir brauchen noch Schlafmatten, einen Kessel, Schalen für die Mahlzeiten, möglicherweise noch Handfackeln und vielleicht auch noch ein paar andere Kleinigkeiten.“ Menrir gelang es nur mit mäßigem Erfolg, den Tonfall eines Lehrmeisters zu unterbinden.

Lennys stand auf und nahm die kleine Dose mit den Blaubuschblättern in die Hand.

„Und wofür sollen die sein?“

Menrir strahlte, als hätte er genau auf diese Frage gewartet.

„Wenn man sie anzündet, vertreibt der Qualm Stechmücken und andere lästige Insekten. Man braucht auch nur sehr wenig davon und die Wirkung hält lange an. Ein sehr nützliches Utensil, wenn du mich fragst.“

„Ich glaube, ich sollte dir nicht so viele Freiheiten lassen. Wenn es nach dir geht, brauchen wir am Ende einen von Beemas Handkarren um alles unterzubringen. Ich hasse es, soviel Gepäck mit mir herumzuschleppen.“

„Mach dir deshalb keine Gedanken. Du wirst sehen, dass längst nicht so viel zusammenkommt, wie du befürchtest.“

„Das bezweifle ich. Hast du sonst noch etwas erfahren?“

„Nein. Wie gesagt, es scheint nichts Bemerkenswertes in dieser Gegend vorgefallen zu sein, zumindest habe ich nichts gehört. Akosh meinte, er hätte alle gewarnt und die Gemeinschaft in Goriol sei sehr viel vorsichtiger als in Thau oder in den anderen Dörfern. Ich denke auch, dass sie in einer großen Stadt wie Goriol sicherer sind als in den dünn besiedelten Gegenden am Ben-Apu. Sie können hier leicht untertauchen und ihre eigentliche Identität geheimhalten.“

„Das gilt auch für die, die wir suchen, vergiß das nicht.“ Lennys klang nicht sonderlich beeindruckt von Menrirs Argumenten. „Es ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat – der Vorfall in Thau sollte dich das eigentlich gelehrt haben.“

Menrir hob überrascht die Brauen.

„Aber was in Thau passiert ist, war doch zumindest für uns offensichtlich. Worauf willst du denn hinaus?“

„Darauf, dass du dich zu schnell mit einfachen Erklärungen zufrieden geben könntest. Achte mehr auf Einzelheiten, Menrir. Ich bin nicht hierhergekommen um deine Fehler zu verhindern. Wenn du uns helfen willst, dann solltest du es gewissenhaft tun. Ich verabscheue Oberflächlichkeit.“

Sie sprach in ruhigem, aber gleichzeitig auch hartem Ton, der jede Entschuldigung oder Nachfrage unterband.

„Bist du dort gewesen?“ fragte sie jetzt kurz.

„Wo?“

„An der Brücke?“

„...Nein... Als ich davon erfahren habe, waren bereits zwei Tage vergangen und es hat inzwischen geregnet. Dort gibt es keine Spuren mehr. Selbst, wenn der Regen etwas übrig gelassen hat, so waren doch zu viele Reisende dort unterwegs, als dass man auseinanderhalten könnte, welche Hinterlassenschaften von ihnen stammen und welche von den beiden ermordeten Cycala.“

Lennys antwortete nicht darauf, sondern sah zum Fenster hinaus, dessen Vorhänge zurückgezogen waren, um die erfrischende Luft des Gewitters hereinzulassen. Diese Seite des Tempels wurde von einigen gewaltigen Laubbäumen geschützt und obgleich draußen die Dämonen des Untergangs die Welt zu verschlingen schienen, dröhnten in diesem Zimmer Donner und Sturm doch nicht ganz so laut wie in anderen Räumen des Gebäudes. Eigentlich wäre sie jetzt gerne dort draußen gewesen, allein mit den Kräften der Natur und den erbarmungslosen Gewalten, die durch die Hügel trieben. Dieser Tag mochte für Sara nur eine längere Wanderung bedeutet haben, für Menrir vielleicht einen netten Einkaufsbummel und für Beema sicher eine gewisse Enttäuschung über das Fernbleiben des Gastes. Und für sie selbst? Sie wollte nicht über das nachdenken, was sie gesehen hatte oben auf der Lichtung und bemühte sich, sich auf den Nachmittag an der Brücke zu konzentrieren und auf das, was dort eine Woche zuvor geschehen war. Menrir war überzeugt, es hinge nicht mit all den Vorkommnissen zusammen, die sich gerade langsam über das Land ausbreiteten, wäre nicht vergleichbar mit dem Anschlag in Thau oder dem rätselhaften Verbrechen in Fangmor, wo drei cycalanische Frauen entführt worden waren und von denen man seitdem nichts mehr gehört hatte. Man dürfe nicht in jedes Unglück gleich das Schlimmste hineininterpretieren, so der Heiler. Er war überzeugt, dass dahergelaufene Räuberbanden die reisenden Sichelländer überfallen hatten, doch vielleicht wollte der alte Mann auch einfach nicht wahrhaben, dass der Feind sich nun sogar in die bunte und weltoffene Stadt der Wanderer vorwagte. Goriol war stets auch Tummelplatz für allerlei Gesindel und Tagediebe gewesen, doch politische Machtkämpfe oder große Schlachtzüge wurden lieber in den kleineren Orten geführt, wo die Gefahr von Widerstand und Rebellion deutlich geringer waren. Wie dreist es doch wäre, in der größten Stadt Mittellands gegen ein ganzes Volk zu Felde zu ziehen. Und, das musste sich Lennys eingestehen, wie mutig. Normalerweise wurde im Hinterhalt gemeuchelt und gemordet, wurde feige in verlassenen Gegenden auf die Opfer gewartet, wo keine Hilfe nahen konnte. Und wo man nicht gesehen und erkannt wurde. Diese Anschläge jedoch zeugten durchaus auch von Furchtlosigkeit.

'Warum hier?' fragte sie sich. 'Und warum sieht das niemand außer mir, warum verschließen sie ihre Augen und wollen nicht sehen, dass es nirgends jenseits des Sichellandes jemals wirklich sicher war?'

Sie betrachtete Menrir, der nicht mehr weiter über das Thema Goriol nachzudenken schien und sich nun mit einer Landkarte des Mongegrundes beschäftigte. Auch dort war es zu Zwischenfällen gekommen und Lennys wusste, dass der Heiler es für sinnvoll hielt, der Gegend einen Besuch abzustatten. Doch das, was ihm vor Augen lag, wollte er sich nicht ansehen, weil er das Unwahrscheinliche für unmöglich hielt.

Lennys war es leid, darüber zu diskutieren. Und sie hatte plötzlich nicht die geringste Lust, Menrir von ihrem Fund oder überhaupt von ihrer Erkundigung am Nachmittag zu erzählen.

„Ich möchte jetzt nicht mehr darüber sprechen.“ sagte sie schließlich. „Du kannst morgen früh wiederkommen.“

Verblüfft starrte Menrir sie an.

„Das ist alles? Wollen wir nicht bereden, wie es weitergehen soll? Oder hast du schon bestimmte Pläne?“

„Ja und nein. Aber nicht heute.“

„Und morgen? Was hast du morgen vor?“

„Das sage ich dir, wenn es soweit ist.“

„Nun gut,... dann... gute Nacht, Lennys.“

Menrir zuckte die Achseln und ging. Kurz vor der Tür sah er Sara im Halbdunkel sitzen, doch Lennys hatte sie auch heute nicht entlassen und so verabschiedete er sich mit einem schwachen Lächeln von der Novizin und verließ den Raum.

Mit einer kaum wahrnehmbaren Geste winkte die Cycala ihre Dienerin heran.

Sie sah Sara lange an. Dann stand sie auf, ging wieder zum Fenster und sah, wie so oft, starr hinaus, während sie sprach.

„Vor einer Woche wurden zwei Cycala an der Waldbrücke ermordet. Sie waren auf dem Weg vom Ostbogen nach Goriol. Einfache Reisende, zumindest erweckten sie diesen Eindruck. Vermutlich erreichten sie die Kreuzung am Bach noch als es hell war, jedoch ist das nicht ganz sicher, da man sie zuletzt in der Nähe des Mondsees lebend gesehen hat. Ein paar alte Bauern fanden sie am nächsten Morgen tot und entstellt neben der Brücke und aus Angst vor Wölfen und anderen Tieren verbrannten sie ihre Leichen, bevor ein anderer sie sehen konnte. Wölfe sind ein Problem in dieser Gegend, jedoch nicht so sehr wie die Banden, die dort ihr Unwesen treiben. Die Bauern erzählten, die Toten hätten keinerlei Gepäck bei sich gehabt, keine Taschen und keine Waffen. Vermutlich seien sie einfach ihrer Habe beraubt und umgebracht worden. Keiner hatte den geringsten Zweifel an dieser Begründung, auch wenn die Banditen nur äußerst selten so brutal zu Werke gehen. In Goriol wurden die beiden Sichelländer bereits erwartet und als sie dort nicht ankamen, begann man, sich Sorgen zu machen. Schließlich erfuhr die Gemeinschaft durch Zufall von dem Fund dieser Bauern und als man sie näher befragte, bestätigte eine Beschreibung der Kleidung der Toten unsere Befürchtungen.“

Lennys sprach nicht weiter, und Sara war nicht sicher, ob sie auf eine Frage wartete oder einfach glaubte, genug gesagt zu haben. Oder zu viel? Warum erzählte sie all das, wo sie doch gestern noch der Meinung gewesen war, dass es besser sei, keinen Außenstehenden einzuweihen? Warum sprach sie nicht mit Menrir über das, was sie heute herausgefunden hatte? Doch gleich darauf verdrängte Sara all diese Fragen wieder, denn es stand ihr nicht zu, so neugierig zu sein. Sie war nur dazu da, zuzuhören, wenn es von ihr verlangt wurde und die Ohren zu verschließen, wenn über Dinge geredet wurde, die sie nichts angingen.

„Du kennst die Vorgehensweisen der Gesetzlosen dieses Waldes womöglich besser als ich.“ fuhr Lennys dann fort. „War das in deinen Augen ein typischer Überfall?“

Sara dachte kurz nach.

„Nein, ich glaube nicht. Wenn sie jeden, den sie um seine Reichtümer bringen wollen, umbringen würden, würde niemand mehr diesen Weg wählen. Außerdem....“

„Außerdem?“

„Sie arbeiten mit Schlingen, mit Schleudern, manchmal auch mit Pfeil und Bogen oder kurzen Speeren. Aber soweit ich weiß, versuchen sie den direkten Nahkampf zu vermeiden, damit sie bis zum letzten Moment im Unterholz verborgen bleiben.“

„Und das heißt?“ Lennys hatte sich umgedreht und wirkte nun aufmerksam und eine Spur von Zufriedenheit umgab sie. Sara rief sich das Bild des Nachmittags wieder vor Augen.

„Es ... gab Stellen, die aussahen, als hätte jemand mit Klingen gekämpft. Am Geländer und an einigen Bäumen. Ich weiß nicht, ob diese Spuren von jenem Überfall stammen, aber wenn es so ist, dann haben die Angreifer andere Waffen benutzt als es normalerweise in dieser Gegend der Fall ist.“

Lennys ging zum Bett, auf dem ihr Umhang lag und holte den Gegenstand hervor, den sie einige Stunden zuvor aus dem Bach gefischt hatte. Sie legte ihn auf den Tisch und betrachtete ihn voll Abscheu.

„Es ist der Griff einer Kriegsaxt. Vermutlich ist sie bei dem Kampf kaputtgegangen. Dieser Teil kann noch nicht lange im Wasser gelegen haben, das Holz ist noch nicht allzu aufgequollen. Einige Tage, vielleicht eine Woche. Und die Spalten im Brückengeländer und in den Stämmen der Bäume würden genau dazu passen. Ein Werkzeug für Barbaren.“

Sara erschauerte. Die Vorstellung, dass die dunklen Stellen auf den Holzplanken vielleicht durch das Blut von Menschen entstanden waren, die von einer Axt erschlagen worden waren, war alles andere als angenehm. Bei ihrer Vermutung hatte sie an Schwerter gedacht, an Säbel oder Dolche, und schon allein das hatte sie sich nicht näher ausmalen wollen. Dass aber jemand das scharfe, glitzernde Blatt einer armlangen Axt in den Körper eines anderen schlug, war – ganz wie Lennys sagte – barbarisch.

„Ich wusste nicht, dass ... solche Waffen tatsächlich benutzt werden.“ sagte sie dann leise.

„Das werden sie normalerweise auch nicht.“ erwiderte Lennys. „Jedenfalls nicht hier. Die Armeen, die du kennst – die Wächter Mittellands, Logs Soldaten im Süden und meinetwegen auch die Krieger Cycalas' - keiner von ihnen würde mit so etwas in den Kampf ziehen. Diese Äxte dienen nur zum Zuschlagen, mit ihnen ist man unbeweglich, langsam und gegen bewaffnete Gegner hat man kaum Chancen. Und das... ist der einzige Punkt.... der mir zu denken gibt. Sie hätten gegen keinen Sichelländer eine Chance haben dürfen.“

„Vielleicht... hatten die Cycala keine Waffen bei sich?“ fragte Sara vorsichtig.

Lennys setzte sich wieder aufs Bett und störte sich nicht daran, dass ihre langen Beine mit den schweren Stiefeln auf ihrem Umhang ruhten, der noch ausgebreitet da lag. Mit einem Nicken gebot sie Sara, auf einem der Sitzpolster Platz zu nehmen.

„Kein Bewohner der Sichel würde ohne Waffe die Grenze überschreiten. Und diese beiden... schon gar nicht. Es waren nicht irgendwelche Gesandten oder Reisende, sondern erfahrene Kämpfer hohen Ranges. Einer von ihnen trug dieselbe Sichelklinge wie ich und du kannst dir denken, dass es keine Anfänger sind, denen diese Ehre gebührt. Doch aus irgendeinem Grund hat er sie nicht gezogen, denn glaube mir, hätte er es getan, so wäre keine Axt in sein Fleisch geschlagen worden.“

Darauf wusste auch Sara nichts zu sagen. Vielleicht hätte Menrir eine Antwort auf diese Frage gehabt, doch anscheinend glaubte Lennys nicht daran, denn sonst hätte sie mit dem Heiler darüber gesprochen. Allerdings schien sie auch keine Hilfe von der Novizin zu erwarten. Es war eher so, als würde sie all das nur erzählen, um selbst klarer zu sehen, ohne dass der Zuhörer dabei eine große Rolle spielte. Der Themenumschwung kam umso plötzlicher.

„Du wirst niemandem ein Wort von dem erzählen, was du heute auf der Lichtung gesehen hast. Auch Menrir nicht. “ Es war keine Frage.

Sara nickte nur.

„Bald verschwinde ich von hier, dieser Tempel ist mir zuwider. Mag sein, dass manche Leute Fragen stellen, wenn ich fort bin. Sie werden von dir wissen wollen, was ich getan habe, wo ich war, ob du Dinge mitbekommen hast, die dich eigentlich nichts angehen. Sollte ich erfahren, dass sie von dir auf diese Fragen Antwort erhalten...“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, doch Sara konnte sich die Fortsetzung ungefähr vorstellen. Doch es machte ihr keine Angst, denn auch ohne diese Drohung hätte sie all die Geheimnisse, deren Zeugin sie geworden war und die sie dennoch nicht verstand, für sich behalten.

Nachdem Sara das Zimmer verlassen hatte, ging Lennys zum Tisch hinüber, nahm die Rumflasche und leerte zwei Becher hintereinander, um gleich danach den dritten zu füllen. Sie wollte schlafen, wollte nicht nachdenken müssen oder die nächsten Stunden im Kampf gegen Erinnerungen verbringen. Gleichzeitig wusste sie, dass Schlaf keine wirkliche Erholung bedeutete, denn Träume waren ihre Schwäche. Ständig bemühte sie sich, auch ihr Unterbewusstsein unter Kontrolle zu halten, aber auch, wenn ihr das in den meisten Fällen gelang, so gab es doch Momente, in denen sie sich der Kraft der Gedanken geschlagen geben musste. Heute, am Brunnen, war ein solch seltener Moment gewesen. Und es gab Nächte, in denen sie Ähnliches vor sich sah, es bekämpfte und verbissen um den Sieg rang. Die Niederlagen nahmen ab, wurden erträglicher und verschwanden bald ganz. Aber sie fühlte sich verwundbar und ahnte, dass die nächsten Stunden eine neue Schlacht bereithielten. Sie konnte die Schatten der Nacht vertreiben, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie sie herausforderten. 'Keine Klinge der Welt kann Gedanken besiegen.' dachte sie als die den dritten Becher hinunterstürzte.

Das Gewitter hatte noch nicht nachgelassen und im Tempelhof stand das Wasser bereits knöchelhoch. Abgerissene Äste wurden wie Papierspielzeug über den Platz gefegt und die mächtigen Kastanien ächzten bedrohlich, wenn die Sturmböen auf sie trafen.

Als Lennys die Grenze des Tempelgeländes erreichte, klebte ihre vollkommen durchnässte und vollgesogene Lederkleidung wie eine zweite Haut am Körper. Den Umhang hatte sie im Schlafzimmer gelassen, er hatte bei solchen Verhältnissen keinerlei Sinn und würde weder vor Wind noch vor Regen schützen. Nur ihren Gürtel trug sie und mit ihm die Waffen, ohne die sie draußen nie einen Schritt tat. Es spielte keine Rolle, dass die schimmernde Sichel nun nicht verdeckt war, denn mittlerweile war es so finster geworden, dass die Waffe schneller zu spüren denn zu sehen war. Doch Dunkelheit war kein Problem für die Cycala. Nicht nur, dass sie beinahe allen Gegnern überlegen war, wenn es darum ging, Details in nahezu absoluter Finsternis zu erkennen, nein, für sie war die Nacht geradezu ein Verbündeter, der Sicherheit und Schutz bot.

„Die Gebieter der Nacht“, so nannten sich die Krieger des Sichellandes und ihnen allen war diese Neigung gemein.

Heute jedoch musste Lennys zugeben, dass diese Stärke weniger ausgeprägt war als sonst. Die Ereignisse des Tages und mehrere Becher Rum bewirkten gemeinsam, dass ihre Aufmerksamkeit und ihre Vorsicht beeinträchtigt waren und so erkannte sie den Schatten unter den dichten Tannen erst, als sie nur noch wenige Meter entfernt war. Im letzten Moment schaffte sie es, hinter einigen Bäumen Deckung zu suchen und von dort aus die Gestalt zu beobachten, die umherschlich. Seltsamerweise tastete sie sich nicht in Richtung des schützenden Tempels, sondern weiter in den Wald hinein.

Lautlos glitt Lennys' Hand hinunter und legte sich dann sicher um den Griff des kurzen Säbels. Im Gegensatz zu der Sichel würde er ihr auch gehorchen, wenn sie nicht die Höhe ihrer Leistungsfähigkeit erreichte.

Der Schatten glitt weiter, blieb hin und wieder stehen und schien auf mögliche Geräusche oder Bewegungen um sich herum zu warten.

'Er sucht etwas. Er sucht mich.' dachte Lennys. Ihr war vollkommen klar, dass es kein Zufall war, dass die Gestalt sich gerade hier aufhielt. Dieser Jemand hatte sie gesehen und nur weil sie einige Minuten hinter der Tempelmauer ausgeharrt hatte um die schwach beleuchteten Fenster zu beobachten, hatte er sie überholt, so dass sie fast in ihn hineingelaufen wäre.

Lautlos näherte sie sich dem Verfolger. Hätte der Sturm nicht geheult wie eine Meute hungriger Wölfe, so hätte sie schon seinen Atem vernehmen können. Nur noch zwei Meter...er war direkt vor ihr... einen Meter... das leise Kratzen als der Säbel aus der Scheide gezogen wurde, ging in einem neuerlichen Donnergrollen unter...

Sichelland

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