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4. Kapitel

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MARIE

Wir leben in einem Sozialstaat. Hier sterben nur wenige auf der Straße. Meine Mutter lebt in einem Haus für gebrechliche Greise in schlechten finanziellen Verhältnissen. Die Schwestern dort dienen Gottes erbärmlichen Kreaturen, und sie tun es mit dem Pflichtbewusstsein der Gerechten. Es wird viel gebetet, und Alkohol ist verboten. Mutter wird ans Bett gefesselt, wenn sie einen ihrer Anfälle bekommt und nach dem Stoff schreit, der ihren Körper und ihre Gehirnzellen zerstört. Fünfzig Kilo wiegt sie noch, sie hat ihre Haare verloren, und ihr Gebiss fällt manchmal heraus, weil es keinen Halt mehr findet. Ich finde den Anblick ekelhaft, doch zum Trinken braucht man keine Zähne, und die Kahlköpfigkeit erspart den Pflegerinnen das Kämmen. An Händen und Füßen, wo ihr die Fesseln angelegt werden, ist die Haut wundgescheuert.

Sie haben keine Wahl, sagen die Schwestern, und dass die arme Frau mit Gottes Hilfe ihre Leiden überwinden werde. Über dem Eisenbett hängt ein Kruzifix, doch er scheint abwesend. Sie schreit schrecklich, meine Mutter, holt aus ihren Lungen Höchstleistungslaute hervor, und wenn sie die Spitzentöne nicht mehr schafft, verfällt sie in monotones Greinen. Sie ist nicht die Einzige, deren Klagelaute dieses Haus in einen Vorhof zur Hölle verwandeln. Durch die geschlossenen Türen hört man die Ohnmacht der Alten, ihre Schmerzen und die sterbende Gier nach Leben.

Einmal im Monat komme ich in dieses Haus, mit einer Flasche Wodka in der Handtasche, um meine Mutter zu besuchen. Mehr kann ich nicht mitbringen, denn sie könnte nichts verstecken. In ihrem Dasein gibt es kein Geheimnis mehr, nur das Delirium des Ausgeliefertseins.

Wodka ist geruchloses Gift. Ich flöße ihr die Flüssigkeit ein, langsam, denn das Schlucken fällt ihr schwer. Sie schreit dann nicht mehr. Die Schwestern denken, dass es meine Gegenwart ist, die Mutter beruhigt. Sie sagen, ich solle öfter kommen, doch die Reise in das andere Land ist quälend, und ich warte darauf, dass sie stirbt.

Jeder in diesem Haus stirbt für sich allein, und dem Sterben geht die Furcht voraus und das Versagen aller Funktionen, die für den Rest von Würde stehen. Manche beten, andere murmeln stumpf vor sich hin oder schreien wie meine Mutter. Sie sitzen in Rollstühlen oder liegen in ihren Betten auf Gummimatratzen. Sie werden gewickelt, gefüttert, verbunden, mit Medikamenten versorgt. Diese Babys sind zu alt und zu hässlich, um geliebt zu werden.

Ich weiß nicht, was meine Mutter noch fühlt außer der Gier nach Alkohol. Ihr Gesicht ist ein Gemälde, das mit den letzten Pinselstrichen zerfällt. Ein Gesicht, das die Welt bereits verlassen hat und eine Distanz schafft, die sie auf andere Weise nicht erreichen könnte.

Sie reagiert noch, wenn ich ihr den Wodka gebe, das alte Flaschenkind. Als ich klein war, habe ich sie vielleicht geliebt, ich kann mich nicht erinnern. Als ich größer wurde, hasste ich sie. Als ich mit achtzehn das Haus in der Gerberstraße verließ, schwor ich, sie niemals wieder zu sehen. Bis das Sozialamt anrief und mir mitteilte, dass ich einen Teil der Kosten für ihre Unterbringung zu zahlen hätte. In unserem Land herrscht die Ordnung der Zahlen. Man entkommt ihr nicht, so wenig wie ich meiner Vergangenheit.

Heute kann ich es dir sagen: Manchmal spielte ich mit Streichhölzern, wenn du betrunken im Bett lagst und schliefst. Und ich stellte mir vor, dass dieses Bett ein Scheiterhaufen wäre. Weißt du noch, wie du zu Heidis Begräbnis eine Grabrede lalltest und anschließend auf den Sarg gekotzt hast? Heidi hatte sich im Krankenhaus umgebracht, nachdem sie ihr von den Fausthieben entstelltes Gesicht im Spiegel gesehen hatte. Erinnerst du dich an den Tod des Freiers, den deine Peitschenhiebe so erregten, dass er an Herzversagen starb und nur noch schlaff in seinen Handfessein hing, die an der Folterwand befestigt waren? Oder an meine Abiturfeier, bei der ich vor Scham fast gestorben bin, weil du es dir nicht nehmen ließest, zu kommen und dich zu betrinken. All die mitleidigen, hämischen Blicke, die mich einschlossen in deine schäbige Welt des Versagens. Liebe und Verachtung schließen einander aus, auch das hast du nie verstanden.

Ich habe mich so lange geschämt, dass dieses Gefühl gänzlich aufgebraucht ist. Mit dreizehn wollte ich mich umbringen. Mit vierzehn wurde ich entjungfert. Mit sechzehn hatte ich eine Abtreibung hinter mir. Und dann, als mir klar wurde, dass die Gerberstrasse keine Sackgasse war, habe ich begonnen zu kämpfen und zu lernen. Mit freundlicher Unterstützung der Schule, weil die sozial Engagierten eine wie mich allzu gern auf den rechten Weg der Bildung führten. Und sie gaben mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein: besonders zäh, erstaunlich begabt und sehr fleißig, ein leuchtendes Beispiel für die Klasse – oder ein Straßenköter, den man getrimmt und dressiert hatte. Die Scham wandelte sich in Dankbarkeit und Demut.

Also habe ich das Abitur mit Auszeichnung geschafft und die Aufnahmeprüfung für die Journalistenschule bestanden. Wer einmal begriffen hat, wie Erfolg funktioniert, vergisst es nie mehr. In ein paar Jahren bin ich Chefredakteurin. Schamlos alles aus dem Weg räumend, was meinen Aufstieg behindern könnte. Dieses Feuer ist viel stärker als das, was die Frauen in der Gerberstraße ihr »Los« nannten, weil Schicksal eine zu abstrakte Größe schien. Ein Wort, zu groß für das Kleine, denn das war es vor allem anderen: klein. Nicht schlecht, nicht böse, nur ein Leben reduziert auf winzige Gedanken und fremdbestimmte Handlungen.

Meine Gespenster, sie fliegen tief manchmal, und ich spucke sie an. Mein Mund wird trocken, und ich möchte ihr Gift trinken und nachgeben. Wodka ist ein Weichmacher, der die Härte in unproduktives Selbstmitleid verwandelt. Also trinke ich nur Wein, guten Wein, und nie so viel, dass ich die Kontrolle verlieren könnte.

Sie lallt etwas, und ich beuge mich zu ihrem Mund mit dem klappernden Gebiss, um zu verstehen. »Feuer.« Das ist kein Name, sondern eine der wenigen schönen Erinnerungen an meine Jugend. Kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag brannte das Haus in der Gerberstrasse. Es brannte wunderschön, und übrig blieb nichts außer Schutt und Asche. Angekokelte Penisse aus Kunststoff. Eisenketten. Der Emaillepott aus dem Krankenzimmer. Wir standen vor dem brennenden Haus, und die Mädchen in ihrer Arbeitskleidung wurden von Feuerwehrmännern begafft, die Schläuche hielten. Es war sehr heiß, insofern waren sie passend bekleidet. Sie heulten vor Entsetzen, und ich weinte Freudentränen. Niemand bemerkte den Unterschied, und das war gut so.

Mutter hatte noch Zeit gefunden, eine Kittelschürze über ihren Lederanzug zu werfen, und sie hatte die Holzschatulle mit dem Geld gerettet. Sie stand da und seufzte wiederholt »o mein Gott«. Ich wärmte meine Fingerspitzen, und sie schickte mich in die nächste Kneipe, um eine Flasche Wodka zu holen. Besondere Ereignisse erforderten den üblichen Trost.

Irina hatte ihren Kokainvorrat im Haus gelassen und zitterte in der Hitze des Feuers. Mutter beklagte den Verlust der Kuckucksuhr, an der sie sehr gehangen hatte. Natürlich war das Etablissement nicht versichert. Das Gewerbe scheute die bürgerliche Bürokratie. Wenn so viel Lust in Flammen aufgeht, gibt es keine Entschädigung.

Niemand war verletzt worden, obwohl auch dies mich nicht gestört hätte. Die beiden Freier hatten das Freudenhaus als erste verlassen, halb nackt und sehr in Eile. Sie standen für Befragungen über den Hergang des Feuers nicht zur Verfügung. Die Feuerwehrleute durchkämmten die Asche, grinsten und rissen Witze beim Anblick noch identifizierbarer Gegenstände. Einen von ihnen erkannte ich trotz des rußgeschwärzten Gesichts als Irinas Kunden. Er ließ sich einmal im Monat die Schamhaare ankokeln zum Zwecke des Lustgewinns – eine berufsbedingte Perversion, wie Irina es nannte. Er wollte sie nicht erkennen, warum auch? Sie war ja bloß eine Hure, die heulend vor einem abgebrannten Haus stand.

Der Lokalreporter befragte meine Mutter, die behauptete, dass Gott das Feuer über Sodom und Gomorrha geschickt habe. Sie lag ein bisschen daneben, wie immer. Es war, so stellten die Experten später fest, keine vorsätzliche Brandstiftung. Mona, die Neue, hatte im Bett geraucht, nachdem sie sich die Nadel gegeben hatte. Die Sperrholzmöbel brannten in Sekundenschnelle. Mona rannte um ihr Leben, das ohnehin nicht viel wert war angesichts ihres Rauschgiftkonsums. Sie dachte nicht daran, »Feuer!« zu rufen, und als die anderen es merkten, war es zu spät. Mutter versuchte noch, den Feuerlöscher zu betätigen, doch er funktionierte nicht. Ein Utensil, das in diesem Haus noch keinem lustbetonten Zweck zugeführt worden war. Niemand wusste damit umzugehen, und dann liefen alle. Ich sah sie aus dem brennenden und rauchenden Haus flüchten, und dieser Anblick erwärmte mein kaltes Herz.

Ein brennendes Freudenhaus war ein Ereignis, das sich die Nachbarschaft, überwiegend Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, nicht entgehen ließ. Bald war die Straße gesäumt von Gaffern, und eine gütige Seele brachte Decken für die Mädchen, um sie vor den Blicken der Neugierigen zu schützen. Die meisten allerdings reagierten schadenfroh bis hämisch, vor allem die Frauen. Denn in der Hackordnung der Verlierer gab es keine Solidarität mit den käuflichen Schwestern. So lange man nach unten spucken konnte, blieb ein Rest von Selbstachtung erhalten.

Mona, vom Heroin berauscht, war sich keiner Schuld bewusst. Mutter wollte mit den Fäusten auf sie losgehen, wir anderen hielten sie zurück, und zur Freude der Umstehenden gab es ein großes Gekreische. Pack schlägt sich. Alles, was die Gerberstraße an Moral und Schadenfreude aufzubieten hatte, wurde im Anblick des großen Feuers befriedigt. »Gott weiß, was er tut«, sagte Frau Paschulke vom Nebenhaus und bekreuzigte sich.

Ich war ganz und gar nicht ihrer Meinung, doch ich teilte ihre Freude über das Geschehene. Als ich da stand und in die glühende Asche sah, wünschte ich mir für einen Augenblick, dass alle mitverbrannt wären. Ich war siebzehn und hätte es vorgezogen, eine Waise zu sein. Und schämte mich. Und begriff, dass vor allem eines in diesem zerstörten Haus, in dieser verdammten Straße nicht existierte: Scham. Und dass ich mich für sie alle geschämt hatte, seit ich sehen, fühlen und denken konnte. Ein Gefühl von solcher Stärke, dass es mich fast umgebracht hätte. Und nun war es vorbei, verbrannt, zu Asche geworden.

Verzeih mir meinen Hass, Mutter, den du für ein ganz normales Gefühlt hieltest. Schöne Worte waren kaum in Gebrauch, auch wenn wir sie gebraucht hätten. Du hast mich immer geküsst, was mir sehr unangenehm war. Huren küssen nicht – außer für einen Aufpreis. Und was ich über die Regeln der Käuflichkeit gelernt habe, ist nicht ohne Nutzen in dem anderen Land, in dem ich jetzt lebe.

Dein Atem riecht nach Tod, und das Zimmer nach Urin. Auch dieses Haus, Mutter, sollte brennen. Ich würde laufen, so wie Mona es getan hat. Ihr alle, die ihr die Kontrolle über euer Leben verloren habt, wärt ein leichtes Opfer der Flammen. Die Schwestern würden für euch beten. Ich werfe ihnen nichts vor. Sie tun ihre Pflicht. Vielleicht schämen sie sich manchmal für ihren Ekel vor euren Kadavern. »Gott liebt all seine Kinder«, hast du immer gesagt. Ich kann die Liebe nicht verstehen. Nur dass man sie sich nimmt und sie benutzt, um sich gut zu fühlen.

Fühlst du dich gut, Mutter? Nun, da die Wodkaflasche zu einem Drittel geleert ist und du nur noch unverständlich lallst, träumst du vielleicht von besseren Zeiten. Wie wir in die Sozialwohnung am Rande der Stadt zogen, die gefüllt war mit ausrangierten Möbeln guter Mitbürger. Ein großes Haus mit einem Lift, der nie funktionierte, und mit obszönen Sprüchen an den unverputzten Wänden. Die türkischen Nachbarn waren sehr laut, denn es waren große Familien. Wir gehörten zum multikulturellen Experiment der Stadtverwaltung. Wir waren die Asche, über der die Sozialarbeiter ihre süßen Worte bliesen, um ein Feuer der Solidarität zu entfachen. Ich hörte ihnen zu und war sehr beeindruckt von ihrer Eloquenz, Scheiße als Gold zu verkaufen.

Ich liebte einen, der hieß Paul, und er war einer der guten Menschen, die sagten, dass wir alle eine Chance hätten. Die Chance, im Lotto zu gewinnen. Die Chance, auf dem Nachhauseweg vergewaltigt zu werden. Die Chance, mit dem Lift auf dem Weg in den sechsten Stock stecken zu bleiben. Die Chance, dass noch Geld für Brot und Milch da war und die Alte nicht alles Geld vertrunken hatte. Chancen gab es immer, aber es waren nur wenig gute darunter. Meine beste war die Schule, deren relative Sicherheit ich ungern verließ, denn auf dem Weg nach Hause war ich allein. Niemand aus meiner Klasse wohnte dort, wo man den kosmopolitischen Abschaum einquartiert hatte. Les misérables, die sich in vielen Sprachen nicht verstanden, und in jedem Kopf war eine Unordnung und ein Bündel unerfüllter Wünsche.

Die Gangs aus der Wohnanlage hießen das neue Opfer freudig willkommen. Eine Gymnasiastin war etwas Besonderes für jegliche Form von kollektiver Schamlosigkeit. Bis ich die Regeln verstand und meine Beine für den Anführer der stärksten Gang öffnete, sehr kalkuliert und ausschließlich unter Nutzung von Kondomen.

Das alles ging an dir vorüber, denn du warst ja immer betrunken oder verkatert. Zu alt und zu kaputt, um auf dem allerletzten Straßenstrich zu bestehen. Ich brachte die leeren Flaschen weg, nachts, und versuchte, sie möglichst lautlos in den Container zu versenken. Das gute Geld des Staates wurde in schlechten Schnaps investiert, überwiegend. Selbst die Frau mit dem Kopftuch, die von ihrem Mann verprügelt wurde, verachtete dich, weil sie nüchtern leiden durfte. Unsere kleine Familie, Mutter, war schon fast eine Parodie des Sozialdramas. Erzählte ich jemandem davon, würde ich die Wahrheit zur pathetischen Lüge erheben. Aber die Wahrheit war, dass ich nichts weiter wollte als deinen Tod und mein Überleben. Und ich werde sie niemandem erzählen.

Als die Sozialarbeiterin dich endlich zu einer Entziehungskur überredete, folgte eine kurze, fast glückliche Zeit. Ich meinte, in Geld zu schwimmen. Aber du kamst immer wieder und fingst immer wieder an. Es gab wenig anderes zu tun. Nichts, was einen Sinn ergeben hätte. Aufwachen, zur Flasche greifen. Fernsehen. Weiter trinken. Schlafen. Trinken. Fernsehen. In die Kneipe gehen. Trinken. Die Monotonie aller Wodkatage und -nächte. Zu deiner Entlastung führe ich an, dass du nie aggressiv wurdest und mich nie geschlagen hast. Berufsethos vielleicht: Schlage nie umsonst. Nein, verzeih, es gibt sicher schlimmere Kindheiten. Ich kenne nur keine.

Wie immer, wenn ich sie verlasse, bewegt sie ihre rechte Hand, die angeschnallt ist. Als ob sie nach der Flasche greifen wollte, die sie nicht mehr halten kann. Ciao Mama, ich kehre jetzt zurück in mein anderes Land, in das schöne Dachterrassenappartement im besten Viertel der Stadt, in dem die schönen Fassaden gewahrt bleiben und sozial verträgliche Menschen in BMWs steigen, um im Feinkostladen einzukaufen. Ich kehre zurück zu meiner Arbeit, die ich liebe, weil ich gut darin bin. In jedem Kopf ist eine Welt, die man sich aussucht – und sie schließt alle anderen aus.

»Sie schläft, die Gute«, sagt die Schwester, die ich im Gang treffe. Sie trägt eine Warze auf der Nase. Ein kleines Kainsmal für die Gerechten. Ich frage mich, ob sie wohl weiß, wie Mutter ihr Geld verdiente, als sie es noch konnte. Ob sie sich die Arbeit einer Domina vorstellen kann. Monique, die Lederfrau mit der Peitsche. Sex scheint in diesem Haus so abwesend wie Lachen und Freude. Wissen die Alten noch, dass sie einmal Lust empfanden, dass sie gut und böse waren und Entscheidungen trafen, die falsch oder richtig waren? Jetzt liegen sie da und stieren vor sich hin, spüren noch Hunger, Durst und Schmerzen, mehr nicht. Leben am Ende des Lebens. Wenn es eines nach dem Tod gibt, wie die Kreuze suggerieren, gäbe es noch Hoffnung. Mutter war eine katholische Hure, wer weiß?

Die Schwester trägt ein Tablett mit kleinen Schalen, in denen Pillen verschiedener Form und Größe liegen. Sie lächelt, und ich unterstelle ihr vordergründige Güte, weil dieses Gefühl mir so fremd ist. Ich verabscheue die Gütigen, Duldsamen, deren ewiges Lächeln eine Provokation ist. Und wenn wir das Leben lieben, müssen wir lieblos gegen unsere Zeit sein. Sterben würde ich, wenn ich hier arbeiten müsste. Für Gottes Lohn. Wie sie das Geschrei aushalte, frage ich, und sie antwortet, dass man sich an alles gewöhne. Die Warze bebt beim Sprechen. Nein, ich habe mich nie mit der Gewöhnlichkeit arrangiert. Ich danke ihr für ihre Freundlichkeit und verlasse mit eiligen Schritten den Flur und dieses Haus. Ich habe einen schnellen Gang, das sagen alle. Wie eine, die auf der Flucht ist.

Draußen liegt Schnee, Dezemberschnee, und ich fahre zurück in mein Leben. Im Geschwindigkeitsrausch über eine fast leere Straße, und Gebotsschilder sind dazu da, übersehen zu werden. Dieser weiße Sonntag ist fast menschenleer, und ich vertraue darauf, dass niemand mich aufhält. Ich hasse Sonntage, an denen ich nicht arbeiten oder einkaufen kann. Sie zwingen zum Nichtstun, eine Beschäftigung, die mir schwer fällt. Wer allein ist, ist es an Sonntagen ganz besonders.

Ich fahre zum Fitnessstudio, weil ich nichts Besseres zu tun habe, als meinen Körper zu stählen. So viele Frauen in schwarzen Trikots, die sich Maschinen hingeben. Die große Folterkammer riecht nach dem parfümierten Schweiß der oberen Mittelklasse.

Die Musik aus den großen Lautsprechern ist aufmunternd. Bewegung ist das halbe Leben. Es ist anstrengend, na und? Wir gehören zur großen Familie der schönen Körper. Zum Clan der Disziplinierten. Wir brauchen diese Hülle, um vor uns zu bestehen. Man sehe sich Conrad an. Sein Körper ist ein gewaltiger Friedhof von Geschäftsessen und Getränken. Eine schwere Last, die ich drei Nächte lang ertrug, und es ist angenehmer, die Gewichte der Maschine zu stemmen. Und nicht sehr viel unerotischer. Conrad ist der Mach-mir-was-Typ. Mach mich an. Mach mich geil. Mach mir einen Orgasmus. Ich gebe dir dafür die Gegenwart meiner Macht. Was ich unter ihm machte, interessierte ihn nicht. Er war keiner, den ich liebte, und das hat er auch nicht verlangt. Er sagte, dass er seine Frau anbete. Und er erkannte mich als das Flittchen, das um seiner Karriere willen süße Worte flüsterte. Ein wenig Verachtung war im Spiel, gepaart mit Begehren und einem leichten Hang zum Sadismus. Wer ist der Stärkere? Er. Wen bestraft er dafür, dass er sie betrügt? Mich.

Hinterher erzählte mir Conrad, dass seine Frau ihr Bein bei einem Autounfall verloren habe, als sie siebzehn war. Gleichzeitig wurde sie Vollwaise und gemeinsam mit ihrer Schwester Erbin des Verlags. So tapfer, dieses Mädchen, das er in seine starken Arme nahm, als sie achtzehn war. »Ich trage diese wunderbare Frau auf Händen«, sagte Conrad, und ich hätte gern gefragt, ob diese Last durch das Erbe nicht sehr viel leichter zu tragen war. Hätte ich meine Kindheit eintauschen wollen gegen diese Einbeinigkeit? Mit zwölf Jahren hätte ich ja gesagt.

Conrad schenkte mir seine Gunst, während seine Frau auf einer Studienreise im Jemen war. Ich durfte mit ihm essen, trinken und schlafen, und er erklärte mir seine Regeln der Macht. Erkenne deine Feinde wie dich selbst. Wenn du sie nicht auf deine Seite ziehen kannst, vernichte sie. Zweifle nie daran, dass du besser bist als die anderen. Gewinne durch Taten, nicht durch Argumente. Und so weiter. Sätze aus Handbüchern, geschrieben für machtgeile Männer. Sätze von Wahrheit und Lüge. Das Credo der Unbarmherzigkeit gegen sich und die anderen. Sein Vorgänger auf dem Chefredakteursposten hatte entweder das Falsche gelesen oder das Richtige unzulänglich umgesetzt. Man trifft immer einen, der besser ist.

Conrad, von keinem Hauch des Selbstzweifels infiziert, hört sich gern reden. Und ich höre ihm aufmerksam zu. Ich lerne von Männern, und nach diesen Kriterien suche ich sie aus. Fast immer. Die Wahl zu haben, ist das, was mich von jenem anderen Land trennt.

Der Dezember ist ein Monat, in dem ich fast immer allein war. Eine Dezemberfrau, die zwanzig Kilo stemmt und den Rücken gerade hält. Wir trainieren gegen das Alleinsein, gegen Verfall und Alter. Die Frau an der Nachbarmaschine hat faltige Hände und ein glattes Gesicht mit aufgeworfenen Lippen von großer Künstlichkeit. Ihre Figur ist makellos. Meine Fesseln sind ein wenig zu dick, dagegen kann man nichts tun, und so arbeite ich für die Perfektion aller restlichen Körperteile. Ich bemühe mich, gleichmäßig zu atmen und an den Punkt zu kommen, an dem Anstrengung euphorisch macht. Einatmen, ausatmen. Die Maschine besiegen. Den Schmerz ignorieren. Wer nicht über Grenzen geht, bleibt klein. Der Trainer, dessen Kopf ein Fitnessprogramm ist, lächelt mir zu. Ein Dezembermann? Was sollte ich von ihm lernen, was ich nicht schon weiß? Und er würde mir Hanteln unter den Weihnachtsbaum legen.

Weihnachten ist eine Zeit, die mich schaudern lässt, seit ich nicht mehr an das Christkind glaube. Es waren die Tage, an denen Hochbetrieb herrschte in der Gerberstraße. In der Wohnküche mit der Kuckucksuhr stand der Weihnachtsbaum mit goldenen Kugeln und Engeln und Herzen. Mein Vorschlag, ihn mit verschiedenfarbigen Kondomen zu schmücken, wurde zurückgewiesen. Mutter kaufte Weihnachtsplätzchen, denn zum Backen hatte sie keine Zeit. Und diejenigen der Mädchen, die keine Männer oder Kinder hatten, feierten mit uns. Stille Nacht, denn an diesem Tag war geschlossen, obwohl dies vermutlich unökonomisch war. Die christliche Sentimentalität einer Puffmutter. Anstelle der üblichen Geräuschkulisse gab es Weihnachtsmusik. Und Lachs vom Delikatessenladen, der teuerste, wie Mutter stets betonte. Dazu wurde Sekt getrunken, die Hausmarke, die an allen anderen Tagen den Kunden zuteil würde, wenn sie den überhöhten Preis bezahlten. Sobald die Kerzen angezündet waren, weinten alle – außer mir. Sie wären so gute Ehefrauen und Mütter geworden, wenn sich der richtige Mann gefunden hätte. Dafür mussten die Falschen bezahlen. So war die Welt, böse und ungerecht, und sie konnten nichts dafür und nichts dagegen tun, außer sentimental zu werden. Sie beschenkten sich mit Spitzenwäsche aus dem Katalog für den besonderen Geschmack, und ich bekam Bücher, Süßigkeiten oder Schallplatten. In meiner Anwesenheit war der Gebrauch von obszönen Worten verboten. Meine Mutter wurde wütend, wenn auch nur das Wort »Scheiße« fiel, obwohl auch damit Geld verdient wurde in der Gerberstraße. Es gab keine Tabus, außer Sex mit Kindern. Tabus muss man vernichten, indem man sie berührt.

Jeglicher Sex, gut oder schlecht, endet in der nüchternen Betrachtung der Unvereinbarkeit von Wunsch und Wirklichkeit. Wo’s keinen Wein mehr gibt, gibt’s keine Liebe. Ich schenke nie alles aus. Ich liebte einen, der hieß August, und ich verehrte ihn, bis er seine sexuellen Phantasien preisgab. Er verstand nicht, dass der Preis nicht hoch genug war. Eine Heirat mit August wäre mit sechzehn Jahren ein gewaltiger sozialer Sprung gewesen. Der Verkauf meiner Jugend an sein Alter, seine Privatklinik, seine Doktorspiele. Eine Abtreibung in seinem ehrenwerten Haus. Ich war noch jung, doch ich wusste schon zu viel. Er war ein Klient der Krankenschwester, und Mutter schämte sich für mein Missgeschick. Ich war ihr einziges Schamgefühl, und sie übertrieb es bis zum Erbrechen. Sie sprach doch tatsächlich von der Schande, die ich über sie gebracht hätte. Lateinisch deklinieren können, aber nicht wissen, wie man mit einem Kondom umgeht. Duo quum idem faciunt, non est idem.

August befreite mich recht stilvoll von dem ungebetenen Leben. Das Krankenzimmer war ein Traum in Weiß, und die Schwestern Barbiepuppen in Uniformen. Ich hatte einen Fernsehapparat im Zimmer und ein Radio, und jeden Tag gab es frische Blumen. Erleichterung war das große, alles beherrschende Gefühl. Ich war noch einmal davongekommen und durfte in der Schule bleiben. Der Name des Vaters eines abgetriebenen Kindes war nicht wichtig. Ein Musiker aus einer Band, die in den Grenzen unserer Stadt berühmt war. Der Apparat auf der Toilette, der nicht funktionierte. Die Gier und die Dummheit, auf das Glück zu vertrauen. Geplatzte Kondome waren in unserer seltsamen Familie schicksalhaft, denn auf diese Weise kam ich in die Welt. Es war nicht wichtig, dass es geschehen war, sondern dass man es ungeschehen machen konnte. Mutter weinte, als sie mich in den Behandlungsraum fahren. Frauen weinen bei Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen. Männer sind tapfer – und weitgehend abwesend.

August besuchte mich und tätschelte meine Hand, und meine Mutter nannte ihn ehrfürchtig »Herr Professor«. Nun, auch in akademischen Kreisen wurde Güte nicht umsonst gewährt. Ich bezahlte mit einer klinischen Affäre, die überwiegend auf seinem gynäkologischen Stuhl ausgetragen wurde. Er gab mir die Pille und ich ihm die beliebige Nutzung meines Unterleibs. Er wollte mich heiraten, und ich sagte nein. Der dumme August mit seinen Instrumenten, die ihn so aufregten, dass er zu schnauben begann, wenn er damit hantierte. Ich bat mir Ohrenstöpsel aus, dies war meine einzige Bedingung. August machte mir Geschenke: eine Lederjacke, Jeans, teure Pullover. Aber er gab mir kein Geld, und ich hätte auch keins genommen. Manchmal, wenn nichts mehr im Haus war, trug ich seine Geschenke ins Pfandhaus. Nach einem Vierteljahr gab ich August den Laufpass. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, einen Freier gegen viele einzutauschen. Denn unterm Strich wäre es das Gleiche gewesen, nur mit nettem Außenanstrich.

In irgendeiner Form wird bezahlt. So kann man die Welt sehen, auch in einem Fitnessstudio. Ich trete auf die Pedale, als hinge mein Leben davon ab, Kilometer zu schlucken. Ich bin fit, jung und erfolgreich. Ressortleiterin bei einer seriösen Zeitung. Niemand weiß, wer ich bin. Das Mitleid ist grau, und ich kann es nicht gebrauchen.

Von allen, die meinen Hurenweg kreuzten, kannte ich Stefan am besten. Man muss Männer heiraten, um sie kennen zu lernen. Er sah ein wenig aus wie der Fitnesstrainer, ein gebräuntes Kraftpaket mit weißen Zähnen, das aus einem guten Stall kam und mit mir die Journalistenschule besuchte. Stefan, der ewig gut drauf und nie in Geldnöten war, weil seine Familie eine Kette von Juwelierläden ihr eigen nannte. Jüdischer Geldadel, und ein Sohn von vielen Talenten, von denen keines so ausgeprägt war, dass er es für ernsthaften Gelderwerb in Aussicht genommen hätte. Am Ende aller Tage gab es immer noch die Juwelierläden zu verwalten, und bis dahin vertrieb sich Stefan seine Zeit mit Sport und Spiel, Frauen und gelegendichem Besuch der Vorlesungen.

Junge Frauen mögen sonnige Wesen mit offenem Sportwagen, Penthousewohnung und hinreichend Zeit und Geld für Vergnügungen aller Art. Ich war keine Ausnahme, doch Stefan war einer, den ich nicht liebte. Vermutlich habe ich deshalb ja gesagt, weil es mir so schmeichelte, dass er unter allen verfügbaren Frauen mich erwählt hatte. Weil Reichtum natürlich blendet und zur vorübergehenden Erblindung aller Sinne führt. Weil er in keiner Weise aussah wie einer der Kunden der Gerberstraße. Weil seine Lebenslust an kein Ziel gebunden war, und das Beste an der Liebe ist, geliebt zu werden.

Mit Stefan konnte man lachen und allen Ernst abstreifen, der den Spaß verderben könnte. Meine Gespenster zogen sich vorübergehend zurück; ich hatte keine Zeit für sie. Stefan und Marie taumelten vergnügungssüchtig durch die Stadt, die alle Somnambulen willig aufnahm. Sie liebten sich im Morgengrauen, meist wenn er so betrunken war, dass er vor dem Orgasmus einschlief. Er nahm es mir nicht übel, und er sah hübsch aus, wenn er auf dem Rücken lag und in seine Träume lächelte. Stefan schlief, während ich zu den Vorlesungen ging. Er nannte mich sein Karriereweib, das Waisenkind mit Erfolgsantrieb, die Glücksmarie, deren Fleiß mit Goldstücken belohnt wurde, die er über mich rieseln ließ, weil Geld ihm nichts bedeutete. Es war da. Und wenn er sein Konto überzogen hatte, führte er seine Mutter zum Essen aus und erzählte ihr von seinen bedürftigen Freunden, die er unterstütze, und sie war gerührt, weil sie wie viele reiche, gelangweilte Frauen zur Wohltätigkeit neigte. Klischees sind deshalb angenehm, weil sie einem die Mühe ersparen, weitergehend nachzudenken. Sie war Wachs in Stefans Händen, die nie Kleingeld gezählt hatten und ganz und gar ohne Schwielen waren. Und von all seinen mittellosen Freunden, die sie liebte, weil man die Armen gern haben muss, war ich die Einzige, die sie eine Schmarotzerin nannte. Nebbich. Sie erkannte den Ernst der Lage, bevor Stefan es tat, und wiederholte den Fehler aller Mütter: Sie warnte ihn vor mir und versuchte, uns zu trennen.

Das Argument, dass ich eine Schickse war, zählte nicht zu ihren besten, denn Stefan stand dem »jüdischen Kram«, wie er es nannte, völlig indifferent gegenüber. Für ihn zählte, dass Menschen lustig waren, zu seiner Unterhaltung beitrugen und ihn nicht mit den Beschwernissen des Lebens belästigten. Meine Vergangenheit interessierte ihn nicht, das nahm mich sehr für ihn ein. Das Kind der Gegenwart lachte über seine Mutter, die sich für die Annahme erwärmte, dass mein Großvater ein SS-Offizier gewesen sei. Ich war eine Mörderin. Ich nahm ihr den Sohn. Ich war eine Diebin. Eine Schickse, die nur sein Geld wollte. Die Inkarnation ihres Alptraums, ihren Sohn an eine Unwürdige zu verlieren. Sie kämpfte bravourös, doch ging sie nicht so weit, meine Vita zu durchleuchten. Ich hätte Stefan sofort verlassen, aber das konnte sie nicht ahnen. Das alte Mädchen hatte nicht die Phantasie, sich eine Gerberstraße vorzustellen. In Holocaust-Dimensionen war ein Bordell ein banaler Ort und ihre Fixierung auf meine Herkunft zu eindimensional.

Er war ein trotziges Kind, eines, das ein Spielzeug, das es unbedingt haben wollte, nicht mehr aus der Hand gab. Stefan nannte es Liebe und machte mir einen Heiratsantrag. Vor seiner Mutter, um die Sache szenisch zu erhöhen. Sie schnappte nach Luft wie ein verwundeter Karpfen, und für einen Augenblick hatte ich Mitleid mit ihr, weil sie alt, hässlich und geschlagen aussah. Ich nahm Stefans Angebot an, unser Verhältnis zu legalisieren. Es war eine gedankenlose Zusage, ein Triumph, der ausgekostet werden musste, ein Zugeständnis an die Eitelkeit. Es war vieles, aber nicht Liebe. Vielleicht war es auch nur so, dass ich ein Stück seiner von finanziellen Sorgen unbeschwerten Lebensfreude auch für mich haben wollte.

Stefan und Marie traten vor den Standesbeamten, und unsere Freunde feierten mit uns ein großes Fest im Haus meiner Schwiegereltern. Sein Vater nahm mich verzeihend in die Arme, und die Mutter drückte mir in unversöhnlichem Hass die Hand. »Das ist Stefans hübsche Schickse« war ihre Vorstellungsformel gegenüber den Tanten und Onkeln und Cousins und Cousinen, die zahlreich angereist waren, um die seltsame Paarung mitzuerleben. »Er hat sie nicht verdient«, fügte sie manchmal hinzu, und ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, wie dieser Satz zu interpretieren war. Stefan, der einmalige Spross ihres fortan unfruchtbaren Schoßes, hörte nicht auf zu lächeln. Es war, abgesehen von seinem Sieg bei einem Snowboard-Wettbewerb, das größte Ereignis seiner bisherigen Laufbahn. Er genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, der strahlende, blauäugige Bräutigam, der all seine Verwandten und Freunde liebte, mit ihnen trank und ihnen versicherte, dass er der glücklichste Mensch der Welt sei. Das war nichts Besonderes, Stefan glaubte wirklich daran, vor allem nach ein paar Gläsern Alkohol. Er weigerte sich, erwachsen zu werden, dies war Teil seiner Anziehungskraft und die Tragödie seiner leichtfüßigen Existenz. Zu oberflächlich, um zu Bösem fähig zu sein, hätte er doch für eine gute Pointe jeden Freund verraten. So war Stefan, so liebten ihn alle in perfekter Oberflächlichkeit, und im Glanz meines Sonnenmanns vergaß ich vorübergehend meine Schatten, und auch, dass in meine Bewunderung Verachtung einfloss.

Der Schoß meiner neuen Familie war großzügig, lärmend und bisweilen niederträchtig. Jegliche Form familiärer Einmischung war erlaubt, und der Schutz der Intimsphäre ein Witz, über den alle herzlich lachten. Sie mischten sich in alles ein, wussten alles zu kommentieren und waren nie einer Meinung. Eine Familie immerhin, Leute, die einander nicht fremd waren und sich dafür hassen oder lieben mochten – oder beides, was ich für wahrscheinlich hielt. Eine Familie, in der Geld eine große Rolle spielte, denn sie sprachen ständig davon in beschwörenden Formeln und neurotischer Angst vor Verlusten. Zu mir sagten sie Sätze wie »Du siehst ja fast jüdisch aus«, »Kannst du ein Kunststück, mit dem du ihn eingefangen hast?« oder »Wann kommt das Baby zur Welt?«

Über aller familiärer Unbill thronte, dirigierte, intrigierte Stefans Mutter. Er nahm sie nicht ernst, wie er nichts ernst nahm, doch er wusste auch, dass in ihren Händen die Macht und das Geld lagen. Er war nicht so dumm, diese Tatsache zu unterschätzen und sie gegen die titanische Mutterliebe auszuspielen.

Erbe fällt nicht unter Zugewinn, das hatte sie mir am Hochzeitstag neben einem Collier aus Familienbeständen als verbales Geschenk überreicht. Ich hatte einen Mann geheiratet, der von den Zuteilungen seiner Mutter lebte und nicht die Absicht hatte, dies zu ändern. Ihre Schecks wurden überreicht, wenn Stefan mit ihr essen ging, ins Konzert oder zu einer ihrer Wohltätigkeitsveranstaltungen. Ein Scheck für die Armen und ein Scheck für den armen Kleinen, der an eine mittellose Schlampe ohne Familie gebunden war. Ein Teil ihrer Abneigung gründete auf meiner anhanglosen Existenz. Die Einzelgängerin war in keinem Rahmen zu befestigen, und wenn, hätte sie dieses Bild an keinem noch so verborgenen Winkel ihres großen, geschmacklosen Hauses gemocht. Kein Erbarmen mit Marie, die in Stefans Rangliste der Frauen an zweiter Stelle lag und in seiner Gunst kontinuierlich abfiel.

Man könnte es so sehen, dass er mich nicht in seine Höhen zog, sondern ich ihn in meine Tiefen. Die Dauerfehde mit seiner Mutter, die anstrengenden Prüfungen, Stefans unerbittliche Lust, die Nächte durchzufeiern – wir begannen zu streiten, auch über Geld –, und zu schweigen, was viel schlimmer war. Meine Gespenster kamen zurück, und Stefan wäre der Letzte gewesen, mit dem ich sie geteilt hätte. Vermutlich hätte ihn meine Vergangenheit amüsiert, weil das Leben aus seiner Sicht ein nie enden wollender Sommernachtstraum war. Inklusive sexuellen Exzessen. Die Frauen, die Mädchen, die schönen jungen Männer: Der Lustgewinn war der Zauberwald, den Stefan zu durchqueren versuchte, ohne Schaden zu nehmen – und müde, mahnende Ehefrauen spielten in diesem Stück eine Nebenrolle, die nicht nach seinem Gusto war.

Man wird nie betrogen, man betrügt sich selbst. Die Gegensätze, die sich angezogen hatten, stießen einander ab. Es ging recht schnell und unter dem Applaus der Familie, die seine Mutter als Festung gegen mich ausgebaut hatte. Einzig Stefans Vater verhielt sich neutral in diesem Krieg, jedoch nur, weil ihn nichts interessierte außer dem Buch, an dem er seit drei Jahren schrieb. Er verbrachte seine Tage und Abende in der Bibliothek und verließ sie nur, um zu essen, zu schlafen oder Familienfesten beizuwohnen. Das Werk seines Lebens war ein Roman, die Utopie einer jüdischen Diktatur in Deutschland, in der Arier in Konzentrationslager verschickt und dort zu Tode gebracht wurden. Alles, was deutsche Geschichte war, schrieb er neu, so, als würde es noch einmal geschehen, nur dass die Täter die Opfer waren – und umgekehrt.

Ein absurder, ja obszöner Stoff nach Meinung der Familienbande; einzig Stefan fand die Idee komisch, vielleicht, weil ihn der Gedanke entzückte, dass man mich in einem solchen Land einsperren und töten würde.

Einmal im Monat versammelte sein Vater die Familie in der Bibliothek, um aus seinem Werk zu lesen, das zum Zeitpunkt meiner unerheblichen Zugehörigkeit sechshundert Seiten stark war. Ich glaubte, dass er es nie vollenden würde, weil er immer stärker in den Sog seiner Fiktion geriet und immer erfindungsreicher in den Schilderungen der Grausamkeiten wurde, die den Deutschen widerfuhren. Vielleicht schrieb er nur ab, indem er Gut und Böse vertauschte, ich war mir nicht sicher. Das Land seiner Utopie war ein Friedhof, in dem die Totengräber ihre Pflicht taten. Nichts Neues.

Während er mit seiner spröden Stimme vorlas, spürte ich die Blicke der Familie auf mir. Hier saß das potentielle Opfer, und ein wenig, nicht wahr, hätte sie es schon verdient, in dieser Geschichte eine leidende Rolle zu spielen, selbst wenn man sich darin einig war, dass der Autor dieses Werks meschugge war. Die Abende in der Bibliothek endeten stets mit lautstarken Streitigkeiten, die im Wesentlichen von Gut und Böse, Recht und Unrecht und der Unvereinbarkeit aller Ansichten handelten. Einig war man sich ausschließlich darüber, dass dieses »schändliche Werk« das Judentum und seine Geschichte in unerträglicher Weise beschmutze.

»Was denkst du als Nichtjüdin?«, fragten sie mich, und redeten weiter, weil sie die Meinung einer Schickse nicht wirklich interessierte. Meine Antwort hätte gelautet, dass Stefans Vater ein liebenswürdiger, verrückter, boshafter alter Mann sei, der nicht besonders gut schreiben konnte.

Wenn ich an diesen Abenden an die Gerberstraße dachte, fand ich die Diskussionen gleichermaßen anziehend wie schwachsinnig. Diese Leute stritten nicht um existentielle Fragen: das Geld, die Kunden, die Miete, die Beschaffung von Rauschgift oder die Haltbarkeit von Kondomen. Nein, sie erregten sich über Vergangenheit und Zukunft, über Ideologien und Fiktionen, und dann tranken sie den guten Rotwein, klagten noch ein wenig über schlechte Geschäfte und gingen nach Hause in ihre weichen Betten, wo sie Stefans Vater und seine furchtbaren Phantasien wieder vergaßen.

»Er kann schreiben, was er will, wenn es ihn glücklich macht«, sagte Stefans Mutter stets zum Abschied, »aber veröffentlicht wird dieser Nonsens nur über meine Leiche.« Und Stefan pflegte sie dann zu umarmen, und, während er seinem Vater zuzwinkerte, zu sagen: »Sie gehört zu den Frauen, die ewig leben.« Dann lachten alle, außer Stefans Vater.

Ihn langweilten die Familie und die Geschäfte der Familie. Er war der Künstler, der Träumer, der Versager. Im Schatten der Übermutter wuchsen die Utopien einer Welt, in der Frauen keine Rolle spielten. Was natürlich auch für Stefan galt. So wenig, wie sein Vater sein Projekt noch unter Kontrolle hatte, vermochte mein Mann, Grenzen zu akzeptieren.

Mehr Spaß, mehr Sex, mehr Alkohol, und eine Prise Kokain, wenn es trotzdem langweilig war. Nichts ging mehr ohne Publikum, denn er ertrug es nicht, allein zu sein, außer wenn er schlief. Manchmal erschien mir unsere Wohnung wie ein Bordell, in dem niemand bezahlen musste. Wenn ich lernen wollte, wich ich in Cafés aus. Alles war, wie er bei einer der wenigen Gelegenheiten, in der wir allein miteinander sprachen, formulierte, meine Schuld. Weil ich ihn nicht liebte. Weil ich kein Kind wollte, das sein Leben verändern würde. Das war ein Witz, über den ich nicht lachen konnte.

Er lachte nicht, als ich meine Koffer packte nach vierzehn Monaten. Ich hatte bereits ein Zimmer gefunden. Die Abschiedsszene war also inszeniert und an den Beginn meines Mietverhältnisses angepasst. Pragmatismus war in Stefans Umfeld zur Überlebensstrategie geworden. Er nannte mich eine Spießerin und ich ihn einen Versager. Die Wortwahl am Ende von Beziehungen ist immer sehr beschränkt. Deine Schuld, meine Schuld, wir teilen sie nicht, so wie wir nie etwas geteilt haben außer Bett und Tisch.

Ich ergänzte die gängigen Floskeln durch eine Erpressung, schließlich hatte ich kein Geld und keine Mutter, die mir Schecks zusteckte. Angesichts meiner Drohung, seiner Geldgeberin von seinen homosexuellen Ausflügen zu erzählen, unterschrieb er einen Schuldschein von dreißigtausend Mark, zahlbar in monatlichen Raten und auf ein Jahr begrenzt. Sicherlich hätte sie meinen Worten nicht geglaubt, doch Stefan hatte es bei manchen Gelegenheiten aufregend gefunden, fotografiert zu werden. Er war ein Narzisst. Er war ein Kind, das nicht über die Folgen seiner Handlungen nachdachte. Ich hingegen wusste genau, was ich tat, als ich die Bilder machte und aufbewahrte. Wer keine Familie hat und kein Geld, neigt zur gemeinen Vorsorge.

Als ich mit den Möbelpackern kam, um meine Habe einzusammeln, bewarf uns Stefan mit Gummibärchen. Er war high, von Alkohol oder Tabletten, und fand seine Inszenierung sehr gelungen, bis einer der Packer ihm eine Ohrfeige gab, die sehr lieblich schallte. Mein Mann flog gegen die Couch, heulte wie ein Hund und beschimpfte seinen Gegner als Nazischwein. Es war eine Begegnung der ungleichen Art. Sie verstanden einander nicht, was immer sie sagten. Aber in diesem Fall war der Packer stärker, und Stefan nahm seine Bemerkung zurück. Er schmollte, weil er ein schlechter Verlierer war. Der Boden war voller Gummibärchen, und die letzte gute Tat meiner Ehe war, dass ich sie aufkehrte und in die Toilette warf. Es war mir klar, was geschehen würde, wenn sich diese große Menge von Gummibärchen im Wasser auflöste. Mein Abschiedsgeschenk an Stefan. Keine Scham, keine Dankbarkeit, keine Liebe: Ich war endlich erwachsen geworden.

Hurenkind

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