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Kapitel 4

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Den ganzen Donnerstag über ist Marianne nervös. Für den Abend möchte sie sich schön machen. Viel Auswahl an eleganter Kleidung hat sie nicht. Sie fragt sich, weshalb sie überhaupt die Einladung akzeptiert hat. Sie kann nicht ewig lügen und langsam wird es ihr zu kompliziert und zu mühselig. Marianne muss dem grausamen Spiel ein schnelles Ende bereiten und sehen, wie sie diesen Mann loswird. Vor allem, wie sie von dem guten Menschen wegkommt, ohne dass er ihre Geheimnisse lüftet. Das wird das Schwierigste. Aber sie ist sich ziemlich sicher, dass er sie spätestens dann, wenn er all die Geschichten erfährt, in Ruhe lässt und sich endgültig von ihr abwendet.

Jedoch tut er ihr Leid. Sinnvoller ist es, wenn sie ihn verabschiedet, bevor er den Lügenmärchen auf die Schliche kommt.

Weshalb musste es an Ostern auch regnen? Warum musste Marianne ausgerechnet nach Kempten radeln? Warum musste sie überhaupt radeln, wo sie doch den Regen vorhersehen konnte? Marianne vermutet, dass sie einfach vor Franzis schlechter Laune geflüchtet ist. Und da ist es eben passiert. Ist das ein Wink des Schicksals? Denn durch diese Begegnung wird Marianne erst klar, dass sie die Partnerschaft beenden muss. Dass es keinen Sinn hat eine Beziehung, die keine mehr ist, fortzuführen.

Schon um viertel vor acht steht sie fertig angezogen, mit kaltem Schweiß auf den Händen da und überlegt, wie sie sich doch noch aus der Affäre ziehen kann. Geht sie nicht hinunter, besteht Gefahr, dass er vor der Wohnungstüre steht und das ist auf jeden Fall zu vermeiden. Marianne muss vor das Haus. Vielleicht kann sie eines der „Kinder“ krank werden lassen. Aber dann ist die Verabredung sicherlich nur aufgeschoben und nicht aufgehoben. Zudem kann er einwenden, dass Marianne ihn hätte anrufen können und im dümmsten aller Fälle, hätte er darauf bestanden, mit in die Wohnung zu kommen um dem „Kranken“ einen Besuch abzustatten und zu sehen, ob sie ihm die richtige Medizin gibt. Nein, das geht nicht!

Plötzlich, beim Stichwort Anruf fällt ihr ein, dass sie seine Visitenkarte immer noch in ihrer Bücherkiste im Keller versteckt hält. Wo kann sie die sonst hineinstecken? Wo ist ein sicherer Ort an dem Franzi nicht sucht? Im Keller ist sie doch am besten aufgehoben, entscheidet Marianne. Auf der anderen Seite, wenn sie die Telefonnummer einmal benötigt… Man weiß ja nie! Dann ist sie im Keller denkbar ungünstig platziert. Also beschließt sie die Karte zu holen, bevor sie sich mit Gerd trifft. Sie kann sie im Geldbeutel unter die EC-Karte stecken, dort sucht Franzi nichts.

Marianne muss wohl oder übel zum Treffen gehen. Wie soll sie es nur anstellen, dass es bei diesem einen bleibt? Natürlich kann sie ihm erneut direkt sagen, sie will nichts von ihm wissen. Doch hat Marianne den Eindruck gewonnen, diese Aussagen blitzen an ihm ab. Sie muss sich etwas anderes einfallen lassen. Aber was? Nun hofft sie nur, ihr fällt im Laufe des Abends etwas Glaubhaftes ein, sonst ist sie verloren. Denn je öfters sie sich treffen, desto problematischer wird es, ihn loszuwerden. Es wird schwieriger für sie, weil sie sich an ihn gewöhnt oder auch für ihn, weil ein Beenden der Beziehung unglaubwürdiger ist je länger sie dauert. Marianne hat keine Lust mehr das Lügennetz, das sie gestrickt hat, weiter auszubauen. Die Gefahr etwas Falsches zu sagen oder etwas zu vergessen, ist zu groß. Nein, heute Abend wird die letzte Begegnung sein. Basta!

Um die Sache einfacher zu gestalten, kann Marianne vielleicht den Pseudo-Ehemann wieder auftauchen lassen. Nach all den Jahren. Auch eine Versöhnung könnte man einflechten. Freilich wäre so eine Versöhnung ziemlich unverständlich, doch was begeht eine Mutter mit zwei kleinen Kindern nicht für Dummheiten? Nur um der lieben Kinder Willen? Damit sie wieder einen Vater haben! Trotzdem steht zu befürchten, dass Gerd sich die Mühe macht, die Sachlage näher zu durchleuchten. Das wäre fatal! Nein, das ist nicht die Lösung.

Eine weitere Frage drängt sich auf: Will Marianne ihn denn loswerden? Sie ist zwar noch nicht von Franzi getrennt, doch es kann sich nur noch um Tage oder wenige Wochen handeln. Nächste Frage: Ist es sinnvoll, sich sofort wieder an jemanden zu binden, jetzt wo sie endlich ganz alleine auf sich gestellt sein wird? Wenn Marianne ehrlich zu sich ist: Es ist unklug. Zuerst muss sie ihr Leben für sich alleine auf die Reihe bringen, bevor sie sich in die nächste Beziehung stürzt. Der Schlussstrich heute Abend ist unumgänglich. Nur wie soll sie das anstellen? Bislang hat Gerd stets ihre Versuche vereitelt. Ja, es scheint so, als wäre er gegen ihre Bemühungen immun.

Sie ist so sehr in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkt, wie ihr die Zeit davonläuft. Es ist bereits kurz nach acht und sie muss sich sputen. Die Visitenkarte wird weiterhin im Keller versteckt bleiben. Jetzt hat sie keine Zeit mehr sie zu holen. Vielleicht liegt sie aber auch besser in der Bücherkiste.

Schnell zieht Marianne die Schuhe an. Sie hat sie schon länger nicht mehr getragen und kann sich nicht mehr erinnern, dass sie so sehr drücken. Na, das kann ja heiter werden! Vielleicht gehen sie irgendwohin, wo sie diese unmöglichen Schuhe unter dem Tisch ausziehen kann. Auf jeden Fall hat sie keine Zeit mehr, andere auszuwählen. Ach, was heißt hier auswählen. Von drei Paar eleganter Schuhe, die Marianne besitzt, denkt sie, sind dies die einzigen, die einigermaßen bequem sind. Es ist also gleichgültig, welches Paar Schuhe sie anzieht.

Als sie die Treppen hinuntereilt, ist es zehn nach acht. Gerd steht schon vor der Tür. Ob er ungeduldig ist, kann Marianne nicht sagen. Jedenfalls strahlt er über das ganze Gesicht, als er sie erblickt. Vielleicht hat er schon überlegt, wie er es anstellt sie zu erreichen. Ihr Name steht nicht im Telefonbuch. Das Telefon ist auf Franzis Namen angemeldet. Ihr Familienname steht nur zusammen mit Franzis am Briefkasten, aber nicht an der Türklingel. Gründe dafür will Marianne nicht erklären müssen.

*

Schon ab viertel vor acht Uhr hat Gerd vor der Tür gewartet. Er wollte sie auf keinen Fall warten lassen. Nicht, dass sie es sich anders überlegt und wieder in ihr Zuhause zurückkehrt, nur weil er nicht eingetroffen ist. Die große Frage ist, wird Marianne erscheinen? Was ist zu tun, wenn sie nicht wie vereinbart kommt? Er kann unmöglich an der Haustüre läuten und sie auffordern herunterzukommen. Ihre Telefonnummer hat er im Telefonbuch nicht gefunden. In diesem Fall hätte er warten müssen bis sie mit dem Hund spazieren geht. Vielleicht zeigen ihre Fenster auf die Straße heraus und sie erscheint nicht so lange sein Wagen vor dem Haus parkt.

Es bleibt ihm nur zu beten und zu hoffen, dass Marianne aus eigenen Stücken zur Verabredung kommt. Hätte er ein Gänseblümchen zur Hand gehabt, würde er die Blütenblätter auszupfen und abzählen. Sie kommt, sie kommt nicht… Ja, hoffentlich kommt sie. Leider ist sich Gerd seiner Sache ganz und gar nicht sicher. Er ist nervös.

In Gedanken vertieft wartet er vor der Haustür, als er sieht wie Licht im Treppenhaus angeschaltet wird.

Schon tritt sie aus der Tür auf die Straße. Sofort stürzt er auf sie zu und drückt ihr erfreut die Hand. Sein Händedruck ist kräftig, so als wollte er seine ganze Erleichterung, dass sie doch gekommen ist, an ihrer Hand auslassen.

*

Mensch, hat der einen Händedruck, denkt sich Marianne, während sie ihre rechte Hand massiert, nachdem er sie losgelassen hat.

„Entschuldigen Sie“, sagt Marianne zaghaft und reibt sich weiter die Hand. „Aber es gibt immer Ärger in letzter Minute.“ Weitere Erläuterungen macht sie nicht. Soll er sich doch denken, was er will. Es lässt sie kalt. Hoffentlich stellt er keine Fragen. Sie hat keine Lust auf neue Erfindungen.

„Macht nichts“, antwortet er galant und fährt fort, „Sie sind gekommen und das zählt. Außerdem sehen Sie bezaubernd aus.“

„Danke“, ist ihre kurze Antwort, obwohl sie sich nicht weiß, wo genau sie überhaupt bezaubernd aussieht.

Wunderbar, wenn er sich mit so wenig zufrieden gibt. Bevor sie ihre Gedankengänge weiterspinnt, ergreift er sie, wie schon beim letzten Mal, unter dem linken Ellbogen und führt sie zu seinem Wagen, der gegenüber in der Parkbucht steht, genau da, wo Franzi sonst immer parkt. Ob das ein weiterer Wink des Schicksals ist? Hoffentlich sieht sie niemand vom Haus. Sonst kommt Gerede auf und dieses Geschwätz gelangt Franzi schnell zu Ohren.

Er öffnet ihr den Wagenschlag, lässt sie einsteigen und schließt die Tür wieder. Sie schnallt sich an und wartet bis er einsteigt, sich ebenfalls anschnallt und den Wagen startet.

„Haben Sie sich überlegt wohin Sie zum Essen gehen möchten?“, will er wissen, während er das Auto aus der Parklücke rangiert. Er blickt Marianne dabei kurz fragend an.

„Nein“, antwortet Marianne, „um ganz ehrlich zu sein, ich hatte mir nicht den Kopf darüber zerbrochen.“

„Na, dann bin ich froh, dass Sie mich und die Verabredung wenigstens nicht vergessen haben“, meint er lachend und „ich bringe Sie nach Martinszell. Im Adler isst man gut. Es wird Ihnen bestimmt gefallen“, fügt er zuversichtlich hinzu.

Dann will sie ihn in dem Glauben lassen. Obwohl, sie ist schnell zufriedenzustellen. Bislang ist sie nie richtig verwöhnt worden. Oder ist es nur schon so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnert?

„Wenigstens regnet es heute nicht“, bemerkt Marianne, um die Stille im Auto zu beenden und, „vielleicht kommt doch noch der Frühling.“ Was redet sie da nur für einen Quatsch. Finde ich kein Gesprächsthema außer Wetter? Sie beschließt fortan den Mund zu halten, bevor sie noch mehr Blödsinn von sich gibt.

Doch er geht auf das von ihr angefangene Thema ein und meint: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Winter schon vollkommen vorbei ist. Bisher kam immer noch Schnee nach. Eigentlich muss man bis Anfang oder sogar bis Mitte Mai auf der Hut sein vor einem Kälteeinbruch.“

Wie schon gesagt, Marianne beschließt den Mund zu halten und geht sie nicht weiter auf das Thema Wetter ein. Somit ist der erste Versuch einer Unterhaltung vereitelt.

Sie fahren ein Stück schweigend, als er plötzlich feststellt: „Haben Sie großen Kummer? Sie sind heute so schweigsam.“

Und ob sie Kummer hat, hätte sie am liebsten herausgeschrien, doch sie schüttelt den Kopf und meint: „Ich bin nur etwas überarbeitet. Wir hatten im Büro viel zu tun und dann Zuhause. Manchmal wächst mir das alles über den Kopf und ich würde am liebsten das Handtuch werfen.“

„Das dürfen Sie aber nicht tun“, meint er sanft, aber ernst, „das dürfen Sie noch nicht einmal denken. Schließlich haben Sie die Verantwortung für die Kinder. Die haben doch sonst niemanden. Vergessen Sie das nie!“

Ja, da sind sie wieder ihre fiktiven Kinder. Sie werden Marianne wohl immer und ewig verfolgen. Es ist unvermeidlich. In was hat sie sich da hineinmanövriert? Wie konnte sie bloß so dumm und naiv sein? Diese Lügen werden ihr immer vorgehalten werden. Sie muss dem Ganzen ein Ende setzen und zwar sofort! Noch heute Abend! Na, das wird ein heiteres und unterhaltsames Abendessen. Die engen Schuhe heben die Laune auch nicht.

Als sie immer noch schweigt fährt Gerd fort: „Marianne, das müssen Sie mir versprechen, wenn Ihnen die Decke auf den Kopf fällt, rufen Sie mich an. Bestimmt kann ich Ihnen helfen. Und oft tut es einem schon gut, wenn er jemanden zum Reden hat. Ich verlasse mich darauf!“, fügt er eindringlich hinzu. Dabei schaut er sie kurz von der Seite an und wartet auf eine Reaktion ihrerseits.

Immer noch hat Marianne keine Lust zu antworten. Ihr ist die Freude am Abend endgültig vergangen. Was hat sie sich nur dabei gedacht, die Einladung anzunehmen? Bislang hat sie den Eindruck, alles wird immer schlimmer. Am besten lässt sie sich ein Taxi kommen, wenn sie beim Restaurant sind. Sie kann behaupten, sie muss für kleine Mädchen und verschwindet. Es wird sie zwar eine Stange Geld kosten, aber besser, als diese Tragikomödie weiterzuspielen. Vielleicht leuchtet ihm ein, dass er mit ihr nicht viel Freude haben wird. Soll er sich doch jemand anderen suchen, dem er all den Mist erzählen kann. Marianne will damit nichts mehr zu tun haben.

*

Gerd fällt auf, dass Marianne heute noch verstockter ist als sonst. So wie er sie und ihr Verhalten einschätzt, wird sie wahrscheinlich versuchen die zarten Bande der Freundschaft zu zerschneiden. Es darf nicht dazu kommen. Er wird sie fleißig umhegen. Vielleicht vergeht ihre schlechte oder besser deprimierte Laune. Er wird sein Möglichstes dazu beizutragen. Was ist Marianne nur für ein komplexer Mensch? Was geht in ihr vor? Weshalb vertraut sie sich ihm nicht wenigstens ein bisschen an? Nur ein klein wenig für den Anfang! Der Rest wird sich nach und nach ergeben. Dessen ist er sich vollkommen sicher. Aber er kann sie nicht zwingen. Er wird versuchen all seine Überzeugungskraft anzuwenden. Und das will er auch!

*

Schließlich erreichen sie ihr Ziel. Den Autos auf dem Parkplatz nach zu urteilen, kommen in erster Linie betuchte Leute zum Essen. Schon jetzt, bevor Marianne aus dem Wagen aussteigt, schämt sie sich ihrer billigen Aufmachung, obwohl sie immer der Meinung war, ihre wenigen Sonntagskleider sind ganz ordentlich. Kurz gesagt, sie ist hier schlicht und einfach fehl am Platz. Sie passt nicht zu diesen Menschen. Das muss doch er einsehen.

Während Marianne in Gedanken versunken ist und sich nicht von der Stelle rührt, steigt er forsch aus, kommt um das Auto herum und öffnet ihr den Wagenschlag. „Bitte sehr, gnädige Frau“, sagt er mit einem freundlichen Lächeln, reicht ihr die Hand, die sie automatisch ergreift und lässt sich aus dem Auto helfen. Wie eine alte Frau, denkt sie sich. Und schon erinnern sie ihre Füße an die unbequemen Schuhe, die jetzt schon drücken und schmerzen.

„Danke“, antwortet sie, „muss ich Ihnen jetzt Trinkgeld geben?“, fügt sie schnell ironisch hinzu.

*

Gerd weiß nicht, ob es sich um einen Scherz oder um eine Boshaftigkeit handelt. Er muss gewaltig aufpassen, dass am heutigen Abend nichts schiefläuft, sonst ist alles umsonst. Es wird schwierig werden.

„Das kommt ganz darauf an, ob Sie mich als Ihren Fahrer oder als Ihren Begleiter und als Ihren Seelentröster ansehen“, gibt er forsch zurück.

Bravo, ein Eigentor! Spätestens jetzt ist klar, sie ist nicht gut drauf. Von nun an beschließt sie endgültig den ganzen Abend nur noch dazusitzen und keinen Ton von sich geben. So sagt sie wenigstens nichts Falsches und keinen Quatsch mehr. Vielleicht ist das sogar die Lösung ihres Problems und er lässt sie in Zukunft in Ruhe. Sicherlich ist es nicht gerade packend und spannend, wenn man ein schweigendes Gegenüber hat. Dann hätte sie gewonnen. Von jetzt an ist Schweigen angesagt.

Wieder nimmt er Marianne unter dem linken Ellbogen und führt sie auf die Eingangstür des Gasthofes zu. Sein Griff ist nicht hart, aber doch sehr bestimmt. Marianne hat keine Möglichkeit ihm zu entkommen ohne die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen.

Bei der Eingangstür angekommen löst er den Griff, öffnet die Türe und lässt sie vor sich eintreten. Ihr scheint beinahe, sie soll streng bewacht werden. Fast wie bei der Polizei, obwohl sie mit dieser noch nicht in Berührung gekommen ist. Aber im Fernsehen hat sie gesehen, wie sich das dort abspielt.

Einmal ins Restaurant eingetreten, werden sie sofort vom Kellner empfangen, der sie an einen Tisch führt. Offensichtlich ist Gerd nicht zum ersten Mal hier. Außerdem hat er einen Tisch reserviert. Weshalb wollte er dann von Marianne wissen, wo sie zu essen wünscht? Das war reine Formsache. Und wenn sie nun ein anderes Restaurant vorgeschlagen hätte? Was dann?

Unentschlossen steht sie vor dem Tisch, als Gerd ihr ins Ohr flüstert: „Wollen Sie Ihren Mantel nicht ablegen?“

Bingo, noch ein Ausrutscher! Natürlich muss Marianne den Mantel ablegen, wie schäbig ihr Kleid auch sein mag. Also knöpft sie langsam ihren Mantel auf und erlaubt Gerd ihr diesen abzunehmen. Der reicht den Mantel an den Kellner weiter. Der Mann verschwindet mit dem „edlen“ Kleidungsstück. Wohin auch immer. Damit wird eine Flucht immer unwahrscheinlicher. Nun steht sie wieder regungslos da und harrt der Dinge, die da kommen werden. Sie steht da, als wäre sie noch nie in einem Restaurant gewesen. Aber es stimmt schon, verwöhnt hat Marianne schon lange niemand mehr.

Bei Franzi und ihr war das mit dem Verwöhnen nur eine Farce, die im Laufe der fünf Jahre in Routine, um nicht zu sagen Langeweile, gekippt ist.

Ja, die Routine! Gibt es überhaupt ein Paar, bei dem nicht alles in Routine übergeht? Es lohnt sich sicherlich nicht, eine Verbindung mit jemandem einzugehen. Die schöne Anfangszeit, in der alles neu ist und in der man vieles unternimmt, um den Partner zu entdecken, zu erobern, zu becircen, ist schnell vorbei und was dann bleibt, sind das tägliche Leben und der Alltagstrott.

Marianne hat heute nur düstere Gedanken. Sie wäre besser zu Hause geblieben!

*

Blass ist sie heute und müde. Vielleicht hätte er sie wieder nach Hause bringen sollen. Doch er wollte nicht locker lassen. Nun sind sie hier. Hoffentlich schafft er es, sie aufzuheitern. Dann hätte sich der Abend gelohnt. Bis jetzt sieht es auf jeden Fall schlecht aus. Wie kann er es nur anstellen?

„Geht es Ihnen nicht gut?“, will Gerd besorgt wissen, „Sie sind so blass. Das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen, sonst hätte ich Sie nie bedrängt mitzukommen. Soll ich Sie wieder nach Hause bringen. Wir können auch ein andermal zusammen Essen gehen.“

Müde lächelnd sagt Marianne: „Nein, es geht schon. Entschuldigen Sie bitte. Es kann schon sein, dass ich heute keine besonders gute Unterhalterin bin. Sie wissen ja, wie das manchmal ist.“ Damit setzt sie sich auf den Stuhl, den er für sie zurechtgerückt hat.

Er deutet eine Geste an, als wollte er ihre Wange streicheln. Spontan zieht sie den Kopf zurück. So als hätte er es nicht bemerkt, berührt er nun doch ganz sanft ihre Wange. Dann setzt er sich ihr gegenüber auf den Stuhl und ergreift im Anschluss ihre Hand. Sie kann nicht schnell genug reagieren, um ihm die Hand rechtzeitig zu entziehen, also lässt sie ihn notgedrungen gewähren.

*

Gerd hat natürlich sehr wohl festgestellt, dass sie bei der ersten Berührung ihrer Wange zurückgezuckt ist. Jetzt stellt sich die Frage, ob dieses Zurückzucken ein Zeichen dafür ist, dass sie von ihm nicht berührt werden möchte, oder ist es vielmehr ein Zeichen dafür, dass sie von ihrem Mann geschlagen wurde und nun automatisch zurückzuckt sobald eine Hand sich ihrem Gesicht nähert.

Im zweiten Fall liegt das Problem ganz anders als im ersten. Nur will er sie im Augenblick nicht fragen. Es bleibt nur abzuwarten und auf weitere Anzeichen achten. Wenn diese eigenartige, launische Frau geschlagen worden ist, dann hat er ein langes Stück Arbeit vor sich, sie davon zu überzeugen, dass es auch Männer gibt, die ihre Frauen auf Händen tragen.

*

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht krank sind“, forscht er nun weiter. „Ihre Wangen glühen und Ihre Hände sind eisig kalt.“

„Das ist bei mir oft so“, behauptet Marianne frech, um weiteren Befragungen zu entgehen. Natürlich hätte sie eine Geschichte mit Kreislaufproblemen erzählen können, doch sie hat keine Lust dazu.

Sie kann nicht feststellen, ob er ihr glaubt oder nicht. Jedenfalls forscht er nicht weiter nach.

Wie aus dem Nichts taucht der Kellner auf, bringt ihnen die Speisekarte und fragt, ob sie vorab etwas trinken wollten.

Zuerst schüttelt Marianne den Kopf, doch dann fällt ihr ein, dass es sich in solch einem Restaurant vielleicht schickt vorab das Trinken zu bestellen. Deshalb bittet sie ganz einfach um Mineralwasser. Damit macht sie wenigstens nichts falsch.

Gerd hat keine Einwände. Er bestellt ein alkoholfreies Bier.

Sie sind zum Essen gekommen. Marianne öffnet die Karte und wirft einen Blick hinein. Hunger hat sie keinen. Bei der Vielzahl des Angebots, weiß sie nicht, was sie bestellen soll. Die horrenden Preise tragen das ihre zu Mariannes Zögern bei. Obwohl es ihr egal sein kann. Am besten bestellt sie nur einen Salat. Damit blamiert sie sich beim Essen am wenigsten.

Gerd bemerkt ihre Unentschlossenheit, denn er sagt: „Die Forelle kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Sie schmeckt ausgezeichnet. Der Fisch wird jeden Tag frisch angeliefert.“

An und für sich isst Marianne gerne Fisch, jedoch am liebsten als Filet, weil sie die Gräten nicht herauszufischen braucht. Schließlich will sie sich nicht in aller Öffentlichkeit die Blöße geben, dass sie nicht ordentlich Fisch essen kann.

„Na, ich weiß nicht“, sagt sie mit dünner Stimme, „ich habe nicht viel Hunger. Ich glaube, ein Salat tut’s auch.“

„Och, Marianne“, gibt er enttäuscht zurück, „nun hatte ich mich so auf das Abendessen mit Ihnen gefreut und jetzt geht es Ihnen nicht gut. Das tut mir wirklich Leid. Essen Sie wenigstens etwas Warmes. In Form von Suppe oder so?“

„Mit Suppen bin ich nicht gut Freund“, klärt Marianne ihn auf. „Ich weiß nicht. Ich bin heute so unentschlossen.“ Marianne braucht ihm ja nicht zu erklären, dass sie das immer ist. Es geht ihn nichts an. Bemerken wird er das nie, da sie ihn heute das letzte Mal sieht.

„Wissen Sie was“, meint er nun, „mögen Sie Fisch?“

„Na, ja eigentlich schon“, gibt sie zögernd zu. Wieder eine ihrer Schwankungen.

„Gut, dann bestellen wir die Forelle für Sie“, legt er fest. „Das ist leicht und warm ist es auch. Dazu essen Sie Ihren Salat. Wir bestellen noch Salzkartoffeln. Was halten Sie davon?“

„Ehrlich oder unehrlich?“, forscht Marianne nach und lächelt zum ersten Mal an diesem Abend.

„Selbstverständlich ehrlich“, lächelt er freundlich zurück. „Langsam scheinen Ihre Lebensgeister doch noch zu erwachen. Also was ist?“

„Ehrlich gesagt fände ich es gut“, gesteht sie, „aber ich mag die Gräten nicht. Nachdem ich an einer Gräte beinahe erstickt wäre, habe ich eine Phobie mit Fisch.“ Das ist noch nicht einmal gelogen! „Also lieber keinen Fisch, sondern etwas Pflegeleichtes bitte.“

„Aber weshalb haben Sie das nicht gleich gesagt?“, gibt er erleichtert und verständnisvoll zurück, „dann lassen wir den Fisch eben vorab filetieren. Was meinen Sie wie viele Leute Ihren Fisch nicht selbst am Tisch zerlegen wollen?“

„Ja, gut, danke“, man sieht Marianne die Erleichterung an.

„Marianne, Sie brauchen nicht immer so verschüchtert und verängstigt zu sein“, beruhigt er sie. „Es beißt Ihnen niemand den Kopf ab, dafür werde ich schon sorgen. Ich werde auf Sie aufpassen.“

„Ich möchte aber keinen Aufpasser“, gibt sie schroff und eigensinnig zurück. „Schließlich bin ich erwachsen und passe selbst auf mich auf. Ich habe jahrelange Übung darin.“ Noch so eine Lüge! Nimmt das denn nie ein Ende?

Kaum taut sie ein wenig auf und Gerd versucht einen kleinen, nur ganz leicht, anzüglichen Scherz zu machen, kehrt sie die Kratzbürste heraus. Es ist wirklich nicht einfach mit ihr. Er muss trotzdem versuchen an dieser Oberfläche zu kratzen, um zu sehen, was darunter hervorkommt. Interessant wird es, so viel steht fest.

„Entschuldigen Sie“, meint er geknickt, „ich wollte Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten. Sie hatten mir ja erzählt, dass sie sich die letzten Jahre tapfer alleine, das heißt, mit Ihren Kindern durchs Leben schlagen mussten. Ich hatte nur gemeint, Sie können sich hilfreich auf mich stützen, wenn Sie das möchten.“

Bevor Marianne etwas erwidern kann, erscheint der Kellner und nimmt ihre Bestellung entgegen. Gerd erklärt ihm, was sie ausgewählt haben und bestellt einen halben Liter Weißwein. Und ihr hat er erzählt, dass er keinen Alkohol trinkt, wenn er Auto fährt. Was soll das nun wieder? Na ja, egal! Sie wird schon heil nach Hause kommen.

Dann geht der Kellner weg und sie sind wieder auf sich gestellt. Ihre Schuhe drücken fürchterlich. Sie sitzen in einer Ecke. Marianne zieht die lästigen Treter aus und stellt ihre Füße darauf ab. So können sie nicht versehentlich weg geschoben werden. Das ist ihr schon einmal passiert, als sie auf ihre Schuhe unter dem Tisch nicht aufgepasst hat. Damals musste sie tatsächlich unter dem Tisch herumkriechen, um ihre Schuhe zu ausfindig zu machen. Ach, wie war Franzi sauer auf Marianne und ihre Dummheit.

Als sie ihre Schuhe abgestreift hat, sagt Marianne zu Gerd: „Hören Sie mir bitte gut zu, Gerd. Ich habe leider den Eindruck, dass Sie sich in etwas hineinsteigern, was überhaupt nicht bestehen kann und wird. Schon vorgestern habe ich Sie darauf hingewiesen, dass ich mich auf nichts einlassen werde. Wenn ich Sie bis dahin nie angerufen habe, dann doch sicherlich, weil ich mich eben von Ihnen fernhalten und Sie nicht mehr treffen möchte. Und, wenn ich das für mich entschieden habe, dann müssen Sie es verdammt nochmal auch akzeptieren. Was wollen Sie von mir? Wir haben nicht das gleiche Alter, leben offensichtlich nicht in den gleichen Kreisen, werden nie die gleichen Freunde haben. Und dass Sie nur aus Nächstenliebe den guten Samariter spielen wollen, das können Sie jemand anderem erzählen. Bei mir zieht das nicht. Wir essen heute Abend zusammen und dann wird ein Schlussstrich gezogen. Das bedeutet: Schluss, aus, vorbei! Basta! Finito la musica. Verstehen Sie das?“

Betroffen schaut er sie an. Er nimmt einen Schluck aus seinem Bierglas und blickt sie über das Glas hinweg schweigend an.

*

Jetzt hat Marianne ihm klipp und klar die Meinung gesagt. Er kann es immer noch nicht glauben, aber es sieht wirklich so aus, als ob sie nicht zu bewegen wäre, ihren Standpunkt überdenken. Wie kann er es anstellen, damit sie sich wenigstens ab und zu mit ihm trifft. So wie die Dinge jetzt liegen, ist das nicht mehr der Fall. Was hat sie bewogen, die harte Linie zu fahren? Eigentlich schade für sie beide, doch vielleicht hat sie wirklich Recht und Gerd hat sich damit abzufinden. Hat er sich nur in etwas verfahren?

Nach einer Weile sagt er schließlich: „Marianne, Sie machen sich nur etwas vor. Das wissen Sie auch. Wenn ich mich mit Ihnen treffen will, dann ist das sicherlich kein Samariterdienst, sondern, weil ich weiß, dass Sie im Grunde genommen genauso denken. Weshalb hätten Sie sonst diese Einladung akzeptiert? Im Augenblick wissen Sie nicht so recht, was sie wollen. Lassen Sie sich doch ein wenig gehen. Das würde Ihnen gut tun.“

„Sie sind ja gar nicht von sich eingenommen“, erwidert Marianne prompt ärgerlich. „ Woher wollen Sie wissen, was mir gut tut und was nicht? Wie können Sie sich einbilden, dass Sie alles wissen und über andere bestimmen können. Sind Sie allwissend?“

„Nein, Marianne, Sie verstehen mich falsch“, versucht er sich zu rechtfertigen, „Ich möchte mich nicht aufdrängen. Lassen Sie es gut sein. Essen wir gemütlich miteinander und freuen wir uns darüber, dass wir hier zusammensitzen. Alles andere ist doch Nebensache.“

Der Kellner bringt den Wein und zwei Gläser. Marianne hatte nicht vor Alkohol zu trinken, doch inzwischen kommt sie zu der Überzeugung, dass sie anders den Abend nicht übersteht. Also lässt sie sich bereitwillig ein Glas Wein einschenken.

Gerd prostet ihr zu. Sein halbvolles Glas Bier steht noch da. Na, das wird ein Durcheinander geben, wenn er jetzt Bier und Wein und Wein und Bier trinkt. Als der Kellner jedoch nochmals kommt, um Marianne das Fischbesteck zu bringen, gibt ihm Gerd das Bierglas mit. Hat Marianne ihm seinen Aperitif vermiest?

Der Wein schmeckt ausgezeichnet. Richtig süffig und folglich auch gefährlich. Es ist sicherlich besser, wenn sie zwischendurch Wasser trinkt.

„Schmeckt Ihnen der Wein?“, will Gerd plötzlich wissen.

„Ja, sehr gut sogar, danke“, gibt Marianne artig und ehrlich zu.

„Na, das freut mich aber“, meint er scheinbar wieder gut gelaunt, „wenn ich nicht alles falsch gemacht habe. Mir wurde bange bei dem Gedanken, dass ich heute zu nichts fähig bin.“

Ihren Wutausbruch von vorhin bedauert sie inzwischen. Er bemüht sich redlich Dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will, ist nicht seine Schuld. Im Grunde genommen ist er ein netter Kerl, aber er erscheint zur falschen Zeit. Sie muss sich zuerst von Franzi befreien und sehen, wie sie ihr neues Junggesellenleben einrichtet, bevor sie sich mit jemandem binden will. Aber das alles sind Dinge, die Marianne Gerd nicht erzählen kann und will. Vor allem aber nicht kann!

„Gerd, bitte entschuldigen Sie meinen Ausbruch von vorhin“, versucht sie freundlich zu sein, „aber ich kann Sie im Augenblick nicht mehr treffen. Ich habe wirklich schon zu viele Schwierigkeiten in meinem Leben, als dass ich noch mehr um die Ohren brauche. Bitte verstehen Sie das. Es hat nichts mit Ihnen zu tun, sondern mit mir ganz alleine. Fragen Sie auch nicht näher. Sie werden von mir keine Antwort oder weitere Erklärung erhalten. Ich muss das alleine durchstehen.“

Noch während sie mit ihm spricht, nimmt er ihre Hand und sieht sie traurig an. Nach einem kurzen Augenblick sagt er: „So wenig Vertrauen haben Sie also. Gut, ich werde Ihnen Zeit lassen. Aber ich sage Ihnen gleich, ich werde Sie nicht vergessen.“

In diesen traurigen und dramatischen Augenblick hinein bringt der Kellner das Essen, das schön auf den Tellern angerichtet ist. Doch Marianne hat keinen Hunger mehr.

„Guten Appetit“, wünscht sie Gerd trotzdem.

„Das wünsche ich Ihnen auch“, gibt er zur Antwort und scheint mit gutem Appetit seinen Teller zu bearbeiten. Lässt sich dieser Mann denn durch nichts aus der Ruhe bringen?

Als Marianne ihm beim Essen zusieht, bekommt sie wieder Lust auf die Forelle und ehe sie sich versieht, hat sie alles aufgegessen. Die Unterhaltung tröpfelt locker dahin.

„Na“, erkundigt er sich schließlich, „hat es Ihnen geschmeckt?“

„Ja, wirklich ausgezeichnet“, gesteht Marianne ehrlich, „Sie haben mich gut beraten. Danke vielmals.“

„Na, sehen Sie“, fühlt er sich bestätigt, „möchten Sie einen Nachtisch?“

„Nein, ehrlich“, dabei hält sie sich den flachen Bauch, „ich kann nicht mehr. Es war zu gut.“

„Was halten Sie davon“, schlägt er vor, „wenn wir uns auf einen Nachtisch einigen, den wir uns teilen? Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit mir von einem Tellerchen zu essen.“

„Ja, einverstanden. Schlagen Sie vor“, fordert Marianne ihn auf.

„Wir lassen uns die Karte nochmals bringen.“

Der Kellner serviert ab und erkundigt sich, ob es geschmeckt hat. Beide bejahen eifrig und Gerd bittet um die Karte für den Nachtisch.

Ehe sie sich versieht, hat er ihr ein zweites Glas Wein eingeschenkt. Dabei ist ihr das Erste schon zu Kopf gestiegen. Jetzt muss sie sich ganz besonders zusammenreißen, damit kein Unheil geschieht.

Der Kellner reicht Marianne die Karte und geht wieder. Marianne öffnet sie erst gar nicht, sondern schiebt sie Gerd zu. Er soll auswählen, was wieder einmal für ihre Unentschlossenheit spricht.

„Was möchten Sie. Werfen Sie doch einen Blick in die Karte“, fordert er sie auf.

Gehorsam nimmt Marianne die Speisekarte wieder zu sich. Sie stellt fest, dass das Angebot an Desserts reichhaltig ist.

„Essen Sie lieber Eis oder Mousse au Chocolat oder Kuchen?“, will er wissen.

Sie wirft ihm über die Speisekarte einen raschen Blick zu.

„Was mögen Sie denn lieber“, kontert sie. Schließlich soll er auch seine Meinung dazu geben.

„Eis esse ich auch gerne“, gesteht Marianne. „Die heißen Himbeeren passen so herrlich zum Vanilleeis.“

„Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht eine Portion für sich alleine haben wollen?“, vergewissert er sich.

„Ganz sicher.“

„Gut, dann also einmal Eis mit zwei Löffeln, einverstanden?“, will er nochmals wissen.

„Ja, gern“, sagte Marianne nur.

*

Gerd stellt fest, dass die zwei Gläser Wein Marianne schon ein wenig beschwipst haben. Diese Situation hätte er ausnützen können, doch das kommt nicht infrage. Für ihn steht fest, dass sie erstens nicht viel Alkohol verträgt, auf der anderen Seite ist es ziemlich sicher, dass sie nur wenig Alkohol trinkt. Er registriert dies mit einer gewissen Genugtuung.

*

Erst jetzt, als Marianne zur Toilette gehen will, stellt sie fest, dass sie im Eifer des Gefechts die Füße von ihren Schuhen gehoben hat. Diese stehen nun nicht mehr in Reichweite ihrer Füße. Hektisch tastet sie mit den Füßen unter dem Tisch, jedoch ohne Erfolg. Sie muss wohl wieder einmal unter den Tisch kriechen. Oh, wie ist das peinlich! Was soll sie ihm erklären? Wieder fällt ihr Franzis Wut ein und ihr wird bange. Aber sie kann schlecht in Strümpfen zur Toilette gehen. Was ist jetzt peinlicher?

„Ist etwas?“ will Gerd wissen, dem Mariannes Hektik nicht entgangen ist.

Sie fühlt förmlich, wie sie rot wird, als sie schließlich ihr Missgeschick zugibt.

Ohne einen Vorwurf oder eine unangenehme Bemerkungen zwängt er unter den Tisch und schiebt Marianne die Schuhe in Reichweite ihrer Füße.

Als er wieder sitzt, lächelt er sie freundlich an und meint, dass es sicherlich die bequemste Lösung, ist die Schuhe während des Essens auszuziehen. Er wird sich das nächste Mal auch dafür entscheiden.

Nachdem sie sich einigermaßen von dem Schreck erholt hat, überlegt sie laut: „Dann sollten wir in Hausschuhen erscheinen.“ Sie lachen.

Nach dieser Bemerkung schlüpft Marianne mühselig in ihre Schuhe und geht rasch zur Toilette. Ihr Gesicht ist heiß und im Spiegel entdeckt sie ihre roten Wangen. Der Wein hat seine Wirkung getan und ist ihr zu Kopf gestiegen. Kein Wunder, sonst trinkt sie kaum Alkohol.

*

Gerd weiß, dass Marianne diesmal keine Fluchtgedanken hegt und wartet ruhig und zufrieden auf ihre Rückkehr.

Als sie wieder an den Tisch zurückkehrt, erwartet er sie freudestrahlend. „Gerade habe ich unseren Nachtisch bestellt“, erklärt er Marianne. „Möchten Sie noch einen Schnaps oder Likör zur Verdauung? Oder vielleicht Kaffee?“

„Nein, danke“, lehnt sie sofort ab.

„Gut“, antwortet er und, „möchten Sie noch Tanzen gehen oder sonst wohin?“

„Nein“, sagt Marianne unverzüglich, „ich bitte Sie, mich nach Hause zu bringen.“

„Einverstanden“, er diskutiert nicht weiter.

Nun sitzen sie am Tisch und warten auf den Nachtisch. Marianne selbst weiß nicht wie sie die Unterhaltung wieder ankurbeln soll, also schweigt sie und spielt ihm den Ball zu. Mal sehen was ihm als nächstes einfällt.

Lange hält er die Stille nicht aus und fragt: „Wann werde ich Sie wieder sehen?“

Weshalb lässt er nicht locker? Marianne hat ihm doch gesagt, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte. Also muss sie ihm die Erklärung eindringlicher beibringen.

„Gerd“, sagt sie deshalb, „ich habe Ihnen doch schon erklärt, ich will mich nicht mehr mit Ihnen treffen. So wie ich Ihnen auch schon erklärt habe, dass ich keine Lust habe, irgendeine Erläuterung abzugeben. Verstehen Sie denn kein Deutsch?“ Das ist zwar sehr unhöflich und sie bedauert es, doch anders scheint er es nicht zu begreifen. Marianne hat keine Lust, sich zu einem weiteren Treffen breitschlagen zu lassen.

„Gut“, gibt er klein bei, „dann lassen wir es dabei. Schade! Aber den Nachtisch essen wir schon noch zusammen?“

„Ja“, antwortet Marianne nur. Irgendwie tut er ihr Leid, aber sie kann es nicht ändern. Der Augenblick ist denkbar ungünstig.

Wieder tritt ein Schweigen ein, in das der Kellner ihren Nachtisch bringt. Gerd lässt ihn vor Marianne stellen, doch sie bittet ihn mit dem Essen zu beginnen. Schließlich einigen sie sich darauf, die Schale in die Mitte zu stellen, einen Teil der Himbeeren darüber zu gießen und gemeinsam mit dem Essen zu beginnen. Jedes Mal, wenn Gerd sich einen Löffel in den Mund schiebt, schaut er Marianne darüber hinweg an. Er lächelt. Was plant er? Sie muss weiterhin auf der Hut sein.

Bald ist der Nachtisch verspeist. Gerd lässt die Rechnung kommen und bezahlt. Ob das auf Geschäftskosten läuft, schießt es Marianne durch den Kopf. Es geht sie nichts an. Das ist nur so ein Gedanke. Vielleicht wartet zu Hause sein Frauchen auf ihn und er hat sie ebenso belogen, wie Marianne ihn schon von Anfang an täuscht.

Wie sie bemerkt, gewährt er ein stattliches Trinkgeld. Wer hat der kann, denkt Marianne bei sich. Dies ist definitiv nicht ihre Welt. So viel steht fest.

Beide erheben sich, holen ihre Mäntel, beziehungsweise Mariannes und gehen an die frische Luft. Es tut gut, sich die kühle Luft um die Nase wehen zu lassen.

Gerd führt Marianne zum Auto, hält ihr wieder den Wagenschlag auf, geht zur Fahrerseite, steigt ein und startet wortlos den Wagen.

Sie fahren direkt zu Marianne nach Hause. Als sie vor dem Haus ankommen, parkt er auf dem gleichen Platz wie vorhin. Er erwartet nicht mit in die Wohnung zu kommen. Doch da sagt er schon:

„Gehen Sie jetzt noch mit Mäxchen spazieren?“

„Ja, der wartet.“

„Gut“, beeilt er sich zu sagen, „dann begleite ich Sie, damit Sie nicht überfallen werden. Ich würde mir nie verzeihen, wenn Ihnen etwas zustößt.“

„Das ist nicht nötig“, versucht Marianne abzulehnen, „ich bin es gewöhnt. Jeden Abend gehe ich mit Mäxchen Gassi. Er ist mein Beschützer.“

„Sind Sie sicher, dass er Sie im Notfall beschützt“, fragt Gerd zweifelnd.

„Einen Notfall gab es bislang noch nicht.“ Marianne schmunzelt.

„Wenn ich mit Ihnen gehe, bestimmt nicht“, meint er trocken und entschieden.

„Also, dann hole ich Mäxchen jetzt“, gibt sie scheinbar willenlos nach und um weiteren Hoffnungen Einhalt zu gebieten, fügt sie sofort hinzu: „Aber ich kann Sie nicht zu mir einladen.“

„Marianne!“, gibt er sich überrascht. Ob ehrlich oder nicht, entzieht sich ihrer Kenntnis. „Das habe ich doch gar nicht erwartet.“

Schnell geht sie in die Wohnung und holt ihr armes Mäxchen. Zum Glück ist er das Alleinsein gewöhnt und heult nicht ständig. Marianne tauscht die Schuhe gegen bequeme und zieht Mäxchen das Halsband und die Leine an. Schon springt er freudig zur Tür hinaus. Beinahe hätte sie in der Aufregung den Wohnungsschlüssel vergessen. In letzter Sekunde, bevor sie die Tür zuschlägt, greift sie zum Telefontisch und schnappt sich den Schlüsselbund.

Gerd wartet artig vor der Tür. Mäxchen scheint leider einen guten Draht zu ihm zu haben, denn er begrüßt seinen neuen Freund freudig. Und das, obwohl er ihn nur einmal gesehen hat.

„Sehen Sie“, meint er lachend, „Ihr Hund weiß, wer es gut mit Ihnen meint. Ihre Kinder haben hoffentlich schon geschlafen“, forscht er nach. Ach, die Kinder hat Marianne vergessen. Stimmt ja, sie hat auch noch zwei Kinder. Wie kann sie plausibel erklären, dass sie so schnell wieder unten war? Am besten sie sagt gar nichts, solange sie nicht weiter gefragt wird.

Also erwidert Marianne nur: “Ja, zum Glück waren sie ziemlich müde. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich abends nicht bei ihnen bin. Aber das kommt nur selten vor.“ Ha ha ha, in was verstrickt sie sich nur?

Mäxchen zieht entschieden in die Richtung, in die er zu gehen wünscht. Sie folgen ihm artig. Zum Glück regnet es nicht. Nur der Gehsteig ist noch nass.

Wie selbstverständlich zieht der Hund auf den verlassenen Parkplatz, von dem er weiß, Marianne lässt ihn von der Leine.

Während Mäxchen sein Hundeleben lebt, stehen Marianne und Gerd wie verlassen da und warten auf ihn. In diese Stille hinein sagt Gerd schließlich:

„Bitte, Marianne, ich möchte Sie gerne wiedersehen. Und ich konnte heute Abend die Gewissheit gewinnen, dass Sie zwischen zwei Stühlen sitzen. Sie sind hin- und her gerissen. Setzen Sie sich doch einfach auf den Stuhl, der es Ihnen ermöglicht mich ab und an zu treffen.“

Man kann sagen, er hat die Angelegenheit richtig durchleuchtet, doch Marianne darf es nicht zugeben. Zumindest die nächste Zeit nicht. Deshalb muss sie hart bleiben. Franzi steht im Weg.

„Ach, Gerd“, winkt sie seufzend ab, „was soll das denn? Geben Sie sich denn nie geschlagen oder mit dem zufrieden, das Sie bekommen können?“

„Manchmal ja, aber nicht in diesem besonderen Fall“, zeigt er sich entschlossen.

„Sie bringen mich noch zur Verzweiflung“, sagt sie und hebt, um ihre Verzweiflung zu unterstreichen, die Schultern. Doch im Dunkeln kann Gerd das bestimmt nicht erkennen.

„Das möchte ich wirklich nicht“, gibt er betreten zurück. „Also, ich werde Sie nicht mehr sehen, wenn Sie das beruhigt. Zumindest die nächsten Tage nicht.“

Im Augenblick hat sie keine Lust darauf zu antworten. Zum Glück kehrt Mäxchen zu ihnen zurück. Sie hängt ihn wieder an die Leine und gemeinsam kehren sie schweigend zum Haus zurück. Unentschlossen stehen sie vor seinem Auto, bis Marianne sagt:

„Also dann, nochmals vielen Dank für das gute Essen und den netten Abend. Kommen Sie gut nach Hause und gute Zeit, Gerd.“

„Ja, Marianne“, beginnt er, „das ist wohl das Ende einer kurzen Idylle. Schade! Hoffentlich treffen wir uns wieder einmal. Vielleicht radeln Sie noch einmal in die gleiche Richtung wie ich und wir werden wieder nass.“ Dabei streichelt er nochmals kurz ihre Wange, steigt ins Auto, startet den Wagen und fährt weg. Diesmal wartet er nicht, bis sie die Haustür hinter sich schließt. Kein Wunder bei der Enttäuschung!

In Gedanken versunken steigt sie mit Mäxchen die Treppe zur Wohnung hoch. Gemächlich zieht sie sich aus und duscht. Vielleicht fühlt sie sich danach besser. Anschließend legt sie sich ins kalte Bett. An Schlaf ist wieder einmal nicht zu denken.

In nächster Zeit bleibt das Bett wohl des Öfteren leer und kalt, wenn sie unter die Federn kriecht. Spätestens, wenn die Trennung mit Franzi vollzogen ist. Sie kann sich schon jetzt daran gewöhnen.

Auf der einen Seite sind ihre Gedanken bei Gerd und dem unglückseligen Abend, auf der anderen Seite muss sie daran denken, wie sie sich an diesem Wochenende wieder mit den Franzis Nörgeleien auseinanderzusetzen hat. Der Gedanke stimmt sie traurig.

Erneut fällt sie erst spät in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie völlig gerädert aufwacht.

*

Gerd ist sehr enttäuscht über den Ausgang des Abends. Er weiß, es würde schwer werden Marianne zu überreden, doch dass sie ihn schlicht und einfach von sich weist, ihn nach Hause schickt und es ihm geradezu verbietet, sie nochmals zu treffen, das ist zu viel. Er kann es nicht glauben. Soll er sich damit wirklich abfinden?

Nun ist es an der Zeit einen neuen Schlachtplan auszuhecken. Nur welchen? Im Augenblick ist sein Kopf völlig leer. Ja, er muss Gras über die Angelegenheit wachsen lassen. Eine Zeit der Abstinenz ist angesagt.

Bestimmt ist es sogar besser, er lässt ein paar Wochen verstreichen und läuft ihr wie zufällig auf der Straße über den Weg. Dann kann er sie ansprechen. Nur, wie wird er es so lange aushalten, ohne sie zu sehen? Er hat gehofft, nun endlich jemanden gefunden zu haben, der wieder Leben in sein leeres Haus bringt, doch dieser Wunsch erfüllt sich in der nächsten Zeit leider nicht.

Das Leben geht trotzdem weiter. Im Augenblick ohne Marianne, deren Kinder und dem Hund.

Liebesblues

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