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3. Kapitel

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LEON

Die Kapitalisten beklagen das System und bemühen Gandhi. »Die Erde hat genug für jedermann, aber nicht für jedermanns Gier.« Scheint sie aber doch zu haben, denn Max’ Gast hat fünfhundert Millionen Mark an die Familienbanden des Präsidenten eines osteuropäischen Landes überwiesen. Schmiergeld für einen Milliardenauftrag zum Bau einer Autobahn. Die Bestechungssumme wurde in die Kalkulation eingebaut, insofern ist Geschäft immer noch Geschäft. Doch man erlaubt sich Kritik an den Auswüchsen der ganz normalen Gier.

Max’ Begleiter baut Autobahnen, und mein Bruder baut Autos. Ich bin nur der Firmenpilot, der geduldete Dritte im Bunde beim Abendessen in einem dieser Brüsseler Restaurants, in dem die eurokratischen Spesenraubritter verkehren. Max lädt mich oft ein, vielleicht, weil er weiß, wie sehr es mich langweilt. Was würde ich mit fünfhundert Millionen anfangen? Mir die Twin Mustang P 82 kaufen und vielleicht noch die neue Gulfstream IV-SP, die jeden Learjet in die Tasche steckt. Ein nettes Haus für Anne und David, und natürlich würde ich meinen Job kündigen und eine eigene Firma gründen. Nie mehr der Pilot des großen Bruders sein oder der Pausenclown beim Abendessen. Nicht derjenige, der die Weiber besorgt, wenn Max und seine Freunde sich einsam fühlen und ihre Potenz in Triviales tauchen wollen.

Unsere Seelen leben vom Verrat. Ich habe Max oft verraten, und doch vertraut er mir und spricht mit seinen Freunden und Geschäftspartnern, als wäre ich taubstumm. Was in gewisser Weise zutrifft, denn die finanziellen Machtverhältnisse sprechen für meine Loyalität. Ich möchte aus meinem Leben flüchten in ein anderes, in dem sich alle Zwänge in Luft auflösen. Stattdessen sitze ich hier und trinke teures Wasser. Ich höre ihnen zu. Antworte, wenn ich gefragt werde. Fliegen ist schön. Ihr habt keine Ahnung, weil ihr Sklaven seid, Gefangene eurer Zeit, die auf Geld und Macht beschränkt ist. Manchmal habe ich das Gefühl, auf dem falschen Planeten zu sein. Der kleine Prinz vom Asteroiden B 612, der etwas sucht, das sich ihm entzieht. Manchmal glaube ich für eine Weile, es in Frauen zu finden, aber dann werden ihre Augen blind, und ich sehe nichts mehr darin. Man muss mit dem Herzen suchen, ich weiß. Aber dann ist es so, dass ich nichts mehr spüre und die Orientierung verliere.

Unsere Mutter nannte mich ihren »kleinen Prinzen«, weil ich das Buch unter meinem Kopfkissen aufbewahrte und weil ich ein Träumer war im Gegensatz zu meinem Bruder, für den die Herausforderung schon immer darin bestand, besser zu sein als die anderen. Mutter behauptete, dass er mit dem perfekten Babylächeln zur Welt gekommen sei. Ich hingegen soll gebrüllt haben, als sie mich holten. Und wenn ich in einem perfekt war, dann darin, ihr den Schlaf zu rauben und sie in ein müdes, verstörtes Wesen zu verwandeln, das jedem erzählte, dass ein Kind nicht wie das andere sei. Solche Geschichten erzählte sie über uns. Sie hielt all ihre Mutterworte für erhabene Weisheiten. Und sie liebte mich mehr als Max, obwohl er sich von Geburt an um ihre Liebe bemüht hatte. Lektion eins: Dieses Gefühl ist vollkommen irrational, und es gibt keine Garantie auf Erwiderung.

Mein Bruder und ich verstanden einander nicht sonderlich gut, was vermutlich normal ist, wenn mehr als ein Jahrzehnt zwischen den Gedanken und Wünschen liegt. Er tolerierte mich und ließ mich in Ruhe träumen, wofür ich ihm gelegentlich dankbar war. Wenn er mich den »kleinen Prinzen« nannte, klang es immer sehr spöttisch. Max hielt Saint-Exupéry für einen phantastischen Langweiler, und Bücher interessierten ihn nur dann, wenn er daraus praktisches und verwertbares Wissen ziehen konnte. Man könnte es auch so sagen: Er gehörte zu den Hüten und ich zu den Elefanten, die von Schlangen gefressen wurden.

Wir legten es nicht darauf an, die Gegensätze auszuleben. Es ergab sich so, und jeder verachtete den anderen insgeheim dafür, anders zu sein. Max als der Ältere war natürlich in der besseren Position. Ich wollte erwachsen werden und fliegen. Er war erwachsen und ungeheuer dem Boden der Tatsachen verhaftet. Wer behauptet, dass Gegensätze sich anziehen? Ich denke, dass uns heute noch ein gewisses Maß an wechselseitiger Verachtung verbindet, die wir mit familiärer Loyalität umkleiden.

Die beiden sprechen von der persönlichen Haftung von Vorstandsmitgliedern in Geschäften, die zwangsläufig etwas außerhalb von Gesetzen liegen. Ich bin nicht vorhanden. Ich beobachte Max, der nervös mit seinem Handy spielt, dessen Nutzung im Restaurant verboten ist. Eine Art von Amputation, die den überwiegend männlichen Gästen Schmerzen zu bereiten scheint. Mein Bruder hat Hände wie unser Vater, lang und schmal mit einer kaum sichtbaren Verkrüppelung am linken Daumen. Mein Vater, der Erfinder, liebte uns beide auf eine so distanzierte Weise, dass wir manchmal vergaßen, dass er da war. Tatsächlich war er die überwiegende Zeit psychisch wie physisch abwesend. Er tauchte zum Frühstück und Abendessen auf oder zu Familienfeiern, und stets vermittelte er den Eindruck, dass wir ihm seine kostbare Zeit stahlen.

Mutter ermahnte uns, ihn in seiner Werkstatt nicht zu belästigen. Vater arbeitete an der Entwicklung eines integrierten Schaltkreises, der Transistoren ersetzen sollte, indem eine bestimmte Anzahl auf einem Siliciumsubstrat vereinigt wurden. Er war verrückt nach Computern, so wie ich später den Flugzeugen verfiel. Ich glaube, dass nur die Verrückten zu zweifelsfreier Eigenliebe fähig sind. Leider gehörte er zu den glücklosen Erfindern, und drei Jahre nach seinem Tod kamen die ersten Mikroprozessoren auf den Markt.

Es war ein schönes Begräbnis, und Vaters Leiche lag in einem von ihm entwickelten, per Fernbedienung gesteuerten Sarg auf Rädern. Max fand die Sache peinlich, aber er hielt eine ergreifende Rede am Grab, darin war er immer schon gut. Seine rhetorischen Fähigkeiten trainierte er vor dem Spiegel und mit Hilfe eines Tonbandgeräts. Eine Zeit lang beneidete ich meinen Bruder um die Fähigkeit, andere kraft seiner Worte zu überzeugen oder zu erschüttern, je nach Anlass. Er brachte meine Mitschüler davon ab, mich zu verprügeln, nachdem ich die Strategiepläne unserer Gang an die feindliche Bande verraten hatte. Weiß ich noch, warum ich es tat? Es war nur eine der vielen Katastrophen einer Kindheit, deren Ursachen man als Erwachsener vergisst. Der Verrat nimmt andere Züge an mit den Jahren. Geblieben ist die Erinnerung an falsche Scham und den Triumph, damit davongekommen zu sein. Ich war nie ein Held für andere, und wenn dieses Wort eine Bedeutung hat, dann nur für mich selbst.

Max bezahlt die Rechnung mit einer seiner goldenen Kreditkarten, und die beiden Männer beschließen, noch eine Bar aufzusuchen. Dafür brauchen sie mich nicht, ich bin nur der Pilot, also verabschieden sie mich mit dem Augenzwinkern der alten Männer, für die Sex eine Art Dessert ist, süß und unbedeutend. Max erinnert mich daran, dass ich zwei Stunden vor ihm am Flughafen sein muss. Eine seiner kleinen, unnötigen Demütigungen, die mich wissen lassen, dass alle Rechnungen von ihm bezahlt werden.

Ich gehe durch die Straßen von Brüssel, unentschlossen, ob ich den direkten Weg ins Hotel nehmen soll. Ich mag es, nachts durch Städte zu laufen und über die Frage der Einkehr nachzudenken. Den hässlichen Charme von Trinkerheilanstalten, die nach Rauch und altem Frittierfett riechen. Ihre Lichter sind es, die Einsame anziehen, und manchmal dringt Musik aus den hellen Fenstern, und man sieht sie stehen und sitzen und auf dich warten. Sie heben ihr Glas oder ziehen an ihrer Zigarette. Sie reden, lachen, schweigen, und sie sehen zur Tür, die allen offen steht. Sie könnten dein Schicksal sein oder nur eine Sekunde deines Lebens. Darüber denke ich nach, wenn ich am Fenster stehe und hineinsehe. Die meisten Städte dieser Welt sind tagsüber graue Monster, die Menschen und Autos ausspucken und wieder einsaugen. Erst wenn die Nacht kommt, erwachen sie zu ihrer wahren Bestimmung, den Einsamen, Gierigen, Schlaflosen Zuflucht zu geben.

Anne hat den Reiz meiner ziellosen Nachtausflüge nie verstanden. Kino, Essen und Sex in ihrem oder meinem Bett, das war der Ablauf unserer gemeinsamen Abende, und für eine Weile empfand ich diese Dramaturgie als angenehme Abwechslung. Aber irgendwann verkam sie zu einem Ritual, das mich langweilte. Nicht Anne, nur die Gewohnheiten unserer Liebe. Ich werde nie aufhören, Anne zu lieben, doch meine Seele lebt vom Verrat. Von Frauen, die mich ansehen und mit den Augen versprechen, was sie nicht halten können. Wie diese hier: Sie sitzt an der Theke und hat die Beine übereinander geschlagen. Lange braune Haare, die beinahe bis zu den Hüften fallen. Als ob sie meine Blicke durch das Fenster spürte, bewegt sie ihren Kopf und schüttelt sie, und ich entscheide mich für die Versuchung und gehe hinein.

Es riecht nach altem Öl, und es klingt nach Jacques Brei. Das Licht ist grell und beleuchtet die Gäste, die um die kleine Theke stehen oder auf Holzstühlen sitzen, die Gläser und Aschenbecher vor sich auf runden Steintischen. Der Patron thront an einer Kasse hinter dem Tresen, und er taxiert mich nach Umsatz oder Ärger, bevor er seine Mundwinkel zu einer Art Willkommensgruß verzieht. Ich stelle mich neben die Frau und widerstehe dem Impuls, über ihre Haare zu streichen. Ich bestelle ein Bier, und er lässt sich Zeit, denn er ist einer, der die Tugenden von Fremden testet, ihre Widerstandskraft gegen schleppend getätigte Dienstleistung, und ich enttäusche ihn mit einem Lächeln.

Die Frau an meiner Seite hat grüne Augen von großer Schönheit, doch eine von Aknenarben entstellte linke Wange. Ich sehe nur ihr Profil, eine Seite ist nie wie die andere, doch ich glaube, dass auch die rechte nicht unversehrt ist. Sie lässt die Haare nach vorne fallen, und ich lese ihre Gedanken, den Wunsch nach Vollkommenheit und schrankenloser Bewunderung, und ich möchte ihr sagen, dass Perfektion ein Makel ist, doch dann sehe ich den Mann, der am anderen Ende der Bar steht und in sein Glas stiert. Ich kann nur die Brille und den Haaransatz erkennen, denn er beugt sich zu tief nach unten.

Für einen Augenblick hasse ich die vollkommen unschuldige Frau, derentwegen ich dieses Lokal betreten habe. Und denke, dass ich mich irre, dass dieser Mann nur eine große Ähnlichkeit mit Wolf hat. So etwas gibt es, und ich sehe ja nur einen Teil seines Gesichts. Ich sollte einen Schein auf den Tisch legen, mich umdrehen und durch die Tür gehen. Stattdessen starre ich ihn an, als ob ich ihn zwingen wollte hochzusehen. Der Augenblick des Erkennens, des zeit- und raumlosen Hasses, und was werde ich tun, und was wird er tun?

Die Frau spielt mit einer Haarsträhne; sie wartet darauf, dass ich sie anspreche, ihr einen Drink anbiete, das Spiel beginne, dem ich so selten widerstehen kann. Doch der Schock ist zu groß, sie interessiert mich nicht mehr, ich sehe nur noch auf den Mann, der Wolf sein könnte. Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden, und ich drehe mich um, was sehr viel Kraft kostet. Sie wird glauben, dass mich ihre Haut abstößt, und es tut mir Leid. Aber ich bin nicht fähig, etwas Liebenswürdiges zu sagen, etwas, das ihre Nacht rettet und sie glauben lässt, dass sie trotz allem eine begehrenswerte Frau ist. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich in dieser Nacht impotent bin? Wie ließe sich meine und Wolfs Geschichte erzählen, von der nicht einmal Anne weiß; allein Max, der große Bruder, der alles gerichtet hat, kennt sie, und auch dieses Wissen wird ewig zwischen uns stehen.

Was würde er tun, wenn er mich erkennt? Was tue ich? Ich könnte zu ihm gehen und ihn begrüßen. Ein kleines Gespräch führen, ihn zu einem Bier einladen, die Vergangenheit mit einem Lächeln begraben. Ihm mein Glas ins Gesicht schütten, ihn schlagen, töten, beleidigen, demütigen, ihn vor all diesen Leuten lächerlich machen. Alles, was auch er tun könnte, mein Freund, mein Feind, der einzige Mensch, der es geschafft hat, mich über Jahre hinweg in Träumen zu begleiten.

Es erbittert mich, dass er lebt, denn in all den Jahren dachte ich an ihn wie an einen Toten. Ich wollte ihn begraben, deshalb war er tot. Und wenn es gar nicht Wolf ist? Ich drehe mich um und stoße an den Ellbogen meiner Nachbarin. Entschuldige mich in Französisch, und sie antwortet in englischer Sprache. Brüssel ist eine Stadt, in der in vielen Sprachen nichts gesagt wird.

»Finden Sie mich hässlich?« Sie flüstert diesen Satz und sieht mich an mit diesen grünen Augen.

Wolf hat sich aufgerichtet, er trägt einen Bart, doch ich erkenne ihn, wie könnte ich dieses Gesicht vergessen, und aus der Distanz glaube ich, die Narben um seinen Mund zu sehen, denn sein Bart ist blond, er ist ein blonder Wolf, und die Augen sind blau und von einer Brille verdeckt.

»Wie bitte? Nein, natürlich nicht. Sie sind sehr hübsch.«

Ich habe vergessen, Anne anzurufen. Mein Handy ist ausgeschaltet, und ich weiß, dass es sie beunruhigt, wenn ich mich nicht melde und nicht zu erreichen bin. Sie ist ein Gewohnheitstier, meine Frau, die ich liebe, wenn ich bei ihr bin.

»Sie lügen.« Die Frau zieht ihr Haar aus dem Gesicht und sieht mich herausfordernd und ein wenig betrunken an.

Ich muss Anne anrufen. Und aus diesem Lokal verschwinden. Vergessen, dass es Wolf gibt, denn immer noch ist es möglich, dass ich mich irre, einfach eine Ähnlichkeit besteht, und wenn es anders wäre, müsste er mich doch erkennen, irgendwie reagieren, mich zumindest anstarren...

»Ich will die Wahrheit hören.«

Sie hält mich am Arm fest. Kräftige, lange Finger, und sie trägt keinen Ring. Welche Wahrheit will sie hören? Ihre, meine, eine, die man objektiv nennt? Man sieht immer nur einen Teil der Wahrheit, weil man nicht in alle Richtungen gleichzeitig sehen kann.

Fast alle sehen auf uns, nur Wolfs Phantom blickt ins Leere, in ein Glas, das leer ist. Taub, stumm, blind. Wenn es Wolf ist, wünsche ich ihm all dies.

»Belästigt Sie der Mann?«

Patrons haben die Neigung, sich einzumischen, wenn es gegen einzelne Fremde geht und die Ehre der Frau auf dem Spiel steht.

»Ja. Durch Missachtung.« Sie lässt meinen Arm los und wendet sich von mir ab. Ihre Frage wird nie eine wahrhaftige Antwort finden, und sie wird sich eines Tages umbringen, weil niemand ihr sagt, dass sie hässlich oder schön ist. Ich lege einen zu hohen Geldschein auf die Theke und verlasse das Lokal. Ich drehe mich nicht mehr um, und ich sehe nicht durch das Fenster. Ich habe mich geirrt und eine Frau verletzt. Das Gefühl, auf einem Planeten zu leben, dessen Affenbrotbäume zu viele Sprösslinge haben, um sie auszureißen, stellt sich gelegentlich ein. Ich setze mich auf eine Treppenstufe und wähle Annes Nummer. Ihre Stimme klingt verschlafen und vertraut, und ich sage ihr, dass alles in Ordnung sei und wie immer, und sie sagt mir, dass die Proben schrecklich waren und David wie ein Engel schlafe. Das sagt sie oft, und vielleicht mag ich das an ihr, die vertrauten Wiederholungen und unsere stillschweigende Übereinkunft, einander nie Wahrheiten zu sagen, die verletzen könnten. »Gute Nacht, Anne. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Sie legt vor mir auf. Das tut sie immer. Ich stehe auf und beginne zu laufen. Ich laufe durch die Nacht und versuche, das Heulen eines Wolfs zu vergessen.

Hurenkind

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