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2. Kapitel

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ANNE

Die Frau wird vergewaltigt, und wir geben vor, nichts zu sehen oder zu hören. »Nein!«, schreit sie, und ich blicke an dem roten Ohrensessel vorbei auf ein antikes Schaukelpferd, das hübsch bemalt ist. Mein Begleiter spricht über den Verfall des Euro, während er sie beobachtet wie ein seltenes Insekt, das sich im Todeskampf windet. Ein Kellner schenkt Champagner nach. Jemand lacht, wir sind in dieser Gesellschaft, um uns zu amüsieren. Was hier geschieht, ist nur ein ungewöhnliches, erotisches Spiel, dessen Regeln wir noch begreifen müssen. Die Frau mit den gespreizten Beinen, die sehr weiß sind auf dem roten Sessel, ist eine Fremde, so wie wir alle fremd sind an diesem Ort, und wir überspielen unser Unbehagen mit stummer Gleichgültigkeit.

Die Fremde ist mit dem Mann gekommen, der sie festhält, ihr das Kleid hochschiebt, während sie dieses eine Wort wiederholt wie eine untaugliche Beschwörungsformel. Jemand stellt die Musik lauter, um der verbalen Belästigung zu entgehen. Man könnte Tango tanzen, wenn es nicht zu anstrengend wäre, und der rote Sessel steht im Weg. Das Möbelstück bewegt sich im Rhythmus eines Vorgangs, den wir absurd finden, geschmacklos oder erregend. Unsere Gesichter sind unter Kontrolle; sie verraten nichts von dem, was wir empfinden könnten. Wir reden oder schweigen und schauen hindurch, vorbei, darüber, darunter und erheben die Szene auf die Ebene eines unwirklichen Geschehens. Man hat uns beigebracht, Fremde nicht anzustarren, nicht mit dem Finger auf Menschen zu zeigen. Das Prinzip der Nichteinmischung als heiliges Gebot höflicher Umgangsformen.

Die Frau in dem roten Sessel schreit auf, und der Mann grunzt. Dann ist es still. »Ich mag Sushi nicht besonders«, sagt eine Frau im schwarzen Hosenanzug.

»Lauter. Dieser Satz muss wie ein Manifest klingen«, schreit der Mann im Zuschauerraum. Aus seiner Perspektive sieht man nur die Rückenansicht des Sessels und die nackten Beine der Frau, die über den Lehnen hängen. Sie bewegen sich nicht mehr.

Das Stück heißt »Party«, und wir proben die Vergewaltigungsszene zum vierten Mal. Sie wird nicht besser, und ich werde nie wieder Tango hören können, ohne an diesen Akt zu denken. Liebe als Kunstform der Gewalt. Sex als optischer Anreiz, und Sprachlosigkeit als Ausdruck der verkrüppelten Gefühle. Es ist ein idiotisches Stück und wird bei der Kritik durchfallen. Oder auch nicht, vielleicht sehen sie die Kunst hinter all dem nackten Fleisch, das sich auf der Bühne zur Schau stellt. Auch Scheiße hat einen höheren Sinn, wenn man es so sehen möchte. Ich habe aufgegeben, über den Geschmack von Publikum und Kritik zu spekulieren. Ich nehme jede Rolle, die sie mir anbieten.

Mein Nacken schmerzt, und ich massiere ihn und beobachte die anderen, die nie müde scheinen, auch wenn wir lange proben so wie heute. Sie stehen auf der Bühne und rauchen und diskutieren. Es gibt Feuerschutzbestimmungen, an die sich niemand hält. Das Theater ist alt und renovierungsbedürftig, und der Besitzer vermietet es zu einem Spottpreis, bis er die Abbruchgenehmigung in Händen hat.

Die Schauspieler sind an den Einnahmen beteiligt, und die Gagen sind lächerlich. Doch sie sind jung, und sie glauben an ihr Talent und daran, dass es entdeckt wird. Sie erinnern mich an das, was ich einmal war: Julia, Gretchen, Ophelia, Penthesilea, Minna von Barnhelm, Recha, Diana, Dido, Rosalind...

Sie hat eine beachtliche Karriere hinter sich. Der Satz, der mich begleitet They will never come back. Für meine Agentin bin ich mittlerweile nur noch ein Name in ihrem Computer. Ich arbeite für eine lächerliche Gage in einem obszönen Stück, das sie avantgardistisch nennen. Und ich bin glücklich, dass sie mir die Rolle angeboten haben. Mein Nacken schmerzt, und ich weiß nicht, wie ich die Heizkostenrechnung bezahlen soll.

Leon hat das Konto geplündert, um das alte Flugzeug zu reparieren. Leon ist mein Mann, und ich liebe ihn. Seit langer Zeit, und sie hat die Liebe verändert. Sie ist weicher geworden, nachgiebiger, fast durchsichtig. Manchmal fühlt sie sich an wie Watte – und dann wieder wie Glas. Diese Liebe schützt mich vor allen anderen Gefühlen. Manchmal könnte ich ihn umbringen.

Sie haben beschlossen, die Szene noch einmal durchzuspielen. Ich muss David vom Kindergarten abholen, und die Zeit wird knapp. Berufstätige Mütter sind gehetzte Wesen, die um Verständnis winseln. Der Regisseur seufzt und entlässt mich mit einer Handbewegung. Meine ist keine tragende Rolle. Ich werde nicht vergewaltigt, ich muss nur zusehen. Wenn das Stück aufgeführt wird, brauche ich viermal pro Woche abends einen Babysitter. An vier Abenden werde ich Leas Schreie zu Tangoklängen hören und Bennos Geschlechtsorgan sehen, das manchmal tatsächlich erigiert ist. Der Akt wird vorgetäuscht, weil das Publikum nur den breiten Sesselrücken sieht. Doch er holt ihn raus, damit es realistischer wirkt, und ich denke, dass ihn die Vorstellung einer realen Vergewaltigung erregt.

Mein Leben bedarf der Disziplin und Organisation, weil Mutterschaft ein zeitraubendes Phänomen ist und die Schauspielerei der Balanceakt über der Schlangengrube. Die Schlangen sind neurotisch, aggressiv, giftig. Für eine gute Rolle würden sie dich verleumden, verraten, von der Bühne stoßen. Ich weiß es, denn ich war nicht anders, als ich jünger war.

Leon ist in Brüssel. Er fliegt für Max’ Firma, und er verdient viel Geld, das er überwiegend in seine Maschine investiert. Sie ist wie ein Monster, das Geld frisst und sich in höhnischer Unbeugsamkeit weigert, jemals perfekt zu sein. Wer Leon liebt, muss die P 51 in die Alpträume einbeziehen. Wir sind bankrott und sollten seinen Bruder um ein Darlehen bitten. Mein Mann stürzt mit der brennenden Maschine ab und hinterlässt mir den Schmerz und die Asche.

Als ich ihn in der Kirche zum ersten Mal sah und er mein Herz berührte, wusste ich nichts. Alle Ängste sind unerheblich, wenn man in diesem Augenblick lebt. Leon war Max’ Trauzeuge, und er hatte den Ring vergessen. So unterschiedlich, die Brüder, und Max war im Begriff, meine Schwester Beate zu heiraten. Warum beneidet man Frauen, die vor den Traualtar treten? Damals dachte ich, dass sie etwas vollendet hatte, was mir nicht einmal in Anfängen gelang. Ich war das junge, erfolgreiche Talent und schlief mit zu vielen Männern, deren Unvollkommenheit meine nicht zudeckte.

Die Kirche war voller Licht, das sich in den Mosaikfliesen spiegelte, und Leon erschien mir wie der strahlende Held in einem zweitklassigen Kostümfilm. Beates Hochzeitskleid war grauenhaft, und Max erregte sich lautstark über das fehlende Requisit. Leon lächelte unberührt. Er hat nie Schuldgefühle, das Wort fehlt in seinem Charaktertext, aber das wusste ich damals natürlich nicht.

Sie hupen, weil ich zu langsam fahre. Das Theater liegt in einem der schäbigen Viertel der Stadt, weit entfernt von unserer Wohnung und dem Kindergarten. Ich bin eine miserable Autofahrerin. Sagt Leon. Es ist eine so stupide Tätigkeit, und ich schaffe es nie, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Wenn ich es täte, wäre ich so gut wie jeder andere. Man tritt auf drei Pedale und umfasst das Lenkrad. Achtet auf Ampeln und Verkehrsregeln. Worin liegt die Kunst? Als ich eine erfolgreiche Schauspielerin war, wurde ich von Fahrern abgeholt oder benutzte Taxen. Ich fuhr kein Schlachtschiff von Auto, das in keine Parklücke passt und in Tiefgaragen wiederholt Feindberührung mit Betonpfeilern hatte. Ich zeige einem hupenden Überholer den Vogel, und er droht mir mit geballter Faust. Ist das Leben nicht schön? Ein wundervoller Film von Frank Capra über einen Mann, den seine Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft beinahe umbringen. Eine aussterbende Spezies, dieser George Bailey aus Bedford Falls. Leon findet das Happy End kitschig.

In den ersten Monaten unserer Liebe sind wir fast jeden Abend ins Programmkino gegangen. Leon legte den Arm um mich und stahl mein Popcorn. Wir küssten uns, und nach der Vorstellung gingen wir zum Griechen, um fettes Lamm zu essen. Das Leben war schön. Und ich wurde schwanger, und im Anschluss an »Scheidung auf Italienisch« fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle. Habe ich mich jemals gefragt, ob wir unsere Beziehung auch ohne Kind legalisiert hätten?

David quengelt auf dem Rücksitz. Ich deklamiere Lady Macbeth: Groß möchtest du sein, Bist ohne Ehrgeiz nicht; doch fehlt die Bosheit, Die ihn begleiten muss. Was recht du möchtest, Das möchtest du rechtlich; möchtest falsch nicht spielen, Und unrecht doch gewinnen...

Er mag Shakespeare und schläft stets ein, während ich ihn mit wuchtigen Worten zudecke. Wenn ein Parkplatz gefunden ist, werde ich ihn aufwecken und nach oben tragen müssen. Die Wohnung liegt im dritten Stock; Max hat sie uns besorgt, der große Bruder, der uns verführt mit seiner Gabe, Wünsche zu erfüllen. Die Miete ist niedrig, und die Wohnung ist schön und geräumig mit einem Balkon, den David ohne Aufsicht nicht betreten darf. Mein Sohn entdeckt die Welt, und ich habe Angst davor. Ich sei hysterisch, sagt Leon. Wenn etwas Schreckliches geschehen würde, er wäre ohne Schuld. Ich hingegen ziehe sie an mich, Kassandra wirft ihre Schatten, und ich zweifle nie daran, dass die Tragödie jederzeit eintreten könnte. Behandelt jeden Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?

Shakespeare ist out, sagt mein Regisseur. Man müsse das Alphabet von Mord und Schönheit zeitgemäß buchstabieren. Ich bin anderer Meinung, doch sie zählt nicht. Einmal flog ich mit Leon und Max und dessen Direktoren nach London, und in diesen zwei Tagen erlebte ich die höfische Etikette der Macht. Wie sie in Worten und Gesten dienerten, dem Vorstandsvorsitzenden niemals widersprachen, um sein Gehör buhlten und sein Lächeln als Gnade empfanden. Seine Meinung war Gottes Wort. Max merkt gar nicht, wie einsam er ist in diesem Vakuum der Unberührbarkeit. Leon sagt, dass sein Bruder immer schon glaubte, unfehlbar zu sein. Sein stets mit einem Lächeln vorgetragener Spott gegenüber allem, was mit Max zu tun hat, ist mit einem Tropfen Gift getränkt. Ich glaube nicht, dass es Neid ist, vielmehr das demütigende Gefühl, Max für vieles dankbar sein zu müssen. Der Job, die Wohnung, das Auto... wie ich seine Größe hasse, die nicht zu mir und meinen Fahrkünsten passt.

David sieht aus wie ein rothaariger Engel, wenn er schläft, und ich versuche, ihn aus dem Sitz zu heben, ohne ihn aufzuwecken. Mein Sohn, und er ist alles wert, was ich getan und unterlassen habe. Leon versteht als Einziger, dass ich der Karriere nicht nachweine. Sie war ein Abschnitt meines Lebens, und dies ist ein anderer. Ich habe David und Leon, und das ist viel mehr Glück, als man erwarten darf. Nein, falsch: Ich habe sie nicht, vielmehr schenken sie mir ihre Zuneigung, ihre Gegenwart, ihr Vertrauen. Wenn ich anfinge, in Besitztümern zu denken, brächte mich die Angst um, sie zu verlieren. Ich möchte so gerne ohne Furcht sein. Über ein wenig von Leons Leichtigkeit verfügen, diese verdammte Sorglosigkeit gegenüber der Schwerkraft des Lebens.

»Scheiße.« Davids Sprachschatz hat sich im Kindergarten stark erweitert. Er hat die Augen aufgeschlagen, Leons blaue Augen über Davids Sommersprossennase. Mein Sohn ist schwer geworden, und meine Arme schmerzen, während ich ihn die Treppe hochtrage. Er zappelt und wiederholt das Lieblingswort dieses Winters, und wenn ich es ihm verbiete, wird er es umso öfter aussprechen.

Auf der letzten Treppe vor unserer Wohnung sitzt Beate. Meine Schwester in ihren stets teuren Kostümen mit passendem Hut und entsprechenden Schuhen sieht vorwurfsvoll aus. Wir waren nicht verabredet, doch sie erwartet, dass man da ist, wenn sie Gesellschaft braucht. Die zweite in der Familie, die mit der Geburt des Kindes alles Streben nach Karriere aufgegeben hat. Meine Nichte Sophie ist fünfzehn, und Beate bezeichnet sich als eine Vergangenheitsjuristin mit mutterschaftsgelähmtem Intellekt. Man könnte auch sagen, dass sie zur Drohne verkommen ist, wozu Max und sein Kapital sicherlich beigetragen haben.

»Wo warst du so lange?«

»Im Theater. Dann habe ich David vom Kindergarten abgeholt. Und einen Parkplatz gesucht.«

»Dies ist ein grauenhaftes Viertel.«

Alles, was außerhalb Bogenhausens liegt, gilt für Beate als Slum. Ich stelle David auf die Beine und sperre auf. »Möchtest du etwa reinkommen?«

Sie ist immun gegen jegliche Form von Ironie. Ich kenne niemanden, der so wenig Humor hat wie Beate. Sie schreitet durch die Tür, behält ihren Hut auf und überreicht David ein Spielzeugauto. Er schätzt seine Tante, die nie ohne Geschenke kommt, und lässt sich von ihr auf den Mund küssen, obwohl er intime Berührungen verabscheut. Wir lernen früh, uns zu verstellen, um beschenkt zu werden.

Beate hilft David beim Entfernen der Verpackung, und ich hole Bier aus dem Kühlschrank. Die Gefühle gegenüber älteren Schwestern sind nicht ohne Komplikationen. Sie war immer klüger und robuster als ich, und wenn man Erfolg monetär bewertet, ist sie aus dem unausgesprochenen Konkurrenzkampf als Siegerin hervorgegangen.

»Ich habe einen schrecklichen Tag hinter mir.«

Es ist die übliche Einleitung. »Man sieht es nicht. Du erscheinst wie immer makellos.«

»Alles Tand, meine liebe Anne. Sophie hat mir heute Mittag eröffnet, dass sie schwanger ist. Was sagst du dazu?«

David wirft das Auto gegen den Schrank, weil er mit der Fernbedienung nicht zurechtkommt. Ich helfe ihm und überlege, was ich sagen soll. Ein Glückwunsch wäre kaum angebracht. »Und wer ist der Vater?«

Sie trinkt das Bier aus der Flasche. Sie muss sehr verstört sein. »Irgendein Jüngling aus ihrem Reitverein. Johann sowieso. Sie nennt ihn Johnny, was die Sache nicht besser macht. Und natürlich gibt sie mir die Schuld. Ich hätte nicht genug Vertrauen zwischen uns aufgebaut, und ergo brachte sie es nicht über sich, mich zu fragen, ob ich ihr die Pille besorgen könne. Müssen die mit fünfzehn schon vögeln? Und wenn, warum benutzen sie keine Kondome?«

Wir haben nie welche benutzt. Und wir lebten in ständiger Angst, schwanger zu werden. »Weil Kondome unromantisch sind? Der Spontaneität abträglich? Will Sophie das Kind behalten?«

Meine Schwester rülpst und errötet. »Das weiß sie natürlich nicht. Sophie ist ein kleines Mädchen, das nie gelernt hat, die Konsequenzen seiner Handlungen zu tragen.«

»So habt ihr sie erzogen. Was sagt Max?«

David sagt, dass er Scheißhunger und Scheißdurst habe. Beate unterdrückt einen Gegenschlag in Angelegenheiten guter Erziehung und folgt mir in die Küche. »Er weiß es noch nicht. Und ich werde tun, was ich kann, damit er es nie erfährt. Ich habe mich schon erkundigt. Es gibt da eine sehr hübsche Klinik in London.«

Die stilvolle Abtreibung à la Beate. »Will sie das Kind nicht?«

»Hat man mit fünfzehn eine Wahl? Ich werde mit ihr am Wochenende nach London fliegen und vollendete Tatsachen schaffen. Das Ganze ist wirklich absurd.«

Beate spielt Golf und Bridge, arbeitet im Förderverein eines Museums und dekoriert sich und ihr Haus ständig neu. Sie wäre eine absurde Großmutter. Ohnehin eine aussterbende Spezies in ihren Kreisen: Die Großmütter verbringen ihre Zeit mit Schönheitsoperationen, Kultur und Reisen, nicht mit Enkeln. Wie werde ich sein, wenn ich alt bin? Ich wünsche mir noch ein Kind, doch Leon ist dagegen. Wir müssten in eine größere Wohnung ziehen, und er mag es nicht, mit Trivialitäten wie einem Umzug belästigt zu werden.

Seit einem Jahr ertappe ich mich dabei, Leon zu kritisieren. Nicht ihm oder anderen gegenüber, sondern in kleinen, bösen Gedanken. Ich sollte mich schämen, denn ich wusste, wen ich für mein Leben wählte. Einen Flieger, einen Mann ohne Bodenhaftung, einen unbegabten Ehemann und Vater, der ein wunderbarer Mensch und Liebhaber ist. All das wusste ich, und ich habe kein Recht, ihm etwas vorzuwerfen.

»Ich hätte gern noch ein Kind.«

Beate sieht mich an, als hätte ich etwas Obszönes gesagt. »Wie schön für dich. Was sagt Leon dazu? Wo ist er überhaupt?«

»In Brüssel, mit deinem Mann. Sie kommen morgen zurück.«

Meine Schwester lächelt schief. Zum Teil liegt es an ihrer letzten Lippenkorrektur, bei der zwei Mundfalten aus ihrem Leben verschwanden. Andererseits haben die Jahre mit Max ihr Lächeln nicht bereichert. Sie sieht stets ein wenig bitter aus, auch wenn sie diese Interpretation weit von sich weisen würde.

»Ach ja. Ich habe längst die Übersicht über Max’ Abwesenheiten verloren. Seine Sekretärin lässt mir wöchentlich einen Terminplan zukommen, das ist sehr freundlich von ihr. Dein Sohn isst übrigens wie ein Schwein. Du könntest langsam anfangen, ihm Manieren beizubringen.«

David grinst sie an und schmiert sich Marmelade auf die Wange. Ein Clown mit einem Lächeln, das mich wehrlos macht. Was bleibt von mir, wenn all meine Gefühle auf zwei Männer konzentriert sind, einen kleinen und einen großen?

»Du solltest es Max sagen, wenn er zurückkommt. Ich würde diese Entscheidung nicht alleine tragen wollen. Eine Abtreibung ist kein Einkaufswochenende in London. Eher das tragische Gegenteil.«

Beate ist aufgestanden und inspiziert unsere Wohnung. Sie ist unordentlich, und ich ärgere mich darüber, dass es mir peinlich ist. Das Haus meiner Schwester, von Dienstboten lackiert, ist kein geeignetes Vergleichsobjekt. Ich habe der Putzfrau gekündigt, weil ich Geld sparen wollte. Leon weiß nichts davon. Wir brauchen dringend fünftausend Mark, um fällige Rechnungen zu bezahlen. Die letzte Flugzeugreparatur schlug mit zwanzigtausend zu Buche.

»Du solltest deine Putzfrau entlassen. Und komme mir nicht mit der Verantwortung der Väter. Max hat sich nie um Sophie gekümmert, außer an Festtagen oder wenn sie ihm zufällig über den Weg lief. Immerhin hat er sie mit Geschenken überhäuft. Leon tut überhaupt nichts. Oder willst du mir erzählen, dass er ein hingebungsvoller Vater ist?«

Sie war schon immer sehr direkt, und mit zunehmendem Alter ist sie verletzend geworden. Geld verleiht Flügel der Arroganz, und Beate und Max schweben weit über dem finanziellen Durchschnitt. »Ja, ist er. Wenn er da ist. Leon ist ein vollkommener Ehemann.«

Es klingt, als müsse ich ihn verteidigen. Das ärgert mich, und ich verhindere nicht, dass David seine Marmeladenfinger auf Beates fliederfarbenes Kostüm legt, obwohl ich aufgepasst hatte. Sie schreit auf, als sie die Flecken auf ihrem Rock sieht, und David findet das sehr komisch.

»Tut mir Leid. Soll ich versuchen, sie rauszuwaschen?«

Nein, ich soll nicht. Vermutlich wird sie das Kostüm in die Altkleidersammlung geben. Es sieht teurer aus als der Gesamtbestand meines Kleiderschranks. Seit Davids Geburt trage ich überwiegend Jeans, und es macht mir nichts aus, dass ich mir nichts Edles leisten kann. In meinen erfolgreichen Jahren habe ich viel Geld in Mode investiert. Heute fehlt mir das nicht. Zumindest gelingt es mir überwiegend, dies zu glauben.

Sie hat ihre Handtasche auf den Schoß gelegt und David in angemessenen Worten gerügt. Nun bin ich wieder an der Reihe.

»Mein Gott, musst du mir immer dein Familienglück auf dem Plastiktablett servieren? Leon ist ständig unterwegs, er verschwendet euer ganzes Geld, steckt es in diesen Schrotthaufen von Flugzeug, du übernimmst Rollen in obskuren Stücken, nur um was zu verdienen – und vor mir sitzt eine glückliche Frau. Verrate mir das Rezept, und ich zahle jeden Preis für die Medizin.«

Ich habe David auf meinem Schoß und säubere seine Finger. »Wir lieben uns. Ist ganz einfach.«

»Ich verstehe. Und du glaubst, dass Leon dir in Liebe und Treue ergeben ist?«

Ein seltener Anflug von Ironie. Ich beschäftige mich intensiv mit der Reinigung meines Sohnes und frage mich, warum mich die Gespräche mit Beate mehr und mehr ermüden. Wir waren einander einmal sehr nahe, aber als wir erwachsen wurden und unsere Wege sich trennten, ging mein Bedürfnis, ihr alles anzuvertrauen, peu à peu verloren. Sie hält immer noch an der schwesterlichen Intimität fest. Will ich wirklich wissen, welche Stellung Max im Bett bevorzugt? In ihrem und in anderen Betten? Die detaillierten Nacherzählungen der Schlachten ihres Ehekriegs? Die Befindlichkeit ihres Darms? Beate leidet an Verstopfung, und ich weiß, dass sie darüber auch mit ihrem Friseur diskutiert, weil sie mich einmal zu einem Haarschnitt in seinen Salon einlud. Die schwulen Friseure sind die modernen Beichtväter, man kann ihnen alles erzählen und weiß, dass sie kein Geheimnis bewahren. Also erfährt man auch von den Leiden der anderen und freut sich darüber. Manchmal tut sie mir Leid, meine Schwester. Aber ich will nicht von ihrer Bitterkeit infiziert werden. Ich habe keine Ehe- und Verdauungsprobleme. Mir fehlt nur das Geld – und der Mut, sie zu fragen, ob sie uns etwas borgen könnte. Nein, es ist Stolz, der mich daran hindert. Ich kann sie nicht bitten. Das konnte ich nie.

»Dein Sohn ist sauber, und ich warte auf eine Antwort.«

»Scheißhaufen«, sagte David. Sein Vokabular ist steigerungsfähig.

Beate beugt sich zu ihm und tätschelt seine roten Locken. »Ich schätze gepflegte Konversation, mein Kleiner, aber deine Mutter hat sich in eine Festung des Glücks zurückgezogen, die mich vor Furcht erschauern lässt. Beim ersten kleinen Angriff wird sie kapitulieren.«

David zieht seinen Kopf zurück und tippt mit seinem Zeigefinger auf die Schläfe. Die Gespräche von Erwachsenen findet er überwiegend idiotisch.

»Na gut, du willst nicht antworten. Ich muss ohnehin zu einer Museumssitzung – und vorher nach Hause, um mich umzuziehen.«

»Es tut mir Leid, Beate.«

Sie steht auf und zieht mich an sich. »Macht doch nichts. Er ist ein umwerfender Clown, dein Sohn. Hat den Charme seines Vaters geerbt. Gott erhalte dir, was du Glück nennst.«

Mit diesen sibyllinischen Worten verlässt sie uns. Ihr Parfüm bleibt zurück, es duftet schön in meiner Wohnung. David wendet sich wieder dem Spielzeugauto zu, und ich gehe zum Küchenfenster, um ihr nachzusehen. Sie hat einen Gang wie ein junges Mädchen, und aus der Perspektive des tief fliegenden Vogels ist sie eine attraktive Erscheinung, die sehr graziös in einen violetten Sportwagen steigt. Man könnte sie beneiden aus dieser Höhe. Sie sieht hoch und winkt, bevor sie losfährt. Sie ist meine Schwester, und ich liebe sie nicht genug, um ihren Zorn zu teilen. Max hat viele, viele andere Frauen, die ihm ebenso wenig bedeuten wie Beate. Seine Liebe liegt woanders, und auf diesem fernen Planeten wird sie ihn nie erreichen. Sie erkennt es seit langem. Sie hat ihm hundertmal gedroht, ihn zu verlassen. Und sie weiß, dass sie es nicht tun wird. Und er weiß es. In dieser Ehe zelebrieren sie den wohl temperierten Hass mit unerbittlichen Dialogen. Es ist ihre Tragödie, denn sie liebt, und sie hasst, und Max lässt alle Gefühle an sich abgleiten, als trüge er eine gegen Emotionen imprägnierte Regenhaut.

Die Informationen kommen von Beate. Leon spricht nie über die Flüge und die Begleiterinnen des Vorstandsvorsitzenden. Es kränkt mich, dass er mir in diesem Punkt nicht vertraut. Was sollte ich Beate erzählen, was sie nicht schon weiß? Vor vielen Jahren gelang es ihr, Max’ Sekretär zu bestechen. Sie sagte, dies sei billiger, als einen Privatdetektiv zu beauftragen. Zwei Jahre lang sammelte Beate Detailwissen um die Affären ihres Mannes, bis sie in einem ehegewaltigen Streit ihre Kenntnisse und damit ihre Quelle preisgab. Der Sekretär wurde durch eine Sekretärin ersetzt, die Max anbetet und Beate verabscheut. Die Loyalität von Frauen ist bisweilen unergründlich. Was bezweckte Beate mit ihrer Anspielung auf Liebe und Treue?

Halte dich fern von offenen Fenstern und bösen Gedanken. Ich bin eine glückliche Frau und habe keinen Grund, an Leon zu zweifeln. Offene Fenster... o mein Gott, die Balkontür...

Noch während ich das Undenkbare in meine Gedanken lasse, laufe ich aus der Küche ins Wohnzimmer. Ich hatte die Balkontür geöffnet, bevor meine Schwester ging. David. Ich schreie seinen Namen, als ob ich die Katastrophe mit der Kraft meiner Stimme abwenden könne. David. Er ist auf die Balkonbrüstung geklettert und beugt sich mit dem halben Oberkörper über das Gitter. Ich sehe seinen schmalen Rücken, und ich flüstere seinen Namen, ich darf ihn doch nicht erschrecken. Wenn ich schreie, bewegt er sich und fällt. Er sieht nach unten, die kleinen Füße baumeln über dem Boden. Ich sterbe seinen und meinen Tod viele Male, während ich mich auf Zehenspitzen nähere. Meine Schuld. Ich habe ihm die Tür zum Paradies der Gefahren geöffnet, und er kann nicht widerstehen. Er ist wie Leon. Das Leben muss ein Abenteuer sein, sonst ist es nichts wert. David, bitte bewege dich nicht. Bleib ganz ruhig. Ich bin bei dir. Ich beschütze dich. Ich fasse deine Beine und halte dich fest. Fest.

Er schreit auf, als ich ihn an den Knöcheln packe. Ich tue ihm weh, als ich ihn zu Boden zerre. Ich schreie ihn an, und er beginnt zu weinen.

So wie ich schrie, als Leon im Krankenhaus lag nach seinem Flugzeugabsturz. Leon hat über meine Hysterie gelacht. David weint. Sein Auto ist unten auf der Straße, Beates Geschenk, von dem er meinte, dass es fliegen könne. Er will sein Auto wiederhaben, und er schlägt nach mir, da ich ihn noch immer festhalte.

Die Nachbarn sind auf ihren Balkon gelaufen. Vermutlich glauben sie, dass ich mein Kind misshandle, so wie David brüllt. Der Schein spricht gegen mich. Ich hebe ihn hoch und trage ihn ins Zimmer, schließe die Tür. Vielleicht zeigen sie mich an. Das Leben ist seltsam, weil es übergangslos von Katastrophen zu Missverständnissen und Lächerlichkeiten wechselt. Ich verspreche David, sein Auto zu holen. Sein Vater wird es reparieren. Leon kann fast alles, wenn er die Laune dazu hat. In der Rangordnung meines Sohnes ist Leon der Zauberer, und ich bin die gute oder böse Hexe, je nachdem. Es ist nicht so, dass man sich seine Rollen ein Leben lang aussuchen kann. Irgendwann ist man festgelegt und kann sich den vorgefertigten Texten kaum noch entziehen. Ich kenne meinen Text, wenn Leon anruft, und das tut er jeden Abend, wenn er unterwegs ist. Er wird fragen, wie es uns geht, und ich werde sagen »Bestens«. Nein, es gibt nichts Neues, werde ich sagen, und dass ich ihn vermisse und mich auf seine Rückkehr freue. Wie ist das Wetter in Brüssel oder wo auch immer? Es ist immer irgendwie, und am Ende jedes Gesprächs versichern wir einander, dass wir uns lieben. Die Beschwörungsformel, derer wir nicht überdrüssig werden. Und dann lege ich auf und fühle mich für ein paar Minuten leer wie ein Gefäß ohne Boden. Ich fülle diese Leere mit Ritualen. Ich füttere David, wasche ihn und bringe ihn zu Bett. Ich lese ihm etwas vor, erzähle eine Geschichte oder deklamiere einen Shakespeare-Text, der ihn stets zum Lachen bringt und dann einschläfert.

Ich stelle mir vor, dass Leon jetzt zu Abend isst in einem Restaurant oder einer seiner Jazzkneipen. Ich vermisse ihn schmerzlich. So als ob ich nur in Davids und seiner Gegenwart wirklich lebe. Nur wenn beide um mich sind, fühle ich mich ganz und gar sicher.

Im Fernsehen läuft Killing Fields. Der Film bringt mich zum Weinen. Filme kann man abschalten. Im Kino kann man rausgehen. Nicht im Leben. Es zwingt zur fortlaufenden Handlung mit beschränktem Improvisationsradius. Ich bin eine glückliche Frau. Dem Zufall ausgeliefert. David hätte sterben können.

Hurenkind

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