Читать книгу Villa Freud - Christine Grän - Страница 6

II
Rita 2

Оглавление

In dieser Familie werden Tragödien zelebriert wie Picknicks im Park oder Messen mit satanischem Einschlag. Sonntags finden Ausflüge statt, und sechs Leute wandern mit Rucksäcken und Körben sowie Klappstühlen und einem zerlegbaren Tisch in die biotopischen Reste der Natur, die als Freizeitangebot der Stadt gehandelt werden.

Die Älteste der rothaarigen Frauen schreitet voran wie eine Gänsemutter, nur graziöser. Das Ziel ist der Badesee, ein Teich am Rande der Stadt, zu dem Leute pilgern, die oftmals große Bäuche tragen, weil sie sich Sushi nicht leisten können. Denkt Rita, die diese Sonntagsvergnügungen hasst, schon deshalb, weil sie in dem zarten Alter ist, in dem alles, was Erwachsene tun, grob und unangemessen erscheint. Sie ist sechzehn, und es ist eine schwere Zeit.

Sie trägt den Korb mit den Salaten. Gott sei Dank, sagt Vater, gibt es am Tag des Herrn keine Post auszutragen. Er sagt es jeden Sonntag, denn er ist ein verbaler Wiederholungstäter. Das Publikum hält still, weil es kein Entkommen gibt aus diesem Stück, es sei denn, man wird erwachsen oder läuft in ein Auto.

»Sie ist bei den Engeln«, sagt Mutter und blickt nach oben, als gäbe es in dem kalten Blau etwas zu sehen, das diese Hypothese bestätigt. Sie hat nicht geweint, als der Sarg in die nasse Erde gesenkt wurde, obwohl die anderen es taten, sogar die alte Frau von gegenüber, die Taubenmörderin. Man muss ihre Haltung bewundern, flüsterten die Trauergäste, und unterstellten der Frau insgeheim Hartherzigkeit. Die Wahrheit ist unsterblich und wird individuell beerdigt.

Niemand sagt, was er denkt, das ist Ritas Meinung, und sie schließt die ihr Nahestehenden nicht aus; die Welt ist ein Lügengebäude, in der jeder sein Zimmer des Missvergnügens bewohnt. An Tagen wie diesen wünscht sie sich, auf der imaginären Wolke der Schwester zu wohnen, schwerelos und schuldlos.

Keiner hat es je ausgesprochen, doch alle fühlen sich auf ihre Weise schuldig. Seit dem Tag, an dem sie starb, hat die Unverletzbarkeit dieser Familie Schaden genommen, und sie begannen, Vaters ewigem Lächeln zu misstrauen. Er kann sie nicht beschützen, niemand kann es, und die Schwestern, die Überlebenden, suchen das Vergessen, während die Alten ihren ohnmächtigen Zorn durch Heiligsprechung lindern.

Jeden Abend, vor dem Tischgebet, zündet Mutter eine Kerze an. Bisweilen spricht Vater von Wiedergeburt. Vielleicht als Ameise, die Rita jetzt zertritt. Manche trifft es hart, immer wieder. Sie möchte gerne böse sein oder zumindest ein rätselhaftes Traumwesen wie Mélisande. Doch sie ist nur Rita, eingeschnürt in diesen Körper, diese Familie und ihre Mittelmäßigkeit, die alles, gut oder böse, bis zur Unkenntlichkeit einebnet. Das Wollen und das Sein sind Parallelen, die sich nie begegnen. Und so fehlt in Ritas Leben nichts – und alles.

Die Grundbedürfnisse werden gestillt, doch alles, was über Nahrung hinausgeht, ist Luxus. Man brauche ihn nicht, sagt Gregor, er verstelle nur den Blick auf das Wesentliche.

Das Wesentliche ist, dieser Kindheit unbeschädigt zu entrinnen. Im Feuerkreis der Armut harrt Ritas Brünnhilde auf Rettung, und sie kann nur in der Größe liegen. Die Opernbühne als Rettungsring, doch noch befindet sie sich auf der Titanic und sehnt Eisberge herbei.

Der rote Ball liegt in Ritas Zimmer. Eine Reliquie, niemand würde mit ihr spielen. Als sie ihn aufhob an jenem Tag, war Blut an ihren Fingern. Sie weinte. Und wurde getröstet. Und hörte in gewisser Weise nie wieder auf zu weinen. Nichts ist so schwer, wie sich nicht selbst zu betrügen.

Sie haben den sorgfältig ausgewählten Platz am See eingenommen, im Schatten eines Baumes und in angemessener Nähe zum Ufer. Über den Klapptisch wird eine Plastikdecke gebreitet. Hanna zählt die Stühle, einer fehlt.

Laura sondiert die Umgebung, denn sie sucht einen Mann, der sie von allem erlöst. Sie ist zurückgekrochen in den Schoß der Familie, geschieden und kinderlos, auch aus praktischen Erwägungen, denn Brot zu verkaufen finanziert noch keine Miete. Laura investiert ihren Lohn in Kleidung, das gepflegte Äußere ist der Köder, mit dem sie ihr Glück angeln will. Ihr erklärtes Lebensziel beim Verlassen der elterlichen Wohnung war, nie wieder Gebrauchtkleidung zu tragen. Natürlich wollte sie auch eine glückliche Ehe führen und zwei Kinder in die Welt setzen. Sie hat ihr Bestes getan, aber es war nicht gut genug für einen Mann, der »eine lockere Hand« besaß. So nannte er es, wenn er sie schlug. Es hatte mit Bier und Aggressionen und der Verfügbarkeit einer Schwächeren zu tun. Und es tat weh.

Dass es ihm Leid tat, hinterher, linderte den Schmerz nur nach den ersten Malen, so lange, bis sie begriff, dass seine lockere Hand sie ihr Leben lang begleiten würde. Und so verließ Laura die Wohnung, die sie mit so viel Liebe dekoriert hatte, und kehrte nach Hause zurück. Das Eingeständnis einer Niederlage, die ihre Mutter als Sieg deklarierte. In dieser Familie ist Gewalt ein Tabu, das man nicht berührt. Lauras Vorsatz, eine Kampfsportart zu erlernen, verflog wie alle anderen Pläne für ein neues Leben. Sie besucht einen Schminkkurs in der Volkshochschule.

Nun schlägt sie nach einer Mücke und handelt sich Vaters strafenden Blick ein. Gottes Kreaturen werden nicht ermordet und nur in jenen Fällen verzehrt, in denen ein mitfühlender Mensch sie mit schonender Hand ins Jenseits befördert hat. Hühner vom Biobauern zum Beispiel, oder die tranigen Fische, die Gregor Bronner um Verzeihung bittet, bevor er sie tötet. Er hat sich seine eigene Religion geschaffen, eine schlichte Mischung aus Buddhismus, Hinduismus und Katholizismus mit einer Prise calvinistischer Sturheit.

Sich zu fügen und sein Regelwerk heimlich zu hintergehen, gehört zum Spiel, das sie alle perfekt zu beherrschen gelernt haben. Er ist ein gütiger Diktator, ein Briefträger, der Priester werden wollte, ja es vielleicht sogar geworden wäre, hätte nicht diese schöne, rothaarige Frau seinen Weg gekreuzt. Er liebt sie, er betet sie an, er trägt Briefe aus, um sie und ihre Kinder zu ernähren, und jeden Tag dankt er allen Göttern für das Glück ihrer Gegenwart, ihrer Stimme, ihres Körpers, ihrer Zuneigung, ihres unvergleichlichen Gulaschs und ihrer gemäßigt sadistischen Neigungen, die seine sexuellen Präferenzen vortrefflich ergänzen.

Das Leben wäre perfekt, wenn es den Tod ausschließen könnte. Nach dem letzten, aus ihrer Sicht ungewollten Kind, ließ sich seine Göttin sterilisieren. Es sei genug, sagte sie, und er widersprach nicht, weil er ihre versteinerte Trauer fürchtete. Seither stellt sie ihm nur noch ihren Mund zur Verfügung, mittwochs und samstags, als ob man doppelt verhüten müsse. Kann er mit dieser Frau über Sex oder Logik diskutieren? Nein, er wartet mit Demut und Geduld, dies sind seine Stärken, und doch ahnt er, dass etwas zerbrochen ist, das nicht mehr heilen kann. Es macht ihn reizbar, gestern hat er einen Hund getreten in Notwehr und Ausübung seines Dienstes, und in der Woche zuvor hätte er beinahe seine Hand gegen Rita erhoben.

Sie war immer schon ein seltsames Kind, fügsam und widerspenstig in einem, und von allen Mitgliedern der Familie scheinen die Schuldgefühle sie am stärksten zu belasten. Was man verstehen kann, und versucht er nicht, alle und alles, was ihm widerfährt, demütig hinzunehmen? Liebe ist der Schlüssel, und Anna, die Älteste, versteht am besten, was er seinen Kindern predigt.

Anna arbeitet als Pflegerin in einem Seniorenheim, wo ihre Jugend und Rubensfigur ebenso geschätzt werden wie ihre unerschütterliche Frohnatur. Sie hat sich nie für Männer interessiert, die jünger als sechzig sind. Sie nennt es »die fette Beschränkung der Möglichkeiten«.

Es erstaunt ihn immer wieder, wie verschieden seine Frauen sind. Das Wunder der Vermehrung in unterschiedlichen Körpern und Geistern. Rita ist dürr und ein Schwergewicht an Maßlosigkeit. Sie will Wagner-Sängerin werden und wird nicht müde, diesen absurden Wunsch zu äußern und um Gesangstunden zu betteln.

Armut ist ein bescheidener Nährboden für geistige Entwicklung, doch erlaubt auch er Hoffnungen und Chancen. Aber nicht Wagner. Sie hat eine hübsche, zarte Stimme und singt im Kirchenchor, obwohl Gregor den rituellen Handlungen in barocken Prachtbauten misstraut. Er hat nichts gegen Musik, Gott behüte. Mozart, Strauß, die amerikanischen Schnulzen, die seine Frau so gerne hört. Sie singt manchmal, während sie kocht, und dieses Bild, der Klang und die Gerüche sind so maßlos schön, dass sie sein weiches Herz vollends zum Schmelzen bringen. Die Liebe und der Tod, andere Geheimnisse gibt es nicht, und anderes möchte er weder entdecken noch erforschen.

Gregor beobachtet seine Frauen vom Wasser aus. Rita gleicht einer Statue, die ein Bildhauer unvollendet ließ. Zu klein für ihre großen Ambitionen. Der Lump, so nennt er Lauras Exmann, nahm sie mit in Tristan und Isolde, und sie kam zurück wie eine, die ihren Gott gehört hat. Was hat er ihr gesungen? Rita schweigt, wenn man in sie dringen will. Töchter sind ein großes Geheimnis.

Rita beobachtet den Flug von Vögeln und wünscht sich, einer von ihnen zu sein. Ihre Schwester Laura sitzt in graziöser Haltung am Ufer und sehnt sich nach dem Märchenprinzen. Es gibt Leute, denkt Rita, die ihr Leben lang auf etwas warten. Andere grillen an Badeseen, und es riecht nach verbranntem Fett. Sie hört das Kreischen von Transistorradios und Kinder, die um die Wette plärren, und sieht hässliches Menschenfleisch, unverhüllt und ohne Scham. Wenn dies das Leben ist, sollte man nicht von seiner Schönheit sprechen.

Denken diese Leute zu Lande und zu Wasser jemals über den Mythos von Eros und Tod nach? Rita gibt sich selbst die Antwort: Nein. Außerdem hasst sie ihre fahlen, dünnen Schenkel, und nur in ihrer körperlichen Unvollkommenheit fühlt sie sich dazugehörig. Sie schreibt Gedichte, und sie sind schlecht. Sie singt, sie schreit mit allem, was ihre Stimme hergibt, und niemand hört zu. Alle Sehnsüchte sind so, als wolle man mit Netzen den Wind einfangen. Man biegt sich, den meisten fällt es leichter als ihr.

Wenn du in der Schule gut bist ... Vaters erpresserische Formel für Gesangstunden: Rita ist eine aufmerksame und angepasste Schülerin. Denken sollen die Bildungssoldaten, aber nicht zu viel, und vor allem nicht anders, denn Lehrer sind auch nur Menschen, die Macht ausüben und Macht missbrauchen. Die Schule als Biotop der Züchtung des geringsten Widerstandes: Ihre Energien sind darauf gerichtet, nicht aufzufallen. Kein Zoff mit den Lehrern, den Banden, den Cliquen. Wenn sie niemandem bedrohlich oder lächerlich erscheint, lässt man sie in Ruhe. Cool sein heißt, jegliches Gefühl nur in gefrorenem Zustand an die Außenwelt zu lassen. Vielleicht hat jeder Angst, und deshalb lügen alle. Und alle verlassen die Welt in tiefgefrorenem Zustand. Nur wenn sie Musik hört, taut Rita auf. Musik ist Schönheit und Perfektion. Die Flucht aus dem, was ist. »Ich will singen.« Eine andere Straße sieht sie nicht.

»Du hast eine hübsche Stimme«, sagte Ritas Musiklehrerin, die sich mit den Jahren der Ernüchterung oder Erbitterung der spirituellen Musik zugewandt hat, vor allem der Musik der Sufis, jene nächtlichen Endlosgesänge der Troubadoure Allahs, bei denen die Stimmen immer wieder ins Falsett kippen. Rita vermag weder das Entzücken noch die Ekstase zu teilen, die Klänge sind ihr fremd, doch sie heuchelt, um in der Gunst des einzigen Menschen zu bleiben, der eine reale Verbindung zur Musik darstellt. Der Chorleiter protegiert seine Sängerinnen nach der Größe ihres Busens. Sie hat nicht die geringste Chance, jemals ein Solo zu singen.

»Hör auf zu träumen und komm ins Wasser. Es ist ein so schöner Tag.«

Hanna boxt sie in die Schulter. Sie hat den Drang, andere zu berühren, ihnen körperlich nahe zu kommen, und Vater liebt es. Rita nicht. Sie schüttelt den Kopf und reibt sich die Stelle mütterlicher Zuneigung. Begreift Hanna nicht, wie verletzlich ihre Tochter ist? Hanna ist so unerschütterlich in allem, was sie tut, in ihrer Trauer oder Freude, und ihre erbarmungslose Zuneigung überrollt alles, was nicht ausweichen kann. Gott, sie ist perfekt, diese Frau, und vor allem darin, Mutter zu sein.

Rita weiß, dass ihre Mutter Pralinen an die Bäckerei verkauft und das Geld spart, um ihr diesen einen großen Wunsch zu erfüllen. Es macht sie wütend, weil Hanna sich für etwas einsetzt, an das sie nicht glaubt. Und dann, wenn sie die großen Bleche mit den Miniaturen aus Schokolade, Trüffeln und Marzipan sieht, und Hanna in ihrer weißen Schürze, fühlt Rita sich schuldig. Anna vergleicht den Genuss der rumgetränkten Rosinen eingebettet in Marzipan und Schokolade, mit den Klängen von La donna è mobile, die ihre Schwester in Trance versetzen.

Alle Lust will Ewigkeit. Und hinterlässt den bitteren Geschmack der Entbehrung. Anna wird fetter, und Rita verzehrt sich in ungestillter Sehnsucht.

Ein Blatt löst sich vom Baum, als Hanna zum See schreitet. Sie geht nicht wie andere Leute, sie setzt ihre Füße auf den Boden, Schritt für Schritt, als wolle sie von ihm Besitz nehmen.

Ihre Schönheit ist schwerer geworden mit den Jahren, aber sie ist immer noch präsent, und die Leute sehen ihr nach und fühlen sich gedemütigt. Sie ist Furcht einflößend, denkt Rita, vor allem deshalb, weil sie sich ihrer Wirkung auf andere nicht bewusst ist. Oder sich nicht darum kümmert. Hanna lebt ihr Leben wie einen schönen Traum. Und wenn sie aufwacht und stirbt, wird sie sagen, dass alles richtig war. Das ist eine schreckliche Vorstellung.

Rita wendet ihren Blick von dem weißen Rücken, auf dem ein roter, in der Sonne flammender Zopf aufliegt. Schönheit tut weh, weil sie so selten ist unter Menschen. Ein unverdientes Geschenk der Natur, die von allem im Überfluss besitzt, bis man sie zerstört. Wie diesen Badesee mit seinem niedergetrampelten Gras, den umgrenzenden Parkplätzen, den Getränke- und Eisbuden und grünlackierten Mülleimern. An Tagen wie diesem wühlen die Badenden den Schlamm vom Grund auf und verwandeln das Wasser in eine braune Brühe. Die Bäume zwischen Ufer und Parkplätzen scheinen zäh und langsam zu sterben. Noch spenden sie Schatten, doch die Mörder bevorzugen ohnehin die pralle Sonne. Lauras Haut färbt sich marmeladenrot, Rita kann es aus der Distanz erkennen. Sie hat die Gesetze der Weißhäutigen nie befolgt. Sie möchte so gerne glänzen, ihre Schwester, doch Hanna hat ihre Schönheit sozusagen aufgeteilt, jede bekam nur ein wenig davon. Rita schenkte sie ihre türkisen Augen. Der Rest ist kümmerlich. Dass sich alles noch »auswachsen« wird, behauptet nur Hanna. Sie hat Königinnen geboren, dies ist ihr fester Glaube. Weiß sie nicht, dass Königinnen tragische Figuren sind?

Der Wind spielt mit einer Plastiktüte. Rita beobachtet das willenlose Schweben, das so leicht und harmonisch scheint, ein sanftes Gleiten ohne Widerstand und Lärm, und dann sinkt sie doch zu Boden, weil es ihre Bestimmung ist. Das Schauspiel macht Rita traurig, sie weiß nicht, warum. Hanna wird die Plastiktüte später aufheben und in ihre große Badetasche stecken. In ihrem Leben darf nichts verloren gehen. Dies ist Mutters Plan, und er konnte nicht aufgehen.

Es ist schwer, hinter die Wirklichkeit zu sehen, wenn sie einen ständig zwingt, vordergründig zu handeln. Die Kindheit ist ein Märchen oder eine besondere Form der Hölle. Kein falsches Familienidyll kann ihr die Furcht nehmen, in dieser Hölle für ewig verloren zu sein. Denn wer die Wahrheit nicht in sich selbst zu schauen vermag, dem kann sie kein Buddha offenbaren. Würde Vater sagen. Die Wahrheit ist: Rita würde über Leichen gehen, wenn sie sich dafür den Traum der großen Sängerin erfüllen könnte.

Sie atmet tief ein und empfängt die Aura von Holzkohle und Bratwürsten. Zum Singen gehört richtiges Atmen, und zum Atmen die richtige Körperhaltung. Sie bemüht sich immer, sehr aufrecht zu gehen, das ist nicht leicht.

»Ich will Wagner singen. Ich will Gesangsunterricht.« Das ist alles, worüber Rita sprechen will. »Später«, sagt Gregor dann. Später ist der Tod, und jeder Tag verloren, an dem man nicht das tut, was man wirklich will. Und so wartet Rita auf die wild card, das unvorhergesehene, nicht berechenbare Ereignis, das die Welt verändern wird. Den Entdecker ihrer Stimme. Es wird nicht der Chorleiter sein, der sie rügt, wenn sie versucht, die anderen zu übertönen. Crescendieren bedeutet wachsen, lauter werden in der Musik, und sie will diese Kirche ausfüllen, wenn sie singt, und die Orgel besiegen und diesen Mann, der die Callas in die letzte Reihe gestellt hätte, weil ihm ihr Gesicht missfallen hätte. Schönheit geht vor Wohlklang, und ein Verlierer, der Sieger spielen darf, hat großes Talent zum Folterknecht. Rita hasst ihn mit der Intensität eines Opfers, das gerne Täter wäre. Sie würde ihn über die Balustrade ins Kirchenschiff stoßen, wenn sie den Mut dazu hätte.

Doch das Leben ist nicht kühn und gewaltig, nur feige und lächerlich. Die Mädchen mit den großen Brüsten und den kleinen Stimmen lachen über den Mann, der sie mit seinen Blicken vögelt, und sie reizen ihn mit engen T-Shirts und verheißungsvollem Lächeln. Man zieht sich selten aus für einen, dem man sich überlegen fühlt.

Rita hat es dennoch getan, dreimal mit einem Jungen aus der Schule. Er spielt Saxophon in einer Band, das war wohl der Grund, und wenn sie nicht die Augen geschlossen und Musik gehört hätte, wäre die Inszenierung zum Fiasko geraten. Er hatte vermutlich ein Buch über orale Befriedigung gelesen und verbrachte (nach Ritas und vermutlich auch seiner Meinung) endlose Zeit mit seinem Mund zwischen ihren Beinen. Sie fühlte nichts außer Langeweile und Erstaunen darüber, wie viel Aufhebens um eine Sache gemacht wird, die in Eigenregie sehr viel befriedigender und zielorientiert ist.

Sein Saxophonspiel war in seiner Unvollkommenheit eindeutig besser, nur hatte sie nicht den Mut, ihm das zu sagen. Und so hielt sie still und seufzte zu den Klängen von Jonas Gwangwa, und als die Musik zu Ende war, entfernte sie sanft seinen Kopf und lächelte in der Art von Frauen, die Männern alles verzeihen, auch die Hinrichtung von Erotik, obwohl sie von der Bedeutung dieses Wortes wirklich keine Ahnung hatte.

Dann kniete sie zwischen seinen Beinen und nahm in den Mund, was nicht schmeckte und zu umfangreich wurde, um genießbar zu sein. Auch die Vorstellung, auf einem Saxophon zu spielen, machte die Sache nicht besser. Doch er war gnädig und überschwemmte sie mit seinem Samen, bevor der Brechreiz unerträglich wurde. Das war ein Augenblick, in dem Rita glaubte, dass Frauen Männern überlegen seien, trotz allem. Vielleicht, weil bei ihnen alles nach innen gerichtet ist und viel verborgener.

Beim zweiten Mal, als er in sie eindrang, revidierte sie diese Ansicht. Es tat weh. Und wieder spürte sie nichts außer geringfügigem Schmerz und dem Gewicht, das auf ihr, in ihr war. Schweiß auf ihrer Haut. Das Geschlecht als Brennpunkt des Willens in der erotischen Konzeption einer Oper. Höchste Lust, und Isolde sinkt sanft auf Tristans Leiche. So sehr sie diese Vorstellung auch bemühte, es gab nichts, was solcher Dramatik auch nur annähernd nahe kam.

Das gefüllte Kondom erzeugte ein quatschendes Geräusch, als er es abzog. Sein Grunzen, ihr Stöhnen. Die Lautmalerei des Geschlechtsverkehrs erschien Rita als dissonant; es war, als ob ein Duett in verschiedenen, nicht zueinander passenden Stimmlagen gesungen würde.

»Bist du gekommen?«, fragte er, und Rita dachte, wohin und wozu?, doch sie nickte, weil minderjährige Saxophonspieler empfindsame Wesen sind und sie immerhin wusste, dass es so etwas wie männlichen Stolz gab, den zu verletzen auch ihre Generation nicht angetreten war. Über Sex oder was man dafür hielt, wurde in den Mädchentoiletten gesprochen oder auf dem Pausenhof. Hier wurden Noten verteilt und Orgasmen verglichen, Größe und Technik diskutiert, doch nie, niemals in Erwägung gezogen, die Mysterien des weiblichen Lustgewinns dem anderen Geschlecht mitzuteilen. Es wäre wohl Verrat an der Sache gewesen, die auch mit dem Wort Macht zu erklären war.

Das Gesetz der Trägheit und die Kräfte der Anpassung, gestülpt auf einen starken Willen, vereisen die Seele, bis sie schmilzt. Rita ahnt, dass sie all das nicht ist, was sie zu sein vorgibt. Sie ist nicht nett, dieses Bild ist so trügerisch, dass sie manchmal Angst hat, jeder könne die Fälschung erkennen. Hannas besorgte Blicke. »Du musst deinem Herzen folgen«, sagt sie ihren Töchtern, als ob das so einfach wäre. Rita ist fast überzeugt davon, in einer Gesellschaft von Gehörlosen zu leben, die sich zu Tode reden. Und gäbe es die Musik nicht, nur all die Worte, die flüssigen, überflüssigen, aggressiven, belehrenden, süßen, gemeinen, mahnenden, befehlenden, lügenden, schmeichelnden ... gäbe es nur sie und das Schweigen, so wäre sie bereit, ihr Dasein als entbehrlich zu betrachten. Es ist, so wie es ist, von trostloser Leichtigkeit. Wie ein leerer Plastiksack, den der Wind bewegt.

»Willst du gar nichts essen? Nimm doch von der Pastete!« Gregor hält ihr den Teller hin und lächelt, wie immer. Die Aufforderungen von Eltern sind verhüllte Befehle, und es wäre ein Sakrileg, Hannas Kochkunst nicht zu würdigen. Rita kommt aus ihrer Welt zurück in die Szenen ihres Lebens und spricht aus, was ihr in diesem Augenblick einfällt. Vielleicht, wenn sie darüber nachgedacht hätte, wäre sie still geblieben, doch wird andererseits zu wenig gesagt, was wahr ist, und so bleibt der freie Wille eine Chimäre, geformt aus den Nebeln der Feigheit.

»Ich esse nichts mehr, bis ihr mir erlaubt, Gesangstunden zu nehmen.«

Die Geräuschkulisse ist immer noch erheblich. Kinder toben, Mütter brüllen, Radios plärren, Motoren dröhnen, auch Lachen ist zu hören. An dem Tisch herrscht Schweigen. Gregor schiebt seinen Teller behutsam zurück. Laura betrachtet einen Fingernagel, dessen Lackschicht abbröckelt. Anna schluckt einen sehr großen Bissen hinunter. »Dann wirst du sterben.«

»Unsinn.« Hanna wirft ihrer Ältesten einen Blick zu, der besagt, dass dieses Wort im Zusammenhang mit Familie tabu ist.

Anna zündet sich eine Zigarette an. Besondere Ereignisse setzen gute Sitten außer Kraft. Laura kann die Stille nicht mehr ertragen: »Jemand, der so dürr ist wie du, sollte nicht so dumme Witze machen.«

»Es ist mein Ernst.« Rita gegen den Rest der Welt, die um einen Campingtisch mit karierter Decke versammelt ist. Das Gefühl ist überwiegend gut, auch wenn sie jetzt plötzlich Hunger verspürt, großen Hunger, als ob sie seit Ewigkeiten nichts gegessen hätte. So lange sie denken kann, wurden Familienangelegenheiten ausdiskutiert, jeder durfte etwas sagen, und am Ende entschieden die Alten, und sie nannten es Demokratie.

»Es ist eine Geldfrage«, sagt Gregor, und Hanna streichelt Ritas Arm. »Wir bitten dich doch nur um etwas Geduld.«

»Es dauert etwa dreißig Tage, bei Rita würde es vermutlich schneller gehen, weil der Körper auf keine Fettreserven zurückgreifen kann.« Anna hat, seit sie in dem Altenheim arbeitet, eine gewisse Distanz zum Tod entwickelt.

»Sei endlich still.« Hannas Hand krallt sich in den Arm ihrer Tochter. »Ich werde diesen Unfug nicht zulassen. Wie kommst du bloß darauf?«

Es war eine Eingebung, denkt Rita. Die meisten Leute misstrauen unerwarteten Gedanken und handeln deshalb so, wie es von ihnen erwartet wird. Der Kompromiss als Lebensform des geringsten Widerstandes.

»Du kränkst uns sehr.« Gregor erklärt ihr, dass das Problem des Lebens darin bestehe, über das Entweder-Oder und den Gegensatz von Ja und Nein, welche die Wahrheit verdunkeln, hinauszukommen. Er schleudert seine sanften Sätze gegen eine Mauer aus Trotz und Ablehnung.

»Vielleicht findet sich ja ein Weg«, sagt Hanna, als die anderen ratlos schweigen. Das Wort, das alle Optionen offen und der Harmonie eine Chance lässt, erschien ihr stets als Trost in schwierigen Zeiten. Die Krisen in ihrem kleinen Reich waren immer mit Vernunft gelöst worden. Und vor allem mit Liebe. Die Essensreste auf dem Tisch erscheinen ihr mit einem Mal obszön. Hanna beginnt, sie einzusammeln und in Plastikdosen zu füllen. Abends wird es ein Ragout geben, überbacken mit Schafskäse, und dazu Rosmarinkartoffeln. Die Verwertung von Resten ist eine Herausforderung, die sie immer gereizt hat. Gewisse Parallelen zum Leben sind nicht auszuschließen. Jeder kann mit den besten Zutaten große Küche zustande bringen. Die Kunst besteht darin, aus Minimalem Großes zu schaffen.

Rita war, im Gegensatz zu allen anderen, nie eine gute Esserin. Vielleicht gibt es für manche Menschen nur eine, unteilbare Leidenschaft im Leben? Gregor hat sie: Sie heißt Hanna. Hanna hat sie: Sie heißt Kochen. Und Gregor. Die Kinder. Und nichts, was darüber hinaus in der Welt geschieht, kommt ihr wirklich nahe. Draußen, das ist Kino, schön oder hässlich, mit Darstellern, die ihr fremd sind, und einem Regisseur, den Gregor früher Gott genannt hat. Heute neigt er eher zum Buddhismus, aber auch hier wäre es richtig, von einem Ragout zu sprechen, aus dem er jeweils das löffelt, was ihm gerade schmeckt. Als Priester wäre er vermutlich ein großes Ärgernis geworden.

Hanna nimmt die Plastiktüte, die am Boden liegt, und füllt sie mit abgenagten Hühnerbeinen. Später wird sie die Knorpel herauslösen und sie dem Hund des Hausmeisters geben. Die Leute werfen alles weg, und am Ende ihr Leben. Weil sie, genau genommen, auch Abfall sind, der letztendlich entsorgt werden muss. An jedem Sonntagabend im Sommer sieht das Ufer des Sees wie eine Müllkippe aus. Dann wünscht sie sich Macht und einen Lautsprecher, um die Leute zu zwingen, für Ordnung in ihrer Welt zu sorgen. Manchmal glaubt Hanna, dass sie ein guter Diktator geworden wäre.

Sie hat ihre Kinder zur Achtsamkeit erzogen, in Bezug auf Menschen und auf Dinge. Alles um sie herum scheint irgendwie zu verwahrlosen. Und jetzt probt Rita den Aufstand gegen die Armut. Hanna hat sie nie als solche empfunden. Es war immer genug zu essen da. Die wichtigsten Wünsche wurden erfüllt. Und jetzt das: Hanna kämpft gegen ein Gefühl, das sie als Wut einstuft. Der Müll und die Wut gegen die Tochter, der sie Schuld zuweist. Es ist unfair, sie will nicht so denken, aber hätte dieses verfluchte Auto nicht...

Jetzt hält sie inne. Es ist ihr immer schwer gefallen, nichts zu tun, ihre Hände nicht zu gebrauchen. Stillstand ist die Bewegung, die Hanna am meisten fürchtet. Tote sind so still. Man begreift nichts, wenn man neben ihnen steht und ganz alleine atmet. Das Zusammentreffen unglücklicher Umstände, das Schicksal, der Zufall, Gottes Beitrag, die wild card, von der Rita immer spricht, als sei sie etwas Begehrenswertes oder Gerechtes ... nein, sie kann keinen Sinn darin sehen, dass man ihr diese Karte entrissen hat, als Hanna glaubte, das Spiel des Lebens in der Hand zu haben.

Rita steht an den Baum gelehnt. Sie sieht ihre Mutter an, und Hanna denkt voller Panik, dass sie ihre Gedanken lesen könne. Rita lächelt, fast verständnisvoll. Dann senkt Hanna als erste die Augen.

»Ich weiß, dass du uns alle sehr liebst.« Rita hilft ihr, die Körbe in den Schatten zu stellen.

Sie ist so unglücklich, diese Tochter, und Hanna glaubt nur in diesem einen Augenblick, dass sie eine Schuld begleichen muss. Also stellt sie die Frage, die Zugeständnis ist: »Wie viel wird es kosten?«

Rita nimmt Hannas Hand, eine Berührung, die selten von ihr ausgeht. Die Hand, die sie ergreift, ist stark und rau, und ihre dünnen, gelenkigen Finger verschwinden fast darin. »Mindestens sechshundert im Monat. Und dafür kriegt man nicht die besten Lehrer.«

»Es ist trotzdem viel Geld. Aber wir werden es irgendwie aufbringen. Nicht wegen deiner lächerlichen Drohung. Ich denke einfach, dass du jetzt dran bist. Wir werden auf anderes verzichten müssen.«

Das Leben ist schön, auch dort, wo man es nicht erwartet. Der Tümpel verwandelt sich in einen glitzernden See. Rita möchte jetzt singen, statt dessen umarmt sie ihre Mutter mit einer Leidenschaft, die nur Musik auslösen kann. Dann nimmt sie Hannas Apfel mit der Großzügigkeit der Siegerin entgegen. Er ist klein und hässlich, und seine Haut ist verschrumpelt.

»Man muss sich durch die Schale beißen«, sagt Hanna.

Villa Freud

Подняться наверх