Читать книгу Blutspende mit Folgen - Christine Engel - Страница 6
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Am nächsten Morgen erwachte Alanya von Sammys Weinen. Sofort eilte sie zu ihm. »Was gibt es denn mein Liebling!« Sie warf einen Blick auf die Uhr, es war eine halbe Stunde vor dem Klingeln des Weckers. So ging es nun schon vier Tage lang. Sammy bekam Zähne und das hatte leider solche Konsequenzen für sie. Rasch nahm sie ihn hoch und trug ihn in ihr Bett. Dort legte sie ihn ab und knuddelte ihn durch. Sofort hörte er auf zu weinen und quietschte vergnügt. »So, mein kleiner Sonnenschein, jetzt musst du warten, bis Mama sich angezogen hat. In Ordnung? Dann gibt es was zu essen für dich.«
Rasch suchte sie sich ihre Kleidung für heute heraus und zog erst sich und dann ihren Sohn an. Im Badezimmer wuschen sie sich zusammen und Alanya bürstete ihrem Sohn liebevoll die Haare, ehe sie ihre eigenen Haare zu ihrem üblichen Pferdeschwanz schnell zusammenband.
Nach dem Frühstück brachte sie ihn wieder zur Tagesmutter. Zum Glück war Sammy so eine Frohnatur und nahm es Mrs. Wickert nicht übel, dass sie ihn gestern so grob behandelt hatte. Er ging gerne zu der Tagesmutter, da er hier immer viele Kinder hatte, mit denen er spielen konnte. Wenn sich Alanya deswegen hätte sorgen müssen, würde ihr die Arbeit schwerfallen, aber so wusste sie, er würde den Tag hier genießen und konnte sich von ihm verabschieden.
Sie fuhr mit dem Bus in die Innenstadt zu ihrer Arbeit. Ein weiterer Tag im Büro lag vor ihr und sie setze sich und begann. Zum Glück hatte Nancy Wort gehalten und ihre Ablage gemacht.
Während der Arbeit klingelte plötzlich ihr Handy. Eigentlich durfte sie hier keins haben, denn telefonieren sollte sie während der Arbeit nur mit zahlenden Kunden und nicht privat, aber wenn etwas mit Sammy war, musste sie ja erreichbar sein. »Hallo?«, sagte sie, als sie abnahm.
»Hallo Alanya, Süße. Wie geht es dir denn so?«
»Joel, dich gibt es noch?« Entgeistert sah sie sich um. Natürlich war ihr Ex-Freund nicht zu sehen, aber sie hatte so ein komisches Gefühl.
»Oh, es schmeichelt mir, dass du meine Stimme noch erkennst. Schön, dass du noch die alte Nummer hast. Warum bist du noch in der Stadt und nicht zu deinen Eltern zurückgegangen?«
Alanya überging diese Frage einfach. »Joel, was willst du? Du rufst doch nicht an, um dich nach mir zu erkundigen.«
»Ich wollte nur wissen, wie es unserem Sohn geht?«
»Unserem Sohn? Du weißt nicht einmal seinen Namen.« Sie schüttelte den Kopf. »Sammy geht es gut.«
»Oh, du hast das Kind nach deinem Vater Samuel Arlington benannt.«
»Was willst du Joel? Du brauchst doch sicher wieder Geld. Ich wette, das ist der Grund, warum du mich anrufst.«
»Ja, wenn du mich so fragst, könnte ich schon was vertragen.«
»Dann hast du Pech! Alles, was ich verdiene, brauche ich für Lebensmittel, für die Wohnung und für die Tagesmutter, Mrs. Wickert, damit sie sich um Sammy kümmert.«
»Ist ja schon gut, dann eben nicht. Du bist immer noch so knickerig wie früher. Aber du schuldest mir was.«
»Ich schulde dir etwas?« Diese Frechheit verschlug ihr fast die Sprache. »Das wäre mir neu. Aber da du das Thema Geld ansprichst, du könntest mal Unterhalt bezahlen.«
Er lachte gehässig. »Sicher nicht. Ich wollte das Kind nie! Das habe ich dir auch immer gesagt. Wie konntest du nur so dumm sein und nicht verhüten?«
»Für die Verhütung können auch Männer sorgen!«
»Jaja! Geht die Leier schon wieder los?«
»Joel, du hast dich echt nicht verändert. Du bist immer noch genauso egoistisch wie früher. Es war schon ein Unding, dass meine Eltern dich bezahlt haben, damit du mich verlässt. Aber dass du dich auch noch darauf eingelassen hast, war einfach das Letzte. Ich war im neunten Monat.«
Seine Stimme wurde ärgerlicher. »Deine feinen Eltern hätten mir auch noch mehr gezahlt, wenn du zu ihnen nach Beverly Hills zurückgegangen wärst. So war der Plan.«
»Wie bitte?«
»Ja, sie hatten angenommen, dass du es hier allein nicht schaffst. Ich habe das ehrlich gesagt auch gedacht. Ich hatte das weitere Geld schon fest eingeplant. Deshalb bist du mir noch was schuldig!«
»Du spinnst wohl!
»Du hättest ja nur das Balg abtreiben müssen, dann wärst du deinen Eltern wieder willkommen gewesen.«
»Du redest hier von deinem Sohn!«
»Ja und? Fest steht, du bist mir noch was schuldig!«
»Ich bin dir gar nichts schuldig. Du hast mich mittellos in einer fremden Stadt sitzen lassen, nachdem ich dir durch die Schwangerschaft zu hässlich geworden war.«
»Ich habe dein Genörgel und deine ständige Bevormundung einfach sattgehabt. Außerdem sahst du wirklich aus wie eine Seekuh!« Er lachte.
»Klasse! Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst, dass ich dich nicht vermisse!«
Das überhörte er einfach. »Hast du gedacht, wenn du unseren Sohn nach deinem Vater benennst, bekommst du Geld von deinen Eltern. Stimmts?«
Er musste noch mal den Finger in ihre Wunde legen. Er war echt ein Ekelpaket. Sie hatte ihren Sohn nach ihrem Vater benannt, weil ihr Vater ihr immer etwas bedeutet hatte. »Wie hätte ich ihn denn sonst nennen sollen? Joel bestimmt nicht, denn dann hättest du mehr Interesse zeigen müssen und hättest uns nicht einfach im Stich lassen dürfen.«
»Was bist du so kratzbürstig? Ich frage doch jetzt, wie es ihm und dir geht. Reicht dir das auch wieder nicht? Nie warst du zufrieden mit dem, was ich getan habe. Immer hast du nur genörgelt, dass ich heimkommen sollte und mich um dich kümmern sollte. Aber wenn ich da war, hast du noch weiter gemacht. Das war damals zum Kotzen und ist es immer noch.«
»Dann hättest du vielleicht nicht immer das Geld, was ich mühsam verdient habe, für Drogen und Alkohol ausgeben dürfen. Auch wäre ich vielleicht nicht so ungehalten gewesen, wenn es dein eigenes Geld gewesen wäre, was du ausgegeben hattest.«
»Ach, um das Geld ging es dir? Ich dachte immer, du wärst sauer wegen meiner Freunde.«
»Deine Freunde waren fast ausschließlich weiblich und wenn ich dich fand, lagst du nicht selten mit einer Freundin im Bett.«
»Das lag nur daran, dass du es eben nicht mehr gebracht hast. Zu Anfang war es ja ganz lustig, dass ich dir zeigen konnte, wie alles geht, aber dann wurde es nervig. Du hast aber auch gar nichts dazugelernt. Du bist einfach eine Niete im Bett. Und als du dann auch noch so fett wurdest, war es nur noch unschön, mit dir ins Bett zu gehen!«
»Ich war nicht fett, sondern schwanger, und zwar mit deinem Kind!«
»Ach hör doch auf! Jetzt fange ich schon wieder an, mich vor dir zu rechtfertigen. Damit bin ich aber durch!« Dann beendete er das Telefonat, indem er einfach auflegte.
Alanya starrte das Telefon an. Joel war wieder in der Stadt. Sofort fühlte sie sich wieder unwürdig und unerwünscht wie damals. Bestimmt würde er ihr wieder Schwierigkeiten machen. Aber das sollte er ruhig versuchen. Sie würde ihm kein Geld geben und ihm auch sonst in keiner Weise helfen. Auch bei ihr und Sammy würde er nicht übernachten, sonst hätte sie bald die Wohnung voller Drogenjunkies. Das kannte sie ja schon.
Den restlichen Tag war Alanya fürchterlich unruhig und es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Nancy war an diesem Tag sogar wirklich pünktlich, als sie Alanya am Nachmittag ablöste. Als sie dann das Büro verließ und sah, dass die Sonne schien, beschloss sie heute, mit ihrem Sohn in den Tierpark zu gehen. Energisch verdrängte sie das ungute Gefühl und ging zur Bushaltestelle.
Nur etwas später stand sie schon vor dem Haus der Tagesmutter. Gleich würde sie Sammy in den Armen halten und schon wäre ihre Welt wieder in Ordnung. Sie lächelte. Heute war sie sogar eine halbe Stunde früher da.
»Schön, dass Sie heute pünktlich sind Ms. Arlington.«
Alanya lächelte Mrs. Wickert an. »Können wir das vielleicht mit den fünf Minuten von gestern errechnen?«
Energisch schüttelte die Tagesmutter den Kopf. »Nein, sicherlich nicht!«
Alanya seufzte. War ja klar! Früher abholen war erlaubt, aber fünf Minuten zu spät kommen, musste voll bezahlt werden. Sie sah sich suchend um. »Wo ist Sammy denn?«
»Ihr Mann war schon da und hat ihn Sohn abgeholt. Ich wusste ja gar nicht, dass Sie einen so gutaussehenden Mann haben?«
Schlagartig drehte sich Alanya zu Mrs. Wickert zurück. Sämtliche Farbe wich aus Alanyas Gesicht und ihr wurde eiskalt. »Wer hat Sammy geholt?«
»Nun, ihr Mann«, sagte Mrs. Wickert und räumte weiter das Spielzeug der Kinder zusammen.
»Ich bin nicht verheiratet, Mrs. Wickert.« Panik begann sich in Alanya auszubreiten. »Wie sah der Mann aus, dem Sie meinen Sohn mitgegeben haben?«
Die Tagesmutter hielt im aufzuräumen inne und sah die junge Mutter nun an. »Er war mittelgroß und dunkelhaarig. Er sagte, er sei der Vater von Samuel Arlington und stellte sich als Joel vor!«
Alanya wurde noch blasser. »Joel Lopez?«
»Seinen Nachnamen nannte er nicht. Stimmt das etwa nicht? Ist er nicht der Vater?« Jetzt war doch leichte Besorgnis aus ihrer Stimme herauszuhören.
»Wenn es Joel Lopez war, dann ist er Sammys Vater.«
Beruhigt begann die Tagesmutter weiter aufzuräumen. »Dann ist doch alles in Ordnung!«
»Joel hat seinen Sohn bisher noch gar nicht gesehen, da er schon vor dessen Geburt die Stadt verlassen hatte.«
»Deshalb kannte Sammy ihn nicht! Das ist nicht gut«, fügte sie tadelnd hinzu und sah Alanya an. »Ms. Arlington, das können Sie in jeder Erziehungszeitschrift nachlesen. Ein Kind sollte seinen Vater kennenlernen. Schön, dass Sie sich dazu entschieden haben.«
»Das habe ich nicht getan!« Bestürzt sah sie die Tagesmutter an. »Haben Sie tatsächlich ein Ihnen zur Obhut anvertrautes Kind einem wildfremden Mann mitgeben, noch dazu, wenn das Kind fremdelte?« Alanya war so fassungslos, dass sie nicht mehr darauf reagieren konnte. Außerdem kroch die Angst um ihren Sohn immer weiter durch ihr Bewusstsein.
»Nun, er sagte doch, er sei der Vater. Was ja auch stimmt, wie Sie eben bestätigt haben. Warum hätte ich Sammy ihm denn nicht geben sollen? Sie haben auch nicht gesagt, dass nur Sie ihn abholen dürfen. Ich konnte das doch nicht wissen«, verteidigte sie sich.
Die junge Frau sah sich gehetzt um. Sie musste ihr Kind schleunigst finden. Für eine Diskussion dieser Art hatte sie keine Zeit. Ihr Blick fiel auf die Uhr. »Wann hat er ihn abgeholt?«
»Das war schon vor gut zwei Stunden. Ich war begeistert, dass Sammy mal pünktlich abgeholt wurde und dachte, vielleicht hätten Sie ihn gebeten, das zu tun, da Sie es wieder nicht schaffen würden.« Alanya schüttelte den Kopf, drehte sich wortlos um und verließ eilig das Haus. Dazu hatte sie nichts mehr zu sagen, außerdem hatte sie jetzt Dringenderes zu tun, als sich mit der Frau zu streiten. Sie musste ihren Sohn finden. Joel hatte ihn bereits seit zwei Stunden. Da konnte bereits alles Mögliche passiert sein. Hoffentlich ging es Sammy gut.
Draußen holte sie das Handy hervor und tippte auf die Rückruftaste. Sie versuchte Joel anzurufen, um ihn zu fragen, wo er war, warum er Sammy abgeholt hatte und was das hier alles sollte. Woher wusste er überhaupt von der Tagesmutter? Dann erinnerte sie sich, den Namen der Tagesmutter am Telefon erwähnt zu haben. Verdammt! Sie hatte es ihm selbst gesagt. Das Telefon klingelte, aber Joel nahm nicht ab. Die Mailbox sprang an. »Joel, verdammt, was soll das? Wo bist du? Wo ist mein Sohn?«
Sie wählte erneut, aber er nahm nicht ab. Da steckte sie das Handy wieder ein. Von früher wusste sie noch, wohin Joel ging, wenn er Drogen brauchte. Also suchte sie diese Orte auf und suchte nach ihm. Er hatte ein Kleinkind von gerade einmal eineinhalb Jahren dabei. Hoffentlich würde er ihm nicht irgendetwas geben oder ihn irgendwo allein stehen lassen. Sie musste Sammy dringend finden!
Als letzten Ort suchte sie seine alte Stammkneipe auf. Mittlerweile war sie am Ende vor Sorge. Sie trat ein, schloss die Tür und ging auf den Tresen zu. Die Bar war immer noch düster und dreckig, wenn nicht sogar noch dreckiger, falls das überhaupt möglich war.
Der Barkeeper trocknete mit einem fleckigen Geschirrtuch gerade die Gläser ab und stellte sie ins Regal. Jetzt hob er den Kopf und sah die junge Frau an. »Alanya, das ist schon lange her, dass ich dich gesehen habe. Du siehst gut aus!«
»Komm Bär, hör auf damit. Ich suche Joel, ist er hier gewesen?«
»Nein«, sagte er und nahm sich ein neues Glas aus dem Spülbecken.
Alanya drehte sich schon wieder um und wollte gehen, da fuhr er fort: »Er ist immer noch hier. Er ist hinten. Aber du solltest besser nicht reingehen!«
Sie ignorierte die Warnung und ging sofort zum Hinterzimmer. Hier fand sie Joel schließlich völlig zugedröhnt im Bett mit einer blonden jungen Frau. Ohne zu zögern oder sich von den bloßen Brüsten der Frau ablenken zu lassen, schritt sie auf ihren Ex-Freund zu und rüttelte so lange an seinem Arm, bis er endlich die Augen öffnete.
»Verdammt! Was soll denn das?« Mühsam hob er die Lider von seinen roten Augen und sah sie an. »Ach, du bist das! Verschwinde! Dich will ich nicht mehr. Ich will meine Ruhe!«
»Die kannst du haben, wenn du mir sagst, wo unser Sohn ist.«
»Wie? Ich habe keinen Sohn.«
»Wo ist Sammy? Du hast ihn von der Tagesmutter abgeholt. Wohin hast du ihn gebracht?«
Jetzt grinste er. »Der hat ganz schön was eingebracht, der Kleine. Wer hätte gedacht, dass der Konzern so viel bezahlt.«
»Was war das? Welcher Konzern? Bitte Joel, sag mir, was du weißt. Wo ist mein Kind?« Sie hatte so entsetzliche Angst um Sammy. Er war doch noch so klein und wusste nicht, was los war.
»Der Berger Konzern zahlt zurzeit für Kinder, die man ihnen bringt«, sagte nun die Frau an Joels Seite.
Er drehte sich zu ihr herum und schlug ihr ins Gesicht. »Halte deine Klappe! Das muss sie nicht wissen!«
»Wie, der Konzern zahlt für Kinder?« Ihre Angst steigerte sich nun zu einer Panik.
»Na für Versuche, du dumme Pute!« Joel lachte meckernd. »Dann war der Balg wenigstens zu etwas zu gebrauchen. Du warst ja so eine Enttäuschung für mich. Ich hatte gehofft, wenn ich dich vögeln würde, dann bekomme ich von deinen Eltern Knete, aber Pustekuchen. Nichts haben die bezahlt. Du warst so eine Fehlinvestition, dann sollte mir wenigstens der Balg etwas bringen. Ich sagte ja, du bist mir noch was schuldig gewesen! Jetzt sind wir quitt!« Er lachte.
Alanya drehte sich um und verließ die Bar.
Bär rief ihr hinterher: »Habe ja gesagt, du solltest da nicht reingehen.«
Draußen vor der Tür blieb sie stehen und atmete tief ein. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Als sie vor fast zwei Jahren hier allein in der Stadt gestanden hatte, war sie verzweifelt gewesen, aber sie hatte nicht aufgegeben und hatte es ohne Hilfe hinbekommen. Obwohl ihre Eltern sie hatten suchen lassen. Sie hatte es hier allein geschafft. Sie hatte einen Job gefunden, eine Wohnung und es war ihr gelungen, ihren Sohn zu bekommen und ohne weitere Hilfe so weit groß zu ziehen. Und dann, als es alles zwar nicht optimal, aber ganz gut lief, wurde ihr Sammy einfach weggenommen. Sie atmete tief ein, um die Sorgen besser verkraften zu können. Aber das half auch nicht sonderlich. Der Kleine hatte sicher entsetzliche Angst. Er war doch fast noch ein Baby.
Zur Polizei konnte Alanya nicht gehen und sie bitten, ihren Sohn daraus zu holen, denn sie hatte sich damals bei der Geburt kein Krankenhaus leisten können. Sie hatte Sammy allein in ihrer Wohnung im Schlafzimmer auf die Welt gebracht. Danach hatte sie die Geburt auch nicht bei der Behörde gemeldet, erstens kostete das etwas und außerdem hatte sie Angst gehabt, dass ihre Eltern sich einmischen würden und über das Jugendamt vielleicht eine Adoption veranlassen würden. Gedroht hatten sie damit und außerdem hatte sie Alanya damals auch suchen lassen. Seitdem lebte sie weitestgehend untergetaucht.
Wenn sie jetzt also zur Polizei ginge, würden sie ihr vielleicht das Kind wegnehmen. Das wollte sie eigentlich lieber nicht riskieren, aber andererseits ging es hier um Sammy und wenn er leiden musste, dann konnte sie es nicht einfach zuschauen.
Alanya nickte. Sie hatte eine Entscheidung gefällt. Sie würde bei der Polizei Anzeige wegen Kindesentzug erstatten. Sofort machte sie sich auf den Weg. Die nächste Polizeistation war nicht weit. Tief einatmend und ihren ganzen Mut zusammennehmend betrat sie das Gebäude.
An einem Tresen stand ein blonder Polizist mittleren Alters. Er sah ihr freundlich entgegen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Sohn wurde entführt. Mein Ex-Freund hat ihn von der Tagesmutter abgeholt und zum Berger Konzern gebracht.«
Der Polizist rollte leicht mit den Augen. »Nun, dann sollten Sie mit ihrem Freund darüber sprechen! Für so etwas sind wir nicht zuständig.«
»Nein, bitte! Sie verstehen nicht. Er hat ihn entführt!«
»Was genau wollen Sie denn nun?« Beziehungsprobleme nervten ihn.
Alanya streckte das Kinn vor. »Ich möchte eine Anzeige aufgeben. Joel Lopez hat mir mein Kind entführt!«
»Ist er der Vater?«
»Leider ja.«
»Nun, dann hat er auch das Recht, Zeit mit dem Kind zu verbringen.«
»Aber er hat ihn an den Berger Konzern verkauft! Verstehen Sie doch, er brauchte nur Geld. Ich will mein Kind zurück!«
»Nun beruhigen Sie sich erst einmal. Sie brauchen hier nicht gleich hysterisch zu werden! Was genau ist passiert?«
»Mein Ex-Freund Joel hat unseren Sohn noch nie gesehen. Aber heute hat er ihn einfach von der Tagesmutter abgeholt.«
»Aber das ist doch positiv. Sie dramatisieren wohl etwas!«
»Nein, das tue ich sicherlich nicht.« Sie atmete ein, um sich zu beruhigen. »Ich habe Joel gesucht und gefunden. Er hat mir erzählt, dass er unseren Sohn als Versuchsperson verkauft hat. Sammy ist erst ein Jahr alt! Bitte, ich brauche Hilfe. Ich muss meinen Sohn zurückbekommen.« Sie legte hilfesuchend die Hände auf die Tresenplatte.
Der Polizist seufzte. Er würde wohl doch nicht um den Papierkram herumkommen. Er holte ein Formular hervor. »Wann ist das passiert? Also wie lange ist das Kind weg?«
Endlich tat der Mann etwas. »Bestimmt schon einige Stunden!«
»Sind schon vierundzwanzig Stunden um?«
»Nein, zum Glück noch nicht!«
Nun schob der Polizist das Formular zurück und legte den Stift wieder weg. »Erst wenn vierundzwanzig Stunden um sind, nehmen wir eine Vermisstenanzeige auf. Das ist Vorschrift. Erfahrungsgemäß kommen die meisten Vermissten innerhalb dieser Zeit zurück.«
»Hören Sie doch! Mein Sohn ist erst ein Jahr alt. Er wird nicht von allein wieder kommen.«
»Vielleicht bringt ihn ja jemand vorbei!«
»Haben Sie mir nicht zugehört? Es geht hier darum, dass er als Versuchsperson benutzt werden soll. Da kann ich doch nicht erst ein paar Stunden warten!«
»Das wissen Sie doch alles nicht mit Sicherheit. Schließlich hat der Vater sein Kind abgeholt. Vielleicht ist ja alles gut. Oder haben Sie Beweise, dass das Kind bei dem Konzern ist und die ihn als Versuchsperson benutzen wollen? Für mich klingt das alles etwas weit hergeholt.«
»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Beweise habe ich nicht. Aber ich habe gehört, dass einige …«
»Dann interessiert es mich hier auch nicht weiter«, unterbrach er Alanya. »Bitte kommen Sie zur gegebenen Zeit zurück. Oder Ihr Sohn kommt von allein nach Hause.«
»Bitte, Sie müssen doch etwas tun können.«
»Sicher, ich mache jetzt Kaffeepause. Beruhigen Sie sich erst einmal.« Damit drehte er sich um und ließ sie stehen.
Alanya starrte ihm hinterher. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Nicht einmal die Polizei würde ihr helfen. Sie drehte sich um und verließ die Polizeistation. Dann würde sie lieber zu sehen, dass der Konzern sein Geld zurückbekam und sie ihren Sohn. Das war nun die einzige Option, die sie noch hatte. Ja, wenn sie das Geld an den Konzern zurückzahlte, dann würde der Konzern ihr sicher auch ihren Sohn wieder zurückgeben. Dort konnte sie ja drohen, zur Polizei zu gehen, falls sie sich nicht darauf einließen.
Sie eilte in ihre Wohnung, um ihr Geld zu holen.
Der alte Mann kam die Treppe herauf. »Wo ist denn Sammy?«
»Jack, jetzt bitte nicht!« Sie rannte die Treppe hinauf. Für Reden hatte sie jetzt keine Zeit. Rasch holte sie ihre Miete für die nächsten zwei Monate und das Geld, was sie für die Tagesmutter bereits zurückgelegt hatte und steckte es ein. Es waren achthundert Dollar. Hoffentlich reichte das.
Mittlerweile war es später Nachmittag, aber mit Glück würde sie im Berger Pharmakologiekonzern noch jemanden antreffen. Wo der Konzern seinen Sitz hatte, wusste jeder hier in der Stadt. Da jeder schon mal versucht hatte, dort zu arbeiten. Auch Alanya hatte sich dort vorgestellt.
Der Bus kam genau zu der Zeit an der Haltestelle an, als auch sie dort eintraf und brachte sie zügig zu ihrem Wunschort.
Sie trat durch den Haupteingang in das große, aus Stahl und Glas gebaute Gebäude. Neben der Glasschiebetür standen zwei Wachmänner in schwarzen Anzügen. Es gab zwei Sitzgruppen in dem Raum und eine Information oder Anmeldung, an der zwei Frauen standen. Ihre weißen Blusen und schwarzen Röcke unterstrichen das teure Aussehen des Empfangsbereiches. Hier war alles pingelig sauber und viele Werbeplakate prahlten mit dem Erfolg des Konzerns. Das alles passte nicht dazu, dass hier Versuche mit Kindern gemacht werden sollten. Daher zögerte Alanya kurz, ging dann aber entschlossen zu der Frau an der Rezeption.
Diese sah ihr skeptisch entgegen.
»Schönen guten Abend. Ich möchte mit jemandem sprechen, der hier die Kinder annimmt.«
»Welche Kinder?« Abwertend musterte sie die saubere, wenn auch einfache Kleidung der jungen Frau. »Hier werden keine Kinder angenommen oder sonst welche Patienten behandelt! Wir sind ein Forschungsunternehmen. Sie sind hier offensichtlich falsch. Würden Sie bitte gehen.« Sie nickte einem der beiden Wachmänner am Eingang zu und er kam sofort näher. »Diese Frau redet irre. Sicher ein Junkie auf der Suche nach Drogen. Bitte entfernen Sie diese Person aus der Lobby.«
Ein Wachmann kam auf sie zu.
Alanya sah erst ihn, dann wieder sie Frau am Empfang an. »Nein, bitte hören Sie doch. Mein Ex-Freund hat meinen Sohn hier abgegeben. Ich bin seine Mutter und damit nicht einverstanden. Ich möchte mein Kind auf der Stelle wiederhaben.«
Die Empfangsdame sah den Wachmann, der sich näherte, streng an. »Würden Sie sich bitte beeilen und diese Irre entfernen, das ist nicht zu ertragen!«
Alanya wurde deutlich lauter und alle Köpfe im Raum drehten sich zu ihr herum. »Ich will meinen Sohn wiederhaben und wenn Sie ihn mir nicht bringen, werde ich die Polizei verständigen.« Sie musste ihnen ja nicht sagen, dass sie erst in ein paar Stunden etwas tun würden. »Haben Sie mich verstanden! Ich bin nicht irgendwer, mein Name ist Arlington!« Normalerweise erwähnte sie das nicht, aber hier erschien es ihr sinnvoll. Der Name bedeutete Geld und Macht und manchmal hatte es geholfen, eine Arlington zu sein, wenn man etwas erreichen wollte.
Der Wachmann griff aber ungerührt nach ihrem Arm und zog sie unsanft mit sich zur Tür. Er murmelte leise: »Die Tür an der Seite! Ich komme gleich nach.«
Alanya sah ihn überrascht an.
Dann schubste er sie durch die geöffnete Schiebetür auf die Straße und stellte sich wieder auf seinen Platz.
Während der Wachmann Alanya hinauswarf, hörte sie die Frau an der Anmeldung zur anderen sagen: »Das wird hier immer bunter mit diesen Leuten. Das ist wirklich nicht mehr auszuhalten. Ohne Wachen wäre es schon gefährlich, hier zu arbeiten.«
Was die andere Frau antwortete, hörte sie nicht mehr, da sie schon auf der Straße stand. Rasch rappelte sie sich wieder auf und ging um das Gebäude herum zur Seite. Dort gab es tatsächlich eine Tür. Alanya wartete bestimmt eine halbe Stunde und wollte gerade wieder gehen, als die Tür geöffnet wurde und der Wachmann wie versprochen erschien.
»Sie kommen, um ein Kind zu liefern?«, fragte der Wachmann.
»Nein, ich komme, um es wieder abzuholen. Joel Lopez hat heute vor nur ein paar Stunden ein Kind hergebracht. Ich gebe auch das Geld zurück, das er erhalten hat, aber ich will meinen Sohn zurückhaben.«
»Du hättest besser auf ihn aufpassen sollen.«
Sie sah ihn nur wütend an. Sie würde ihm nicht erklären, wie alles passiert war. »Ich will ihn wiederhaben. Sonst gehe ich zur Polizei.« Dann fügte sie rasch hinzu: »Ich zahle auch das Geld zurück, was Sie Joel gegeben haben! Wie viel bekommen Sie?«
Der Wachmann sah sich um. »Lopez hat viel bekommen. Da die da drinnen dringend ein Kleinkind brauchten. Achthundert Dollar hat er gekriegt. Von dir aber will ich eintausend Dollar. Dann bekommst du das Kind!« Er hielt die Hand auf.
»Ich habe nicht so viel bei mir. Ich habe nur achthundert.« Sie holte das Geld aus der Tasche und reichte es ihm.
Er nahm es, zählte nach und steckte es dann sofort ein. »Dann besorge mehr!«
Sie nickte eifrig. »Das werde ich tun. Kann ich ihn jetzt mitnehmen, ich bezahle das Geld.«
»Ja, klar! Nein erst das restliche Geld, dann das Kind! Du hast Zeit bis morgen früh sechs Uhr. Dann kommen die Ärzte und er kommt ins Labor!«
Entsetzt atmete sie ein und schüttelte den Kopf. »Oh Gott, bitte nicht! Das dürfen Sie nicht tun. Er ist doch fast noch ein Baby! Bitte! Ich besorge das Geld bis dahin. Aber bitte sorgen Sie dafür, dass es ihm gut geht. Bitte! Er ist doch noch so klein!«
»Bis morgen, sechs Uhr! Mehr kann ich nicht tun!«
»Ich werde pünktlich sein. Kann ich meinen Sohn sehen? Er hat sicher fürchterliche Angst. Bitte, Sie bekommen das Geld auch. Versprochen!«
Der Wachmann beachtete sie nicht weiter und schlug, noch während sie sprach, die Seitentür vor ihrer Nase wieder zu.
Alanya senkte verzweifelt den Kopf, drehte sich um und ging zur nächsten Bushaltestelle. Dort wartete sie auf den Bus. Wo sollte sie denn noch zweihundert Dollar herbekommen? Ihre Finanzen waren restlos erschöpft. Die achthundert waren alles, was sie bereits für die Tagesmutter und die Miete hatte zurücklegen können, mehr hatte sie einfach nicht. In der Tasche hatte sie vielleicht noch fünfundzwanzig Dollar. Krampfhaft überlegte sie, ob sie noch Schmuck hatte, den sie verkaufen könnte, aber den hatte Joel damals »sicherheitshalber« mitgenommen. Auch sonst hatte sie nichts von Wert, was sie noch verkaufen könnte. Vielleicht konnte sie sich das Geld ja leihen? Rasch wählte sie Nancys Telefonnummer. »Nancy? Bitte entschuldige, ich weiß, du darfst nicht telefonieren während der Arbeit, aber ich stecke in der Klemme. Ich brauche dringend zweihundert Dollar. Kannst du sie mir leihen?«
»Nein, so viel Geld habe ich gar nicht. Zurzeit bin ich eher selbst sehr knapp bei Kasse. Es tut mir leid! Ich kann dir nicht helfen.«
»Bitte, ich brauche es dringend. Hast du vielleicht wenigstens etwas Geld, was du mir leihen kannst. Du weißt, ich würde sonst nicht danach fragen, es geht um Sammy!«
»Lany Süße, es tut mir wirklich leid! Du weißt, ich würde es dir geben, wenn ich es hätte. Aber ich musste gestern die Miete zahlen, ich habe wirklich gar nichts mehr!«
Alanya hatte das Gefühl, ihre Stimme würde versagen. »Alles klar. Danke«, flüsterte sie, dann legte sie auf und rief ihren Vorgesetzten im Versandhaus an.
»Mr. Winter, bitte entschuldigen Sie, dass ich sie störe. Alanya Arlington hier. Ich stecke in einer finanziellen Notlage und wollte fragen, ob ich einen Vorschuss von meinem Lohn erhalten könnte.«
Er lachte. »Das war ein guter Witz.«
»Bitte, Sir. Ich bin doch immer pünktlich bei der Arbeit und habe bisher noch keinen Tag versäumt.« »Nein! Ich gebe keine Vorauszahlungen aus. Wenn ich mit so etwas anfange, dann kommen nachher alle. Das können Sie vergessen! Gehen Sie zur Bank!«
»Ich flehe Sie an. Ich brauche es für meinen Sohn. Bitte könnten Sie nicht einmal eine Ausnahme machen?«
»Ich sagte: Nein! Schönen Tag wünsche ich noch!« Dann legte er auf und beendete das Gespräch.
Alanya senkte den Kopf. Verdammt! Jetzt konnte sie nur noch ihre Eltern um Hilfe bitten. Sie hatten das Geld, das wusste sie. Allerdings standen ihre Chancen schlecht, dass sie ihr helfen würden. Ihre Eltern hatten ihr damals klargemacht, dass sie nicht wollten, dass Alanya das Kind bekam. Als sie sich jedoch für ihren Sohn entschieden hatte, war sie für sie gestorben gewesen.
Schweren Herzens wählte sie nun die Nummer ihrer Eltern.
Ihre Mutter drückte den Anruf sofort weg und ging nicht einmal ran. Sie wollte wohl nicht mit einer »Toten« reden.
Ihr Vater nahm ab. »Was willst du?«
»Hallo Vater, es tut mir leid, dich das Fragen zu müssen, aber kannst du mir zweihundert Dollar leihen? Ich brauche sie dringend für deinen Enkel Samuel!«
»Du wagst es, diesem Bastard meinen Namen zu geben.« Damit legte auch ihr Vater auf.
Die junge Mutter war den Tränen nahe. Atmete tief ein und rief ihren Bruder an.
»Hallo Alanya, wie geht es dir?« Ihr Bruder klang wenigstens freundlich am Telefon.
»Hallo Benjamin, ich hoffe, du kannst mir helfen. Ich brauche zweihundert Dollar für deinen Neffen. Kannst du mir das Geld borgen?«
Er lachte. »Sicher nicht!«
»Bitte Benjamin, ich brauche es dringend. Es geht um sein Leben!«
»Dann sei doch froh, wenn du das Kind los bist!« Er lachte erneut und legte auf.
Super Familie! Immer da, wenn man sie braucht! Aber Ironie half ihr jetzt auch nicht. Wütend wischte sie die Tränen aus ihren Augen. Sie musste bis morgen früh zweihundert Dollar auftreiben und das in einer Stadt, in der jeder Bewohner jeden Cent dreimal umdrehte, seit die Autokonzerne weg waren. Verzweifelt sah sie sich um. Dann fiel ihr Blick auf ein Plakat. Dort wurde man zu Blutspenden aufgerufen. »SPENDE BLUT! RETTE LEBEN!«, stand in roten Buchstaben auf dem Plakat, darunter stand »gegen Entlohnung«. Vielleicht konnte sie ja etwas Geld verdienen, wenn sie Blut spendete. Sie trat dichter und sah, dass der Ort hier in der Nähe war. Sie musste nur eine Station mit dem Bus fahren, dann wäre sie da. Es wäre wenigstens einen Versuch wert.
Als Alanya aus dem Bus stieg, eilte sie den Gehweg hinunter. Sicher würde das Blutspendezentrum bald zu machen. Hoffentlich kam sie nicht zu spät. Als sie näherkam, sah sie, dass das Gebäude ähnlich aussah wie das von dem Berger Konzern. Es war ein hohes Gebäude, in dem auch viel Glas und Stahl verwendet worden war. Aber hier waren die Stockwerke zusätzlich mit Jalousien versehen, die immer noch geschlossen waren, obwohl die Sonne bereits am Untergehen und damit nicht mehr hell war. Das Gebäude besaß mehrere Eingänge. An der in Glas gefassten Lobby des Haupteinganges war sie bestimmt falsch. Bestimmt wurde das Blut im Labor abgenommen. Daher wählte sie den Eingang, über dem das Schild »Laboratorien« angebracht war. Sicher sollte dort das Blut auch gespendet werden.
Sie trat durch die schwere Eisentür hinein und konnte im ersten Moment nicht richtig gucken, denn das helle Neonlicht blendete sie, da es draußen bereits dunkel wurde. Als sie wieder besser sehen konnte, sah sie einen Tresen, hinter dem eine Laborangestellte saß.
Sie hatte kurze dunkelblonde Haare und ein freundliches Lächeln, während sie Alanya entgegensah. Die junge Mutter ging zu ihr hin. »Hallo, ich habe auf einem Plakat gelesen, dass man hier Blut spenden kann. Bin ich hier richtig?«
»Ja, hier sind Sie richtig.« Sie sah auf die Uhr. »Heute ist es eigentlich schon zu spät. Aber ich schaue mal, was ich machen kann.« Die blonde Frau stand hinter dem Tresen auf und ging in einen Nebenraum. Kurz darauf erschien sie wieder, lächelte und winkte Alanya hinein. »Sie haben Glück! Dr. Römer nimmt Ihnen noch das Blut ab. Kommen Sie.«
Eilig ging Alanya auf den Untersuchungsraum zu.
»Setzen Sie sich hier schon einmal auf den Stuhl«, wies die Schwester sie an.
Rasch nahm Alanya Platz. Das alles war so unschön und wäre es nicht für Sammy, wäre sie schon wieder weg. Hoffentlich ging es ihm wirklich gut!
Ein kleiner rundlicher Mann mit kurzen braunen Haaren und Nickelbrille war im Untersuchungsraum und hantierte am Labortisch herum. Er war so ungefähr Mitte dreißig. Jetzt drehte er sich zu ihr um, musterte sie freundlich und lächelte sie an. »Haben Sie schon einmal Blut gespendet?«
»Nein, bisher noch nicht.«
»In Ordnung, dann erkläre ich kurz, was hier geschieht. Zunächst werde ich Ihnen etwas Blut abnehmen, um zu sehen, ob Sie auch genügend Hämoglobin, den roten Blutfarbstoff, besitzen. Davon gehe ich bei einer gesunden jungen Frau wie Ihnen aber mal aus. Anschließend teste ich noch ihren Blutdruck, um zu sehen, ob Sie auch spenden dürfen. Dann erst kann ich Ihnen das Blut abnehmen.«
»Heißt das, dass ich heute nicht spenden kann?«
»Sie brauchen das Geld, was?«
Betrübt nickte sie. »Merkt man das so deutlich?«
Er lächelte sie mitfühlend an. »Das haben wir hier öfters. Deshalb haben wir auch auf das Plakat geschrieben, das man dafür etwas Geld erhält. Ist halt eine schwere Zeit. Welche Blutgruppe haben Sie?«
»Ich glaube AB.«
Er hob interessiert den Kopf. »Positiv oder negativ?«
»Negativ glaube ich!«
»Dann wäre es eine Seltenheit.« Er lächelte. »Schauen wir doch mal.«
»Wie viel Geld bekomme ich für eine Spende? Oder ist es abhängig von der Blutgruppe?«
Er lächelte. »Nein, das ist es nicht. Mit dem Blut führen wir hier Experimente durch, daher ist es für uns wichtig, welche Blutgruppe es ist. Aber nicht für die Bezahlung. Für einen halben Liter Blut gibt es immer fünfundzwanzig Dollar.«
»Oh!«
»Legen Sie den Arm bitte hier drauf.« Dann nahm er einen Wattebausch, den er mit Sterillium beträufelte und dann über ihre Fingerkuppe wischte. Den Wattebausch warf er anschließend in einen bereitstehenden Eimer und nahm eine kleine Lanzette und eine Pipette in die Hand. »Achtung es pikst etwas!« Mit der Lanzette stach er in die gereinigte Fingerkuppe und etwas Blut trat aus, was er sofort mit der Pipette aufnahm und auf zwei unterschiedliche Teststreifen tropfte. Er sah sie an und lächelte erneut. »Es dauert nur einen Moment. Ich teste gleich mal ihre Blutgruppe mit.«
Alanya nickte und hoffte, dass sie ausreichend Blutfarbstoff besaß, damit sie Spenden konnte. »Es sieht gut aus. Sie haben genügend Hämoglobin. Nun müssen nur noch die Blutdruckwerte stimmen und Sie dürfen spenden.«
Hoffnungsvoll nickte sie erneut.
Er nahm die Blutdruckmanschette und sah sie freundlich an. »Sie müssten den Arm freimachen, damit ich die Blutdruckmanschette anlegen kann.«
Alanya hob ihren Arm an und schob den Ärmel ihres rechten Armes so weit nach oben, wie es möglich war. »Reicht das so?«
»Ja, danke! Alles bestens.« Dann schob er ihr die Manschette über einen Arm bis hinauf zum Oberarm, dort zog er sie fest. »Sie können den Arm wieder ablegen.« Mit einem Blasebalg pumpte er die Manschette auf und drehte das Messgerät so, dass er es lesen konnte, ehe er die Luft durch ein Ventil wieder abließ. Dann nickte er zufrieden. »Der Blutdruck ist ebenfalls in Ordnung. Dann steht der Blutspende nichts mehr im Wege. Wenn Sie jetzt nicht völlig abgeschreckt sind«, sagte er lächelnd, während er die Blutdruckmanschette von ihrem Arm abmachte.
»Nein, alles in Ordnung.«
»Okay, dann wollen wir mal.« Er machte eine Schlinge um ihren Arm, zog sie bis zum Oberarm nach oben und zog sie zu. »Legen Sie den Arm bitte wieder ab.«
Alanya legte den Arm zurück auf die Ablage.
Er nahm erneut einen Wattebausch und träufele die Reinigungsflüssigkeit darauf. Anschließend reinigte er damit die Innenseite ihres Unterarmes bis zum Ellenbogen. Dann drückte er in der Mitte und suchte die Ader. Langsam wurde sie sichtbar. Zufrieden nickte er. »Achtung, es pikt noch einmal etwas«, erklärte er und stach mit einer Spritze in die Ader an der Innenseite ihres Ellenbogens. Sofort floss Blut durch den an die Nadel angeschlossenen Plastikschlauch in einen Plastikbeutel. Er öffnete die Schlinge am Arm und ließ das Blut hineinfließen. »Geht es Ihnen gut oder tut etwas weh?«, erkundigte er sich, als er den Plastikbeutel unterhalb ihres Körpers an dem Stuhl befestigte.
»Mir geht es gut, danke!« Soweit das in ihrer Situation überhaupt möglich war, stimmte es auch.
Er lächelte schon wieder. »Achtung, ich lege den Stuhl etwas zurück.« Dann brachte er den Stuhl in eine liegende Position. »Falls ihnen schlecht wird oder schwindelig, dann sagen Sie mir bitte umgehend Bescheid!«
Sie nickte und sah sich in dem Raum um. Es war ein typischer Raum, wie man ihn aus einem Krankenhaus kannte, steril und unpersönlich.
»Ist Ihnen das Geld zu wenig?«, erkundigte er sich nun beiläufig.
»Ich hatte auf mehr gehofft, aber das hilft auch schon.« Sie sah zu, wie ihr Blut in den Beutel lief. »Was genau untersuchen Sie hier?« Früher hatte sie sich für die Experimente in der Schule immer sehr interessiert, aber ihre Eltern waren der Ansicht, dass ein Chemieleistungskurs nichts für ein Mädchen sei und hatten darauf bestanden, dass sie stattdessen klassische Musik wählte.
»Nun, es werden hier verschiedene Arzneien hergestellt. Wir untersuchen auch Erbkrankheiten, besonders in Bezug auf Blut. Aber wir entwickeln auch Arzneien, die auf Blutbasis besser in den Organismus des Körpers aufgenommen werden können. Dafür brauchen wir viel Hämoglobin. Daher haben wir immer Bedarf an Blutspendern. Möchten sie in unsere Datenbank aufgenommen werden, dann würden wir uns bei Ihnen melden, wenn wir ihre Blutgruppe bräuchten oder kommen Sie lieber so vorbei?«
»Ich denke, ich werde wohl nicht häufig zum Blutspenden kommen, daher brauchen Sie mich nicht aufzunehmen.« Sie lächelte den sympathischen Arzt an.
Der hatte sich dem anderen Teststreifen zugewandt, um zu sehen, welche Blutgruppe sie nun tatsächlich hat.
Als der Beutel schon beinahe voll war, fragte sie den Arzt: »Ich kann nicht vielleicht ausnahmsweise mehr als einen halben Liter spenden?«, fragte sie vorsichtig.
Der Arzt drehte sich von dem Teststreifen zu ihr um. »Nun, jeder Mensch hat sechs bis sieben Liter Blut im Körper. Man darf nicht zu viel entnehmen, dann schadet man dem Organismus. Der Kreislauf könnte schlappmachen und man wird sehr müde.«
»Okay! War nur eine Frage.« Sie schluckte und schloss kurz die Augen.
»Brauchen Sie so dringend Geld?«
Sie öffnete die Augen wieder, sah ihn an und nickte.
Er drehte sich erneut zu dem Versuchstisch um. Nach einem Moment trennte sich das Blutplasma vom Blutserum und er konnte erkennen, welche Blutgruppe vorlag. »Also Sie haben Blutgruppe AB!«
»Das sagte ich ja schon.«
»Aber Sie sind wirklich Rhesusfaktor negativ.«
»Okay, heißt das dann, dass ich mehr spenden kann?« Hoffnungsvoll sah sie ihn wieder an.
Er schaute nachdenklich zurück. »Diese Blutgruppe hat nur etwa ein Prozent der Weltbevölkerung. Ja, vielleicht mache ich da tatsächlich mal eine Ausnahme!«
Der Beutel war fast voll, da klemmte er den Schlauch ab und unterbrach so den weiteren Einfluss. Dann nahm er den Beutel ab und verschloss ihn sorgfältig, ehe er einen anderen an den Schlauch anschloss und die Zufuhr wieder öffnete. Auf diese Weise füllte er insgesamt drei Beutel mit ihrem Blut, ehe er einen Tupfer nahm und ihn auf die Einstichstelle drückte, während er die Nadel entfernte. Dann drückte er einen weiteren Moment darauf, ehe er sie aufforderte: »Können Sie bitte hier draufdrücken?«
Sie drückte auf die Stelle.
Als sie aufstehen wollte, sagte er: »Nein, bitte bleiben Sie noch einen Augenblick liegen. Das ist nach der Spende immer besser. Der Kreislauf gerät dabei immer etwas aus dem Gleichgewicht.«
Also lehnte sich Alanya wieder zurück. Lange würde sie aber nicht hier sitzen können, denn die Zeit lief ab und sie musste noch weitere einhundert Dollar auftreiben.
»Es wäre gut, wenn sie einige Zeit in einen unserer Krankenräume gehen würden. Damit wir sicher sind, dass es Ihnen auch wirklich gut geht, ehe Sie uns verlassen!«
Sofort schüttelte sie den Kopf. »Nein, das geht leider nicht. Aber vielen Dank für das Angebot!«
Dr. Römer nickte nur und holte einhundert Dollar hervor und gab sie ihr. »Bitte seien Sie in den nächsten Stunden sehr vorsichtig. Am besten Sie fahren gleich nach Hause und legen sich hin. Ihr Kreislauf wird angeschlagen sein. Ich habe Ihnen viel Blut abgenommen. Sicher wird Ihnen kalt werden und Sie werden müder sein als sonst. Aber das geht wieder vorbei, wenn Ihr Körper das Blut ersetzt hat. Aber Sie sind in der Zeit etwas empfindlich, daher seien Sie bitte vorsichtig. Ich bekomme sonst wirklich Schwierigkeiten hier.«
Sie nickte nur. Sie war ihm dankbar, da er ihr mehr Blut als gewöhnlich abgekauft hatte. So hatte sie schon die Hälfte dessen, was sie brauchte, zusammen. »Ich werde aufpassen. Versprochen!« Sie verließ das Labor. Dabei merkte sie wirklich, dass ihr schwindelig war, aber es war nur so, als sei sie leicht beschwipst.