Читать книгу Villa Freud - Christine Grän - Страница 5
I
Margareta 1
ОглавлениеDer rote Ball rollt träge über den Asphalt. Er endet seinen kurzen Weg auf der durchbrochenen weißen Linie. Nicht die Bewegung, der Stillstand führt zur Katastrophe, doch wer sollte dies wahrnehmen an einem heißen, müden Nachmittag in einer Straße verkehrsberuhigter Anwohner?
Die Straße liegt in einer gewöhnlichen Stadt, deren Bürger besteuert, verkabelt und zur Begrünung ihrer Fensterfronten aufgerufen werden. Begonienorgien und Taubenscheiße beleben die Fassaden, hinter denen Menschen versuchen, an der Monotonie aller Tage den Geschmack des Lebens zu finden.
Die Frau am offenen Fenster begießt mit altersschwacher Hand blaue Blumen, die in soldatischer Reihe in Plastiktröge gepflanzt sind. Ordnung ist das halbe Leben, auch wenn die Frau längst tot ist. Ihr leerer Blick ist auf das Mädchen gerichtet, das seinen Ball vergessen hat und den Gehweg mit bunter Kreide bemalt. Kleine Menschen sind Störenfriede, die zur Sachbeschädigung neigen. Sie mag Kinder nicht, weder die eigene Brut noch die fremden. Geburten, Hochzeiten, Todesfälle sind an ihr vorübergegangen wie die Jahreszeiten, und sie ist dabei nur alt und boshaft geworden. Sie wünscht sich, dass ein Auto dem Spuk ein Ende bereiten möge. Der rote Ball stört sie. Er gehört nicht auf ihre Straße.
Eine Familie mit vier rothaarigen Kindern, ohne Begonienbepflanzung, ist im Viertel ein Fremdkörper. Dieses Mädchen füttert die Tauben in kindlicher Tierliebe. Sie ist nicht die Einzige, und so wird Krieg geführt in dieser Straße, ein Taubenkrieg, in dem sich Tier- und Fassadenschützer in unerbittlicher Härte gegenüberstehen.
Ein Autofahrer ist dem Ball ausgewichen, er hupte und fuhr weiter. Das Kind sah nicht auf. Es malt weiter farbige Kreise auf grauen Stein, die der Regen wegwaschen wird, Gott sei Dank. Sie wendet sich ab und schlurft in die Speisekammer, wo sie ihre toxischen Vernichtungswaffen in Marmeladengläsern aufbewahrt, ein Schrein der Vergeltung für alle, die Ruhe und Ordnung stören.
Geleitet von der Schwerkraft bewegt sich der Ball in Richtung Straßenrand, nachdem der Wagen ihn passiert hat. Ein Radfahrer umfährt ihn und ruft dem Mädchen zu, es möge sein Spielzeug in Sicherheit bringen. Es sieht auf, lächelt und winkt mit Kreidehänden. Der Student versucht, sich an seinen Namen zu erinnern, als er weiterfährt. Er endet mit a, so viel steht fest. Alle Töchter dieser Familie tragen Namen, die mit diesem Buchstaben ausklingen.
Laura, die Zweitälteste, teilte mit ihm einst eine Parkbank in der Dämmerung. Als es dunkel wurde, hat er sie hingelegt, entkleidet und geliebt für ein paar Minuten. Es war eine kalte Nacht, daran erinnert er sich, und dass er sich beeilte, weil seine Hände Gänsehaut berührten. Sie sprach wenig und schien seltsam unberührt von seinen Bemühungen, eine gemeinsame Basis der Lust herzustellen. »Man sieht sich«, sagte er zum Abschied, und diese Floskel, sie wussten es beide, war das Ende.
Laura arbeitet in der Bäckerei am Ende der Straße, und immer, wenn er Mohnbrötchen kauft, erinnert er sich, wie sich ihre Haut anfühlte. Es heißt, dass sie bald heiraten wird, einen Bankangestellten mit Neigung zur Flasche. In dieser Straße leben die Menschen wie Exponate in Glasvitrinen, und sie hüten ihre letzten, bösen Geheimnisse, über die gleichwohl geflüstert wird. Er ist froh, anderswo zu studieren und diesem Terrarium kleinbürgerlicher Karikaturen entronnen zu sein. »Höhlenmenschen«, nennt er diese Leute, wenn er mit seinen Hamburger Freunden über sie spricht. Es kommt selten vor. Man schämt sich.
Margareta, so heißt die Kleine, es fällt ihm an der roten Ampel ein. Sie ist mit fünf Jahren die Jüngste der Familie, ein hässliches, dürres Kind mit großen blauen Augen und den roten Haaren, die sie und ihre Schwestern aus dem normalen Bild der Straße aussondern. Hexen werden nicht mehr verbrannt, sondern verspottet, und Laura gab ihm zu verstehen, dass auch dies sehr schmerzhaft sein kann.
Ihr Vater trägt die Post im Viertel aus, ein kleiner, rundlicher Mann, dem ein Dauerlächeln ins Gesicht gemalt ist. Ein Gehalt und fünf Frauen: Man könnte sich fragen, worauf die Heiterkeit dieses Mannes beruht, aber letztlich interessieren ihn die Leute nicht. Er hat sie hinter sich gelassen wie Übergepäck, das die Beförderungsgebühren nicht lohnt.
Der Student befestigt sein Fahrrad an einem Metallständer vor der Bäckerei, während das Mädchen Margareta sein Kreidebild bewundert und hofft, dass es nie wieder regnen möge. Sie wird Malerin werden, sehr viel Geld verdienen und an einem Ort mit Tieren leben, die nicht umgebracht werden, und mit Bäumen, die in den Himmel wachsen. An dem Leute nicht an Fenstern stehen und einander beobachten. Ein Haus mit hohen Zäunen und vielen Zimmern, in denen sie allein sein kann. Die Welt ist ein schöner Traum, aus dem sie ungern in die Wirklichkeit erwacht. Sie möchte nie erwachsen werden wie ihre Schwestern.
Der Wind treibt Blätter durch die Straße, spielt mit dem roten Ball und treibt ihn zurück zur Mittellinie. Verweht so schnell wie er kam und hinterlässt bleierne Hitze, die den Asphalt weich und verletzlich macht. Stille, die von Motorengeräusch durchbrochen wird. Der Busfahrer, der auch für Tiere bremst, weil er sie für die besseren Menschen hält, schert aus und verschont das unbekannte Objekt. Gibt es fette, rote Vögel? Egal, was zählt, ist die gute Tat, und er braucht viele von ihnen, um sich besser zu fühlen an Tagen wie diesem, oder an allen Tagen. An der Haltestelle bremst er sanft und lächelt durch den Rückspiegel, um seinen Fahrgästen zu zeigen, dass er die Macht über die Pedale so oder so nutzen kann.
Eine der Schülerinnen, die den Bus verlässt, ist Agatha. Sie hält sich für das Aschenbrödel der Familie und führt dies auf die Namensgebung zurück. Denken Eltern niemals darüber nach, was sie ihren Kinder antun? Hexenhaare und Sommersprossen würden für die Hölle auf Erden durchaus genügen. Jeden Tag in der Schule wird sie neu durchlebt, und zu Hause lauern die Schwestern als Spiegelbilder einer rothaarigen Zukunft mit Brillen und Zahnspangen. Manchmal möchte sie sterben, nur um der drangvollen Nähe dieser Familie zu entrinnen.
Glück. Ein Mutterwort und die Beschwörungsformel, mit der die Familie in einer Art Marathontalkshow zum Applaus bewegt werden soll. Glück ist ein Wort, das Agathas Haut wie Salzsäure ätzt. Der häufige Gebrauch ändert nichts an dem geldwerten Mangel. Nach eigener Einschätzung rangiert ihr Clan knapp über den Asylantenfamilien, denen ihr Vater die Post ins Haus bringt.
Eine Vierzimmerwohnung für sechs Leute. Sie teilt einen Raum mit Margareta, und wenn man das Gefühl hat, in Schachteln zu hausen, erscheint die Welt groß und uneinnehmbar. Um die Beschränkung zu überwinden, beginnt man zu hassen, zum Beispiel eine kleine Schwester, die unruhig träumt und im Schlaf spricht.
Margareta ähnelt einem sehr verunglückten Engel, wie sie auf der Haustreppe sitzt und sehnsüchtig in den Himmel starrt. Agatha zieht eine Fußspur über das Kreidegemälde, weil es Freude macht, Menschen wehzutun, die sich nicht wehren können.
»Es wird ein Gewitter geben«, sagt sie, als Margareta aufheult, und sie fugt hinzu: »Willst du nicht mit reinkommen?«
»Aber ich mag Gewitter.«
Natürlich. Sie liebt alles, was andere als störend empfinden. »Nun komm endlich. Und vergiss deinen Ball nicht. Warum liegt der überhaupt auf der Straße?« In dieser Familie darf nichts verloren gehen. Dinge sind kostbar, auch wenn man sie nicht anbeten darf. Selbst Joghurtbecher werden gesäubert und weiterverwendet. Recycling als elftes Gebot.
Agatha tippt mit ihrer Fußspitze sanft in Margaretas Seite. Die Kleine sieht hoch und lächelt. Sie verzeiht schnell und ist ein fügsames Kind, wenn es nicht um Träume oder Tauben geht. Jetzt sammelt sie vorsichtig die Kreide ein, auch die Stummel, und wirft sie in den Joghurtbecher, den ihre Schwester aufgehoben hat.
»Der Ball. Nun hol ihn endlich.« Dieses Kind vergisst vieles oder hört nicht richtig zu, eine Form von Selbstschutz, der in dieser Familie zum Überlebenstraining gehört. Agatha weist mit dem Finger auf die Straße.
Margareta weiß, dass sie nicht auf die Straße laufen darf, man hat es ihr hundertmal gesagt... und jetzt glaubt sie, dass Tagesbefehle die großen Gebote aufheben. Sie folgt der Richtung des Fingers auf Zehenspitzen, weil der Asphalt heiß, fast nachgiebig ist. Sie sieht nach oben, um den Himmel zu fragen, ob es regnen wird. Die Wolken zeichnen schemenhafte Figuren von bedrohlichen Ausmaßen, und sie meint, einen Drachen zu entdecken.
Margareta sieht himmelwärts, und so kann sie nicht sehen, was auf der Erde geschieht. Ein großes, weißes Auto fährt eine Spur zu schnell auf einer verkehrsberuhigten Straße. Die Sonne blendet. Die Fahrerin neigt ihren Kopf zum Seitenfach, um ihre Brille zu suchen. Das Kind bückt sich nach seinem Ball.
Katastrophen scheinen jenseits der Zeit abzulaufen. Agatha sieht die Szene in unendlicher Langsamkeit, durch eine winzige Öffnung rieselt feiner Sand zu Boden und bildet einen Hügel aus Sekunden. Der Schrei und die Bewegung treffen zusammen. Sie weiß, dass ihr nur noch der Sprung bleibt, um alle Schuld zu tilgen. Sie ist eine träge Masse, die Kraft der Erde ist anziehend, und doch wieder nicht. Alle für einen, das Familienmotto, und sie hat es immer gehasst. Jetzt ist sie ganz allein.
Die alte Frau verteilt Gift auf ihrer Fensterbank. Der Student kaut ein Brötchen und denkt an Gänsehaut. Das Quietschen der Bremsen ist allzu laut für die Stille dieser Straße. Die ungeheuer gewaltsame Berührung von Metall und Fleisch hingegen erscheint merkwürdig leise.
Der rote Ball rollt auf die andere Seite, überspringt die Kante zum Trottoir und schmiegt sich an einen Hydranten. Er ist unbeschädigt. Ein paar Idioten sprechen von einem kleinen Wunder, später. Es gibt bessere, aber hier, in dieser Straße, geschehen sie nicht.