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5. Kapitel

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Hätte Großmutter mir die Felsspalte nicht gezeigt, ich wäre glatt vorbeigeflogen. Etwa dreißig Meter über uns war das kleine V zu sehen, von dem sie gesprochen hatte. Die Felsen ragten hier fast senkrecht in den Himmel. Die Spalte begann dort oben und endete mehrere Meter unterhalb von uns. Sie war höchstens achtzig Zentimeter breit und verjüngte sich nach unten. Ich konnte nur ein paar Meter weit hineinsehen, dann wurde es dunkel. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie irgendwo hinführen könnte. Das war der bestgetarnte Eingang, den ich mir vorstellen konnte. Besser als in jedem Abenteuerfilm.

Da hinein, hörte ich in meinem Kopf. Du musst langsam fliegen, es geht ein paar Mal um die Ecke.

Bleibt es so schmal?

Ja, aber es wird auch nicht schmaler.

Wie lange fliegen wir?

Eine Weile.

Na prima. Ich stellte fest, dass ich nicht so mutig war, wie ich immer gedacht hatte.

Keine Angst. Die Felsen rücken nicht zusammen, während wir durchfliegen. Keinem Lintu ist jemals etwas passiert. Im Gegenteil, sie schützen uns.

Okay.

Ich holte tief Luft und schwebte hinein. Nach kurzer Zeit herrschte Finsternis um uns herum. Kein Lichtstrahl drang von oben herab. Trotz angestrengten Starrens konnte ich auch nicht mehr erkennen, wo die Spalte sich oben öffnete. Gegen die Schwärze waren sogar meine Nachtsichtaugen machtlos. Ich musste meine anderen Sinne benutzen, wenn ich vorwärts kommen wollte. Großmutter lag still auf meinem Rücken. Kein Mucks war von ihr zu hören. Ich lauschte in die Dunkelheit und versuchte gleichzeitig, die Wände links und rechts von mir zu spüren. Solange es geradeaus ging, war ja alles in Ordnung, aber wenn eine Kurve käme, wollte ich nicht an die Felswand brummen. Mit weit aufgerissenen Augen und Ohren schwebte ich langsam vorwärts. Nach einer Weile schärfte sich meine Wahrnehmung. Von den Felswänden ging ein eigener Geruch aus. Die Temperatur der Wände war geringfügig anders als die der Luft, die von vorn kam. Ein kaum spürbarer Zug bewegte die Luft in der Mitte der Spalte stärker als direkt an den Felswänden. Bald bemerkte ich weit im Voraus, wann es um die Ecke ging. Keine Ahnung, mit welchem Sinn ich das wahrnahm. Es kam mir vor, als hätte ich unsichtbare Fühler, die die Umgebung vor mir abtasteten.

Langsam formte sich aus all den Details eine Art Bild vor meinem inneren Auge, ich bekam ein Gespür für die Dimension dieser Felsspalte. Sogar die Zeit, die wir bis hierher gebraucht hatten, wurde in eine Längenangabe über den Weg umgewandelt. Das machte mich etwas mutiger und ich erhöhte das Tempo. Meine Wahrnehmung erweiterte sich noch immer. Ich konnte mich an keine Situation erinnern, in der ich so verschiedene, eher schwache Eindrücke zu einem so verlässlichen Bild hatte formen können. Dann plötzlich eine neue Information, der Luftzug nahm zu. Wir mussten uns dem Ausgang nähern. Vor mir sah ich einen schwachen Lichtschein, der sehr schnell heller wurde – und dann waren wir draußen.

Das Tal war – anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Es hätte ein weites, sonnenbeschienenes Tal mit üppiger Vegetation sein sollen. In jedem Fantasyfilm, zumal, wenn es durch einen engen Eingang ging, durfte man einen solchen Anblick erwarten. Das hier war Realität. Nicht schlechter, nur eindeutig anders. Das Tal war schmal, die hohen Felswände links und rechts ließen es eher wie einen Canyon aussehen, obwohl es keine Anzeichen für ein Flussbett gab. Die Talsohle wurde wahrscheinlich nur in der kurzen Mittagszeit von der Sonne beschienen. Jetzt, zur frühen Morgenstunde, war das Tal schattig und kühl. Es gab eine Reihe weit auseinanderstehender Bäume, Pinien, so wie es aussah. Sie hatten mächtige Stämme und Kronen und waren sehr hoch. Ich bezweifelte, schon jemals so hohe Pinien gesehen zu haben. Ob sie dem Sonnenlicht entgegengewachsen waren? Außer diesen Bäumen war keine erkennbare Vegetation vorhanden. Ich konnte Vögel zwitschern hören, eine laue Brise wehte, sonst war es still. Ja, dieses Tal war ein guter Ort, um seine Toten zu bestatten. Unsere Toten. Eine in sich ruhende Komposition der Elemente. Hier konnte der letzte irdische Weg ruhig und klar begangen werden.

Großmutter?

Ja, wir haben es geschafft. Flieg zu dem Baum am hinteren Ende des Valle. Dort habe ich Simóns Amulett aufgehängt.

Ich flog langsam. Alle Eile war draußen, in der Welt vor der Felsspalte, zurückgeblieben.

Obwohl die Bäume wirklich groß waren, reichten sie nicht bis an den Rand des Tals hinauf. Der Kamm lag viele Meter weiter oben. Hier waren wir wirklich geschützt. In den Baumkronen konnte ich die Plattformen erkennen. Sie waren zwischen die Äste geflochten. Daneben, an den unteren Ästen, hingen die Amulette. Am letzten Baum stellte ich mich mit Großmutter in die Luft, damit sie die Amulette anschauen konnte. Großmutter bewegte sich nicht, sie schickte das Bild von Simóns Amulett in meinen Kopf. Ich machte mich auf die Suche. Auf den Anhängern waren verschiedene Tiere dargestellt, wunderschön verziert. Die Amulette waren alle aus dem gleichen Material. Es schien eine Art Metall zu sein, das ich nicht kannte und das offensichtlich alterungsbeständig war. Sie wirkten alle, als seien sie eben erst aufgehängt worden. Simóns Amulett bildete einen Wolf ab.

Ich habs gefunden.

Zeig es mir.

Ich spürte, dass sie nicht mehr viel Kraft hatte. Sie würde es wohl kaum mit den Augen ansehen wollen, so wenig wie sie in der Lage gewesen war, selbst nach dem Amulett zu suchen. Also betrachtete ich es und schickte ihr das Bild.

Das ist das Amulett von Simón. Der einsame Wolf. Wölfe sind eigentlich Rudelwesen, doch ab und zu gibt es einen, der sich allein aufmachen muss. Sie schwieg einen Augenblick. Bring mich jetzt zur Plattform.

Die Plattform war aus weichen Seilen kunstvoll zwischen mehrere Äste geflochten. Sie machte einen stabilen Eindruck, obwohl es doch Jahrzehnte her sein musste, dass sie benutzt worden war. Es schien hier keine großen Wettereinflüsse zu geben, die das Material geschwächt hätten. Ich krallte mich von unten in das Geflecht und gab kurz den Schwebezustand auf, um mit meinem Gewicht zu prüfen, ob sie uns aushalten würde. Großmutter wurde sofort schwächer. Damit hatte ich zwar gerechnet, aber es schockierte mich doch und ich beeilte mich, in den Schwebezustand zurückzukehren. Wir würden uns früh genug trennen müssen. Dann schwebte ich hinauf und legte mich mit ihr auf die Matte. Eine lange Zeit rührte ich mich nicht. Warum konnte ich nicht einfach immer so liegen bleiben? Ich fürchtete mich davor, sie loszubinden.

Elli?

Ja?

Lass mich jetzt gehen.

Warum?

Ich habe keine Kraft mehr. Der Schwebezustand zögert das Ende nur hinaus. Es ist jetzt so weit.

Wirklich?

Du weißt es.

Ja.

Wenn du mich losgebunden hast, hol mir das Amulett von Simón.

Okay.

Behutsam machte ich mich an die Arbeit. Die Knoten waren fest, die meisten musste ich mit dem Taschenmesser aufschneiden. Während ich sie löste, achtete ich sorgfältig darauf, den Körperkontakt nicht zu verlieren. Gab Großmutter alles an Kraft, was ich erzeugen konnte, bettete sie vorsichtig auf die zerschnittene Decke. Dann spähte ich nach dem Amulett, berührte sie nur noch mit meinen Beinen. Brachte mich in Position und schoss auf dem kürzesten Weg nach unten. Schnappte das Amulett im Sturzflug und war wie der Blitz zurück. Großmutter hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Ihre Wunde blutete wieder. Ich berührte sie. Die Verbindung entstand nicht mehr von allein. Erst, als ich mich ganz auf sie konzentrierte, ließ sie sich wieder herstellen. Großmutter war sehr schwach, ich konnte sie kaum noch wahrnehmen.

Großmutter?

Sie hatte mich gehört, antwortete aber nicht.

Hier ist das Amulett.

Ich nahm ihre Hände und legte es hinein. Spürte, wie sie sich sammelte. Nach einer Ewigkeit hörte ich endlich ihre Stimme in meinem Kopf. Sie sprach sehr langsam.

Leg das Amulett an. Es wird dir Kraft geben auf deinem Weg, den du noch eine Weile allein gehen musst. Unser allmächtiger Schöpfer gebe, dass du neue Gefährten findest.

Aber es gehört zu dir und Simón.

Mach meine Bluse auf.

Ich sparte mir eine dumme Nachfrage und öffnete die obersten Knöpfe ihrer Bluse. Doch da war nichts.

Weiter unten.

Vorsichtig knöpfte ich die Bluse ganz auf. Achtete darauf, den Stoff über ihrer Wunde nicht zu bewegen. Um ihre Taille lag ein Amulett. Es zeigte einen Wolf, wie das von Simón.

Wir werden immer verbunden sein. Leg Simóns Amulett jetzt um.

Ich zögerte noch.

Es ist für dich bestimmt. Du hast das gleiche mutige Herz wie er. Wenn die Zeit gekommen ist, gib mein Amulett an deine Schwester weiter.

Okay.

Ich nahm das Amulett aus ihren Händen und legte es um meine Taille. Das Band war so gearbeitet, dass es sich mühelos an meine Größe anpassen ließ. Glatt und kühl lag das Amulett auf meiner Haut. Es war weniger schwer als es aussah. Ich hatte das Gefühl, gerade meine zweite Initiation zu erleben.

Es wird dich beschützen. Großmutters Stimme wurde immer schwächer. Schau mich an.

Ich blickte in ihr liebes faltiges Gesicht. Sie öffnete die Augen und sah mich an. Wo nahm sie jetzt noch all die Wärme her, mit der sie mich betrachtete?

Ich gehe jetzt. Leb wohl, meine tapfere Elli. Sie schloss die Augen wieder.

Leb wohl, Großmutter. Grüße Simón von mir. Und hol mich ab, wenn ich so weit bin.

Das werde ich. Aber komm nicht so schnell. Du hast noch ein Leben zu leben.

Ich blieb stumm. Hielt ihre Hand, schickte ihr all meine Liebe, umhüllte ihren müden Körper und ihren schwindenden Geist.

Ihre Schwingungen wurden immer schwächer.

Und dann – plötzlich – war sie weg.

Und ich …

saß neben ihr.

Hielt ihre Hand.

Sah sie an. Sah ihren Körper an.

Starrte.

Saß.

Hielt ihre Hand.

Starrte.

Schloss die Augen.

Atmete.

Weinte.

Saß.

Weinte. Heulte.

Hielt ihre Hand.

Heulte. Wie der Wolf auf meinem Amulett. Unserem Amulett.

Legte mich neben sie.

Weinte.

Wollte nie mehr aufstehen.

Hörte auf zu weinen.

Rührte mich nicht mehr.

Die Sonne wanderte über den Himmel.

Ich lag.

Es war heiß. Schweiß lief mir übers Gesicht.

Es wurde dunkel.

Ich rührte mich nicht.

Der Mond ging auf und wieder unter.

Ich starrte.

Rührte mich nicht.

Es wurde hell.

Ich rührte mich nicht.

Konnte nichts tun.

In mir war alles leer.

Keine leere Leere. Eine dichte Leere.

Da, wo ihre Schwingungen gewesen waren, war es jetzt dicht.

Wie Stein. Wie Fels. Wie das Gebirge um mich herum.

Alles in mir drin – dicht. Und leer.

Ihre Schwingungen fehlten.

Also lag ich.

Rührte mich nicht.

Wartete.

Das konnte ich tun. Warten.

Keine Ahnung worauf.

Einfach warten.

Auf einen Impuls vielleicht. Eine Idee. Eine Regung.

Irgendetwas, das die Leere füllte.

Das die Dichte weniger dicht machte.

Das – lebte.

Die Sonne wanderte über den Himmel.

Ich lag.

Wartete.

Die Vögel zwitscherten.

Grillen zirpten nicht. Es gab keine Grillen hier. Es gab Vögel hier.

Und Stille.

Und sie.

Ich drehte mich um zu ihr.

Starrte sie an.

Wollte meine Hand heben, sie streicheln. Konnte nicht.

Konnte nur liegen.

Und warten.

Die Vögel gaben den Ausschlag.

Nicht die kleinen. Die großen. Die über uns am Himmel kreisten.

Auch sie warteten.

Auf mich.

Ich sollte sie freigeben. Ihren Körper zur Verfügung stellen.

Als Nahrung.

Im großen Kreislauf des Lebens.

So, wie sie es gewollt hatte.

Ich sah sie noch einmal an.

Rollte mich zur Seite.

Über den Rand der Plattform hinaus.

Ließ mich fallen.

Fiel.

Schnell.

Der Baum war hoch, aber doch nicht so hoch.

Fiel zu schnell, um nachzudenken.

Genau das wollte ich.

Ich wollte die Entscheidung.

Sah den Boden auf mich zurasen.

Ging in den Schwebezustand, kurz bevor ich aufgeschlagen wäre. Hatte immer noch die Wahl zu landen und liegen zu bleiben, bis ich gestorben war, oder zu fliegen.

Ich flog.

Hoch zur Plattform zurück, aber mit Abstand. Die ersten Vögel landeten schon in der Krone, versuchten zur Plattform zu kommen. Ich flog hinauf und schrie. Schrie diese Vögel an, die den Körper meiner Großmutter fressen würden. Sie flatterten auf, drehten eine Runde, setzten sich wieder. Beäugten mich. Bewegten sich erneut auf die Plattform zu. Ich ließ sie gewähren. Es war richtig so. Ich musste sie freigeben. Eine Weile blieb ich noch in der Baumkrone hocken, behielt den Schwebezustand bei, versuchte, mich zu sammeln. Setzte meine Mütze ab, die ich seit Beginn unserer Reise getragen hatte. Horchte auf meinen Atem, spürte die Luft um mich herum, nahm das Licht auf, lauschte auf die Geräusche, empfand meine Gliedmaßen, den Leib, den Kopf. Ich musste hier weg, bevor die Vögel anfingen, den Körper meiner Großmutter in Stücke zu reißen. Das wollte ich nicht miterleben.

Es war später Nachmittag, dem Licht nach zu urteilen. Die Sonne war längst hinter dem Rand des Tals verschwunden. Eigentlich musste ich jetzt los, um die Nacht über der Ebene zu erwischen. Aber ich wollte noch nicht. Fühlte mich kraftlos. Hatte zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen. Nichts gegessen, nicht getrunken, auch kein Bedürfnis danach. Doch ich wusste, dass ich das nicht ewig durchhalten konnte.

Ich beschloss, das Tal zu erkunden. Es war gut, es zu kennen und ungewiss, wann ich wieder hierher kommen konnte. Ich hatte es zwar vor, um Großmutters Knochen zu vergraben und die Asche ihrer Haare in den Wind zu streuen, so wie sie es mir erzählt hatte. Doch ich wusste nicht, wohin es mich von jetzt an verschlagen würde, wie lange es dauern würde, bis ich dieses Ritual ausführen konnte. Dicht am Boden flog ich das ganze Tal ab. Vielleicht war irgendwo Wasser zu finden. Es sah allerdings nicht danach aus. Trockene Nadeln und Pinienzapfen bedeckten den Boden, und die Felswände waren kahl. Offensichtlich überlebten die Bäume mit dem bisschen Regenwasser, das über dem Valle niederging. Bis zur nächsten Nacht konnte ich es noch ohne Wasser schaffen, wenn ich lange genug im Schwebezustand blieb.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Bäume sich hier natürlicherweise angesiedelt hatten. Leider hatte ich das nicht mehr fragen können. Wahrscheinlich hatten sich meine Vorfahren diesen Friedhof großgezogen. Normalerweise stand ich nicht besonders auf Friedhöfe, aber dieser hier hatte es mir angetan. Eigentlich erschien er mir mehr als ein Ort der inneren Einkehr. Die natürliche Kargheit nahm dem Prozess des Sterbens das Unbegreifliche, das ihm auf den Friedhöfen der Madur anhaftete. Die Erde schien dem Himmel hier näher zu sein als anderswo.

Allerdings war die wohltuende Stille verschwunden. Das Tal war vom aufgeregten Gekrächze der Vögel erfüllt. Es war kaum zu ertragen, wie sie sich um Großmutters Körper zankten. Konnte ich das auf die Dauer aushalten? Vielleicht musste ich mich außerhalb des Tals nach einer Schlafmöglichkeit umsehen. An den rissigen Felsen entlang flog ich ganz nach oben und lugte über den Rand. Auf der einen Seite konnte ich nach Frankreich schauen, dort wo wir hergekommen waren, dort wo ich wieder hinmusste – allein. Auf den anderen Seiten schlossen sich Berge über Berge an, Steilwände, wohin ich blickte, und majestätische Gipfel. Der Valle lag etwa auf dreiviertel der Höhe mitten im Gebirge. Ich schaute von oben auf die Bäume hinunter. Sie bildeten mit ihren ausladenden Kronen dunkle Flecken zwischen Felswänden. Wenn ich mir vorstellte, im Flugzeug darüber zu fliegen, musste der Eindruck entstehen, es gäbe dort einen kahlen Einschnitt zwischen den Felsen. Nichts, was einlud, sich genauer damit zu beschäftigen. Man würde nicht auf die Idee kommen, dass hier Bäume standen. Allzu viele waren es auch nicht. Zwölf, genau gesagt. Ich flog die anderen elf Bäume einzeln ab, spähte vorsichtig auf die Plattformen. Glücklicherweise waren sie alle leer. Ich sah mir die Amulette meiner verstorbenen Vorfahren an. Ohne Ausnahme stellten sie Tiere dar. Wie bei den Indianern, dachte ich. Ob sie eine ähnliche Bedeutung hatten? Vielleicht stand das in dem Büchlein über die Lintu.

Wo hatte ich es überhaupt? Oh Gott, wo war mein Rucksack geblieben? Großmutters Tagebücher, die Bücher über mein Volk! Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich ihn zuletzt gesehen hatte. Das Taschenmesser rausgenommen, richtig. Er lag noch oben auf der Plattform bei Großmutter! Shit! Da wollte ich auf keinen Fall hoch, nicht, solange die Vögel am Werk waren. Mir wurde ganz elend. Dann musste ich eben doch hier warten. Ich würde ihn jetzt nicht holen. Ich schwebte auf die Plattform über mir und rollte mich zusammen. Es war noch hell, aber ich wollte nichts mehr sehen. Mein Rucksack neben Großmutter, das war einfach zu viel. Ich schloss die Augen und löste den Schwebezustand auf. Doch das Gezanke der Vögel wurde dadurch nicht leiser. An Schlaf war nicht zu denken. Überhaupt hatte ich keine Ahnung, wie lange es mit diesen Viechern gehen würde. Ich kannte mich nicht aus mit dem Appetit von Aasfressern. Vielleicht brauchten sie sogar mehrere Tage. Und was dann zurückblieb, musste nicht ansehnlicher sein als das, was ich jetzt vorfinden würde. Großmutter – hilf mir! Ich will deinen Körper nicht in diesem Zustand sehen! Natürlich konnte sie nicht antworten. Aber ich war ihr nahe genug, um mir ihre Antwort zu denken.

Sentimentalität hilft jetzt nicht weiter. Oder willst du die Bücher riskieren? Sie werden nicht besser, wenn die Vögel darauf herumlaufen. Wahrscheinlich brauchst du noch nicht einmal genau hinzuschauen. Konzentriere dich auf den Rucksack. Das Sensibelchen geben kannst du, wenn du ihn hast.

Der letzte Satz war von mir. Sie hätte sich bestimmt gewählter ausgedrückt. Also fasste ich mir ein Herz und flog hin zu ihr. Besser gesagt, ich schoss. Wollte es einfach nur hinter mich bringen und gleichzeitig die Vögel verscheuchen. Bis ich dort war, sprach ich ununterbrochen laut vor mich hin: „Konzentriere dich auf den Rucksack. Packen und weg. Konzentriere dich auf den Rucksack. Packen und weg.“ Die Vögel taten mir den Gefallen und flogen auf. Ich konzentrierte mich auf den Rucksack, schaute nicht links und nicht rechts. Packte ihn, flog davon. Wie ich es mir selbst vorgeschlagen hatte. Meine Erleichterung wuchs mit jedem Meter Distanz, den ich zwischen die Plattform und mich brachte. Aber ich war auch beschämt. Dort lag der Körper meiner Großmutter und ich floh vor ihm, als wäre er etwas Schlimmes.

Lintu

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