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Die Vergangenheit
ОглавлениеEinst war Sacua ein einziges großes Land, in dem die Menschen zumeist in Frieden miteinander lebten. Viele kleinere Fürstentümer bildeten zusammen ein Reich, das keinem alleinigen Herrscher unterstand. Hin und wieder gab es zwar kleinere Rangeleien, vornehmlich um Grundbesitz und Handelsstraßen, jedoch einigten sich die Adligen oft schnell wieder. Schon damals galt die Stadt Manatara als besonders reich und mächtig und das in der Nähe gelegene Angengund erblühte in seinem Schatten ebenfalls zu einem angesehenen und wohlhabenden Ort.
Die Karten Sacuas aus dieser Zeit bieten jedoch ein völlig anderes Bild als heute, denn sie zeigten nur einen Teil des Kontinents. Niemand hatte bis dahin das Gebirge Valahir überquert und niemand wusste, was hinter diesen Bergen lag. Weder Cycalas noch Zrundir waren den Bewohnern des Großen Reiches bekannt, auch wenn es Gerüchte darüber gab, dass hinter Valahir ein rätselhaftes und wohl auch eher düsteres Land lag.
Beinahe ebenso unbekannt war die genaue Lage der Abendinsel westlich von Angengund, denn obwohl es mit einfachen Booten ein Leichtes gewesen wäre, dorthin überzusetzen, wagten sich die Menschen nicht hinaus aufs Meer. Seltsame Geschichten wurden erzählt von jener Insel und der Ozean jagte dem Volk Sacuas schon seit jeher Angst ein.
Eines Tages jedoch kam es vor der Küste Angengunds zu einer Begegnung, die die Zukunft des gesamten Reiches selbst über seine bis dahin bekannten Grenzen hinaus verändern sollte. Ein alter Fischer aus Angengund träumte am Rande der seichten Gewässer von einem großen Fang, als sich ihm eine schwarz bemalte und silbern beschlagene Barke näherte. Sie war klein, viel zu klein, um einen weiten Weg hinter sich zu haben, und doch konnte der Fischer im Nebel dahinter kein größeres Schiff erahnen. Gesteuert wurde das Boot von einem einzigen Mann und der Moment als er die ersten Worte an den Fischer richtete, werden bis heute als die „Ersten Worte der neuen Zeit“ gelehrt.
Der Fischer erfuhr von einem Volk, dessen Gesandter nun vor ihm stand. Ein Volk, das nur in sehr wenigen uralten Überlieferungen Sacuas Erwähnung gefunden und an dessen Existenz niemand wirklich geglaubt hatte. Sie nannten sich die „Cycala“, denn sie stammten hoch oben aus dem Norden, jenseits der Bergkette Valahir und ihr Reich hatte die Form einer Sichel.
Cycalas – das Sichelland.
Doch hier unten im Süden, fern von ihrer eigentlichen Heimat, hatten die Cycala schon vor langer Zeit die Abendinsel entdeckt und einige von ihnen hatten sich dort niedergelassen. Saton – so der Name des Fremden – erklärte, dass sein Volk eine hohe Fertigkeit in der Verarbeitung von Silber entwickelt hatte und wertvolle Schätze daraus schmiedete. Doch nahe Cycalas gäbe es ein weiteres Reich, eine Halbinsel namens Zrundir, und die missgestalteten Kreaturen, die dort hausten, ließen nichts unversucht, sich der Reichtümer des Sichellandes zu bemächtigen. Und so beschlossen die Hohen Shaj, die Herrscher Cycalas, alles Silber fortzuschaffen, an einen Ort, an dem es sicher verarbeitet werden konnte, bis es als fertiges Kunstwerk wieder zurückgebracht werden konnte. Die Abendinsel diente nun als sicherer Ort der Silberschmiedekunst, aber sie war auch weit abgelegen und unwirtlich, so dass lange Fahrten mit großen Schiffen notwendig waren, um die Sichelländer dort zu versorgen. Aus diesem Grund hatte das fremde Volk sich dazu entschieden, sich zum ersten Mal den Bewohnern Sacuas zu offenbaren, in der Hoffnung, einen Handelsweg zwischen der Insel und dem Festland aufbauen zu können.
Saton, der Gesandte Sacuas und gleichzeitig einer der drei herrschenden Shaj, und Urgul, der Dorfmeister Angengunds, schlossen bald Freundschaft und trotz des anfänglichen Misstrauens, das die einfachen Menschen Sacuas gegenüber der Fremden hegten, lernten sie doch die Vorteile bald zu schätzen, die die Verbindung mit sich brachte. Tatsächlich verstanden sich die Cycala derart hervorragend auf ihr Handwerk, dass kein Goldschmied Sacuas ihnen ernsthaft Konkurrenz machen konnte. Angengund hingegen belieferte die Schiffe der Abendinsel mit allem, was sie zum Leben brauchten. Im Laufe der Zeit wurde die Freundschaft der Völker fester und es kam auch immer wieder vor, dass die Fremden sich im Süden Sacuas ein neues Zuhause suchten oder sogar in die Familien Angengunds einheirateten.
Das Abkommen währte mehrere Jahre und bald erfuhr das ganze Reich von den Schätzen, die dem Süden zuteil wurden. Viele nahmen einen weiten Weg auf sich, um die begehrten Stücke der Cycala zu erwerben, doch die meisten machten die Reise vergebens. Saton verkaufte nicht mehr als er musste und gerade soviel, dass es zum Unterhalt der Insel reichte. Es dauerte nicht lange und einige der reichen Adligen im heutigen Mittelland wurden zornig über die leeren Hände, mit denen die Boten zurück kamen und nach und nach begannen sich in die Loblieder über die Cycala auch weniger freundliche Gerüchte zu mischen.
Eines Tages machte sich Orjope, die Fürstin von Orio, das hoch im Norden nahe der Singenden Sümpfe lag, auf den weiten Weg hinunter nach Angengund, um ebenfalls in Besitz der sagenhaften Geschmeide zu kommen, doch auch für sie blieben die Schatzkammern der Cycala verschlossen.
Es folgte einer der dunkelsten Tage Sacuas.
In der Bucht, in der alles seinen Anfang genommen hatte, sammelte die Fürstin ihre Soldaten unter dem Sonnenbanner und jede Barke der Abendinsel, die anlegte, fiel den Schwertern Orios zum Opfer. Als die Krieger Cycalas' die Bucht erreichten, waren bereits viele ihrer Brüder und Schwestern gefallen und sie konnten nur noch Rache nehmen, indem sie die Sonnenkrieger mit dem Leben bezahlen ließen.
Die Fürstin jedoch entkam.
Der Strand glänzte rot vom Blut der Erschlagenen und das Banner der Fürstin verglühte hoch oben auf dem Scheiterhaufen, der die Toten verschlang. Seit jenem Tag wird dieser Ort die Blutsonnenbucht genannt und nie wieder wurde dort ein Cycala gesehen. Angengund wurde gemieden, denn es galt als verflucht und es wurde zu einem armen, verlassenen Dorf, dem man seine reiche Vergangenheit bald nicht mehr ansah. Auch die Fremden, die noch vor nicht allzu langer Zeit als neue Familienmitglieder willkommen geheißen worden waren, gingen fort und mit ihnen die letzten Cycala der Abendinsel. Die meisten kehrten zurück ins Sichelland, doch einige mischten sich unerkannt unter das Volk Sacuas, um bereit zu sein für den Tag, da die geflohene Fürstin Orios ihrer gerechten Strafe zugeführt werden würde.
Doch während die Fremden in dunklen, geheimen Kellern ihre Klingen schmiedeten, breitete sich die Saat der Fürstin in den Dörfern und Städten des Kontinents aus. Gerade über die Krieger der Cycala machten schaurige Geschichten die Runde und ein Gerücht überbot das andere an Grausamkeit und Hass. Selbst einfache Bauern, die nie auch nur ein Haar der Fremden zu Gesicht bekommen hatten, wussten von dämonischen Riten und blutigen Opfern zu berichten, von Morden an Unschuldigen und vielen anderen feigen und brutalen Verbrechen.
Kein Jahr war seit dem Blutbad in der Bucht vergangen, doch ganz Sacua machte nun Jagd auf ein Volk, dem die Wenigsten jemals von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden waren. Viele Fürsten setzten hohe Belohnungen aus und trotz ihrer wohl gewählten Verstecke und ihrer Zurückgezogenheit gelang es vielen Cycala nicht, sich vor den Klingen der aufgehetzten Bevölkerung zu schützen.
Angeführt von Saton und den neun Cas - seinen höchsten Kämpfern - begannen die Cycala nun ihrerseits zurückzuschlagen. Und sie machten keinen Unterschied zwischen mordlustigen Soldaten oder sie verfluchenden Hausfrauen, zwischen schwertschwingenden Dorfwachen oder Fäuste schüttelnden Bauern. Heute spricht man von dieser blutigen Zeit als dem „Großen Krieg“, denn kein Teil des Landes blieb von Opfern und Kämpfen verschont.
Nach vielen Monaten der Schlachten gelang es Saton und den Cas schließlich, die Grenzen Orios zu überwinden, denn noch immer war sein oberstes Ziel, die Urheberin des Krieges, die Fürstin Orjope, ihrer gerechten Strafe zuzuführen und damit die Quelle der Lügen versiegen zu lassen. Tatsächlich schafften es die Kämpfer, die Burg Orjopes zu stürmen, doch noch bevor es soweit war, wurde Saton vor den Augen seiner Cas durch einen Leibwächter der Herrscherin getötet, der aber daraufhin mit einigen seiner Anhänger floh und so seine Herrin verriet.
Orjope starb noch vor dem Morgengrauen. Über die genauen Umstände ihres Todes gibt es viele Geschichten, doch sicher weiß man nur, dass einer der Cas ein altes Ritual an ihr vollzog, das als besonders grausam gilt. Und obwohl der Mörder Satons noch immer am Leben und in Freiheit war, verschwanden die Kämpfer Cycalas' daraufhin aus Sacua, zurück in ihr Land nördlich Valahirs. Die wenigen Überlebenden ihres Volkes, die der großen Jagd entgangen waren, blieben.
Im Süden verbanden sich die kleineren Grafschaften und Fürstentümer zu einem Reich. Urguls Sohn Log vereinigte die Ländereien und Besitztümer und vermittelte zwischen den alten Herren der Gebiete, bis diese bereit waren, sich einem einzigen Herrscher zu unterstellen. Im Gegenzuge sollte ein großes Heer das gesamte Land beschützen und einheitliche Gesetze sollten den Menschen ein friedliches Leben ermöglichen. Bereits im Sommer nach der Schlacht von Orio wurde Log zum König des neuen Reiches Manatar ausgerufen.
Zwölf Jahre vergingen. Zwölf Jahre, in denen es nicht zuletzt den verbliebenen Cycala und dem neuen Herrscher des Südens, König Log, zu verdanken war, dass viele Menschen an der Richtigkeit der Jagd zweifelten. Hin und wieder offenbarten sich die Fremden wieder ihren engsten Freunden, sprachen von ihrer Heimat und sangen ihre Lieder. Nur wenige störten sich daran. Es hatte viel Leid und Tod auf beiden Seiten gegeben und kaum jemand wollte die Vergangenheit wieder aufleben lassen. Nur einige besonders verbissene Kämpfer aus jenen Tagen verfluchten das Sichelland immer noch, doch es waren zu wenige um eine wirkliche Gefahr darzustellen.
Anders war es mit den geflohenen Soldaten aus Orio. Sie fanden unter Führung des Leibwächters, der Saton das Schwert durch das Herz gebohrt hatte, in Zrundir – dem alten Feind Cycalas – Zuflucht, doch hörte man nur noch selten von ihnen. Gelegentliche Übergriffe, vor allem ins heutige Mittelland, wurden ihnen zugeschrieben, doch vom Sichelland hielten sie sich trotz der Silberminen fern. Sie wussten, dass ein Gegenschlag Cycalas Zrundirs Ende gewesen wäre, auch wenn es sie verwunderte, dass Satons Tod anscheinend ungesühnt bleiben sollte. Kein Angriff aus dem Sichelland erfolgte und auch im restlichen Sacua schienen die Wunden der Jagd langsam zu heilen.
Doch selbst nach so langer Zeit lassen sich immer noch Spuren der düsteren Tage entdecken. Eine Mauer eisigen Schweigens hüllt sich um diese Zeit und die engen freundschaftlichen Bande, die einst zwischen dem Sichelland und dem Süden herrschten, sind einer kühlen Distanz gewichen, geprägt von Ehrfurcht und ein wenig Angst auf der einen und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite.