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7. Kapitel

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Es war noch dunkel, als ich auf meinem Balkon landete. Unten auf der Straße konnte ich nichts Verdächtiges erkennen. Machte trotzdem kein Licht in der Wohnung, duschte im Dunkeln, putzte mir endlich wieder richtig die Zähne und legte mich ins Bett. Beim Einschlafen nahm ich mir noch vor, dem dauerhaften Inhalt meines Rucksacks eine Zahnbürste hinzuzufügen. Als ich erwachte, hatte ich für einen Augenblick Orientierungsschwierigkeiten. Das war seltsam, war auf dem Flug nicht vorgekommen. Ich fühlte mich fremd in der Wohnung. Es war zu viel passiert, ich war wirklich nicht mehr die Alte. Ich kramte nach meinem Handy und versuchte es zu aktivieren. Der Akku war komplett leer, dafür war die Mailbox, nachdem ich es ans Netz gehängt hatte, ziemlich voll. Alles Anrufe von Julien. Oh weh, er machte sich bestimmt Sorgen. Ich rief ihn an.

„Elli?“ Er schrie fast ins Telefon.

„Ja, hi.“

„Was heißt hier ‚ja, hi‘? Wo bist du?“

„Zu Hause.“

„Zu Hause?“

Warum wiederholte er alles, was ich sagte?

„Gehts dir gut?“

„Ja, wieso?“

„Wieso?“ Schon wieder.

„Weißt du überhaupt, was hier los ist? Du wirst gesucht! Schwing deinen Hintern ins Revier, aber ein bisschen plötzlich!“

Was war denn das für ein Ton? Ich war schon auf dem Weg an die Decke, doch dann erinnerte ich mich daran, dass er nicht wissen konnte, was ich erlebt hatte. Und ich wusste genauso wenig, was bei ihm los war.

„Bin gleich da.“ Ich schlüpfte in frische Klamotten, zog einen Müsliriegel aus der Schublade und machte mich auf den Weg. Mein Skateboard hatte ich am Laden liegen lassen, also tat ich heute nur so, als hätte ich eins. Fiel niemandem auf.

Das Revier war nicht gerade der geeignete Ort für das Gespräch, das uns bevorstand, aber für den Anfang war es mal ein Treffpunkt. Julien saß mit finsterem Blick hinter seinem Schreibtisch. Kaum hatte ich jedoch die Tür geschlossen, stand er vor mir und umarmte mich. Dann betrachtete er mich prüfend, als sei ihm die Antwort, die ich am Telefon auf seine Frage nach meinem Befinden gegeben hatte, suspekt. Nachdem er offensichtlich zu einem beruhigenden Ergebnis gekommen war, fragte er: „Wo warst du?“

Er betonte jedes einzelne Wort. Seine Methode, die Unabdingbarkeit einer ausführlichen Antwort zu unterstreichen. Kannte ich ja schon, kam mir nur in letzter Zeit etwas gehäuft vor.

„Ich erzähle dir alles, aber nicht hier“, antwortete ich leise.

Er ließ mich los, tippte etwas in seinen PC und sagte: „Gehen wir.“

Auf dem Weg steckte er den Kopf ins Nachbarbüro. „Elli Müller ist wieder aufgetaucht. Nehmen Sie sie aus der Fahndung raus.“

Dann machte er die Tür ganz auf, zerrte mich zum Vorzeigen in die Türfüllung und zurück auf den Gang. „Melde mich später“, rief er nach hinten, während er weiter meinen Arm festhielt und forsch Richtung Ausgang lief.

„Hast du eine Vorstellung davon, welche Sorgen ich mir gemacht habe?“, fauchte er, als wir im Auto saßen.

„Langsam schon“, antwortete ich lahm.

„Wir mussten davon ausgehen, dass die Kameradschaft dich und Frau Schmidt in ihre Gewalt gebracht hat“, setzte er nach.

So weit hatte ich auch gedacht. Hatte es aber bis jetzt als Vorteil betrachtet, weil uns dadurch niemand in die Quere gekommen war. Dass ich deshalb auf einer Fahndungsliste gelandet war, schockierte mich allerdings. Irgendwie war alles reichlich turbulent im Augenblick.

„Also, fang an“, kommandierte er, während er den Wagen aus der Stadt steuerte.

„Was ist an dem Abend passiert?“, fragte ich. „Als ich ankam, war vorn im Laden eine Schießerei im Gange und Gr- Frau Schmidt lag verwundet auf dem Boden.“

„Die Streife hat zwei Männer und eine Frau in den Laden gehen sehen. Die waren noch nicht richtig drin, als ein Schuss fiel. Sie sind sofort rein und wurden von einem Kugelhagel empfangen. Es gab ein ziemlich langes Gefecht. Einer der Männer wurde erschossen, der andere Mann und die Frau wurden verletzt. Die beiden sitzen jetzt in U-Haft. Einen Kollegen hat es auch erwischt. Zum Glück nur eine Fleischwunde. Die Kollegen haben dann das Lager und die Wohnung durchsucht und niemanden gefunden, nur eine Menge Blut. Als ich den Tatort inspizierte, habe ich meine Schlüsse gezogen. Dein Skatebord lag draußen, die Blutspuren führten nur in die Wohnung, nicht wieder hinaus, ein Fenster stand offen.“ Er blickte mich vielsagend an.

Mir blieb fast das Herz stehen. Scheinbar sah ich sehr erschrocken aus, denn sein Ausdruck wurde milde. „Keine Angst, ich hab nichts gesagt. Die hätten mich doch von dem Fall abgezogen und unseren Psychologen auf mich angesetzt. Das kann kein Mensch glauben, der es nicht gesehen hat.“

Erleichtert atmete ich aus, merkte erst jetzt, dass ich vor Schreck die Luft angehalten hatte.

„Ich habe mir also gedacht, dass du mit Frau Schmidt weg bist. Ich konnte mir nur nicht erklären, wieso. Und du hast keinen einzigen meiner Anrufe beantwortet. Das war nicht nur nicht fair, das war absolut beschissen.“

Er war gekränkt und er hatte recht. Er war mein bester Freund. Ich an seiner Stelle wäre ausgerastet. Unter einer ordentlichen Szene hätte ich es nicht getan. Es tat mir sehr leid. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich es ein zweites Mal wahrscheinlich nicht viel anders machen würde. Doch ich konnte mich jetzt wenigstens entschuldigen. Inzwischen hatten wir die letzten Häuser hinter uns gelassen und fuhren durch ein paar Felder auf ein Waldstück zu.

„Es tut mir leid. Ich weiß, du hast dir Sorgen gemacht.“

Julien bog auf einen Parkplatz am Waldrand ein. Er bremste etwas zu scharf, machte den Motor aus und funkelte mich an. „Sorgen gemacht? Das ist gar kein Ausdruck. Ich bin fast gestorben vor Angst um dich. Gus und Martha wollten sich schon von mir lossagen, weil ich nur noch von dir geredet habe. Gus meinte, ich solle mich endlich wieder wie ein Polizist benehmen und dass du schon groß seist – ob ich das schon gemerkt hätte. Wenn du dein Skateboard nicht zurückgelassen hättest, wäre gar niemandem aufgefallen, dass du da warst. Die Kollegen haben in den Nachbarläden herumgefragt und natürlich haben alle das Skateboard gekannt. Nachdem wir dich nicht finden konnten, haben sie geglaubt, du seist mit Frau Schmidt der Kameradschaft in die Hände gefallen. So, und jetzt du.“

Wir stiegen aus und liefen in den Wald hinein. Die Sonne leuchtete durch die Blätter der Bäume und gab ihnen diesen unbeschreiblich warmen Grünton, der jedes Mal aufs Neue eine Wohltat für meine Augen war. Ich fragte mich, ob es wohl dort, wo ich bald hingehen würde, diese wunderbare Farbe gab. Julien neben mir scharrte mit den Hufen. Ich musste meine Schilderung beginnen, bevor er mich wieder anraunzte.

„Also …“, fing ich an, „du wirst jetzt ein paar sehr erstaunliche Dinge hören, die dir vielleicht nicht immer gefallen werden. Ich werde dir alles erzählen. Doch ich habe eine Bedingung. Du musst dir erst alles anhören, bevor du einen Kommentar abgibst. Du kannst Fragen stellen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber nur dann. Bist du einverstanden?“

Julien sah mich erstaunt an. Eine solche Einleitung aus meinem Mund, das kannte er gar nicht. Ich übrigens auch nicht. Er nickte. „Okay.“

„Gut. Frau Schmidt ist meine Großmutter.“

Er klappte den Mund auf und wieder zu.

„Ich habe es schon länger geahnt“, fuhr ich fort und dann erzählte ich ihm wirklich die ganze Geschichte. Er hörte sehr aufmerksam zu. Zwischendurch nahm er meine Hand und so liefen wir immer geradeaus den Waldweg entlang, ich redete, er nickte, staunte, litt mit mir. Als ich fertig war, blieb er stehen, drehte sich zu mir, nahm auch meine andere Hand, schaute mir in die Augen und fragte: „Wann wirst du gehen?“

Das war der Julien, den ich liebte. Und der es mit dieser Reaktion fertigbrachte, dass mir fast das Herz brach, als ich ihm antwortete. „Sobald ich hier alles geregelt habe. Länger als acht bis zehn Tage werde ich nicht brauchen.“

„Aber du weißt, dass du wegen der Kameradschaft nicht mehr gehen musst. Die Bandenkriminalität, die Mordkommission und eine Soko NS-Verbrechen sind auf sie angesetzt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Allerdings beruhigt es mich auch nicht. Sie haben den Menschen auf dem Gewissen, der mir am meisten bedeutete, und sie konnten es unter euren Augen tun. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich gehe. Ich muss nach meinen Wurzeln suchen, ich muss meine Leute finden. Großmutter glaubte an die Kolonie in Südamerika und ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer unserer Familie keine Lintu mehr gibt. Ich habe mich mein ganzes Leben nach anderen gesehnt, die so sind wie ich. Jetzt, wo ich weiß, wo ich herkomme, werde ich nicht aufgeben, bis ich sie gefunden habe.“

Es fehlte nur noch etwas dramatische Musik, um meine Worte zu unterstreichen. In den Heldenfilmen kam die immer an dieser Stelle. Die Kulisse und die Protagonisten stimmten schon mal. Deshalb zog ich mein Handy hervor und wählte eins der tragischen Lieder, die ich gespeichert hatte. Julien sah mich fragend an, während ich mitten im Wald mein jaulendes Handy in der Hand hielt.

„Die musikalische Untermalung meiner Rede“, erklärte ich schulterzuckend. Ich fühlte mich plötzlich total unwirklich, die ganze Szene hatte etwas Surreales. Was tat ich hier? Was redete ich da? Wer war dieser Mann vor mir? Was war das für ein Körper, in dem ich steckte? Das war doch eine schlechte Komödie, die hier ablief. Ich fing an zu kichern und konnte nicht mehr aufhören.

Julien hob die Augenbrauen. „Du bist echt gestört, Elli. Komm her.“ Er zog mich an seine Brust und schlang die Arme um mich. Es dauerte nicht lange, bis ich mich wieder beruhigte. Eine ganze Weile sagte keiner von uns etwas, dann flüsterte er: „Warum gibst du mir nicht die Tagebücher und sagst gegen die Brüder aus, dann stecke ich dich ins Zeugenschutzprogramm. Du musst nicht gehen. Du kannst auch von hier aus suchen.“

Ich schwieg und setzte mich wieder in Bewegung. Julien beeilte sich, an meiner Seite zu laufen. „Hast du keine Angst? Ich hab Angst. Um dich!“

„Um mich habe ich keine Angst. Nur um meine Familie, um Olivia, meine Eltern. Wenn die Kameradschaft sie findet, wird sie sie umbringen. Kannst du sie nicht beschützen?“

„Wie gesagt, wir haben das Zeugenschutzprogramm. Ich kann deine Familie mit hineinnehmen.“

„Das würde bedeuten, dass wir von hier weg müssten, eine neue Identität annehmen, richtig?“

Julien nickte.

„Ich werde mit meinen Eltern sprechen. Olivia ist ja gerade in New York. Als Aupair. Sie hat noch ein halbes Jahr. Keine Ahnung, was sie vorhat, wenn sie zurückkommt.“

Julien sah mich erstaunt an. „Das heißt, du bist einverstanden?“

War ich nicht wirklich. Und ich musste mir erst einmal über die verschiedenen Optionen klarwerden, bevor ich ihm antworten konnte. Dass meine Eltern sich auf dieses Zeugenschutzprogramm einlassen würden, war kaum vorstellbar. Jede Veränderung ängstigte sie. Dennoch musste ich es versuchen. Wenn die Kameradschaft es darauf angelegt hatte uns auszurotten, würde sie früher oder später meine Familie ausfindig machen. Auch bei Olivia war ich mir unsicher. Aber sie war im Augenblick weit weg und die Kameradschaft würde sie nicht so schnell finden. Bis dahin hätte ich vielleicht Zeit genug, sie zu überzeugen.

Die Tagebücher von Großmutter konnte ich Julien auf gar keinen Fall aushändigen. Wahrscheinlich hatte er nicht daran gedacht, dass sie von einer Lintu für ihre Familie geschrieben waren. Außerdem waren sie das einzige, was ich von ihr besaß. Wenn man von Simóns Amulett absah. Doch ich konnte ihm eine Kopie der Liste geben, die im dritten Buch verzeichnet war. Vielleicht genügte das. Wie ich selbst gegen die Kameradschaft aussagen sollte, war mir ein Rätsel. Beim ersten Überfall hatten wir die Verfolgung auf Verdacht aufgenommen und während der Jagd hatte ich die Verbrecher angegriffen und absichtlich verletzt. Auch beim zweiten Mal war es schon vorbei gewesen und ich hatte überhaupt niemanden zu Gesicht bekommen. Außerdem hatte ich wieder etwas getan, was nicht legal war. Wie kam Julien auf die Idee, dass davon etwas für die Anklage verwertbar sein könnte?

Meine Überlegungen brauchten mehr Zeit, als Juliens Geduld mir zugestehen wollte. Er konnte kaum stillhalten und ließ sich mehrmals zu auffordernden Gesten hinreißen. Als ich endlich den Mund aufmachte, atmete er laut aus, als hätte er während der ganzen Zeit die Luft angehalten.

„Also, ich kann es mir nur unter bestimmten Bedingungen vorstellen“, begann ich. „Erstens, die Bücher kannst du nicht haben. Es steht zu viel übers Fliegen drin. Aber ich kann dir eine Kopie der Liste geben, die Großmutter von den Mitgliedern der Kameradschaft und den Francotypen angefertigt hat. Zweitens, ich werde weggehen, ob ich im Zeugenschutzprogramm bin oder nicht. Drittens, ich sage nicht aus. Ich habe gar nichts zu bezeugen.“

„Du machst das mit dem Programm nur für deine Familie, stimmts?“

„Und du möchtest nur eine Aussage von mir, damit du uns in Programm bekommst, stimmts?“

Er nickte. Ich nickte. Er grinste. Ich grinste. „Also abgemacht?“

„Abgemacht.“

Während ich nachgedacht hatte, war mir aufgefallen, dass Julien zu meiner ganzen Geschichte nur diese eine Frage gestellt hatte, wann ich gehen würde. Er hatte sich nicht darüber beschwert, dass ich ihm die Tagebücher verschwiegen hatte und dass Großmutter meine Großmutter war, und dass ich sie schwerverletzt nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, sondern auf einen spanischen Friedhof. Und über meine Bedingungen jetzt beschwerte er sich auch nicht.

„Julien, was ist eigentlich los mit dir? Du akzeptierst alles, was ich sage, und schimpfst nicht. So kenne ich dich gar nicht.“

„Es ist umgekehrt, Elli, ich kenne dich nicht. Du warst schon immer irgendwie besonders, aber jetzt bist du so besonders, dass ich das Gefühl habe, ich weiß nichts von dir.“ Er machte eine kleine Pause. „Ich bin ja Outings gewöhnt. Und dass die Welt oft auf dem Kopf steht danach. Aber mit dir – da ist das bisschen Kopfstehen Peanuts. Meine Welt ist komplett aus den Fugen geraten!“

„Findest du nicht, du übertreibst?“, warf ich ein.

„Nein, finde ich nicht. Du hast so mir nichts dir nichts ein physikalisches Gesetz ausgehebelt. Das hätte ich allerhöchstens einem Erleuchteten im Himalaya zugestanden. Und die sind selten genug und so weit weg, dass sie nicht bedrohlich wirken. Aber du bist hier neben mir und eröffnest mir auch noch, dass es mehr von deiner Sorte gibt. Wer weiß, was sonst noch so heimlich herumlaboriert hier. Vielleicht Leute mit Röntgenblick oder welche, die sich in Tiere verwandeln können oder Unsichtbare … oder Aliens! Apropos …“ Er sah mich scharf an.

Ich schnappte nach Luft. Das konnte jetzt nicht sein, oder?

Er grinste. „Quatsch, war ein Witz. Aber vielleicht kannst du verstehen, was ich meine?“

„Toller Witz. Ich hab das echt mal für eine Weile in Betracht gezogen, weil ich mir nicht erklären konnte, warum ich die Einzige bin, die es kann.“

„Na, wenigstens weißt du jetzt, dass es mindestens noch drei in deiner Umgebung gibt – eh, gab, nein, ach du weißt schon …“

Ich nickte. „Von denen eine tot ist, eine nicht weiß, dass sie es kann und einer nichts davon wissen will.“

„Was nichts an der Tatsache ändert, dass du nicht mehr allein bist.“

„Du hast recht, ich sollte nicht so undankbar sein.“

„Also, um auf den Punkt zurückzukommen“, fuhr Julien fort, „nicht nur du hast eine Reise vor dir. Ich auch. Ich muss meine gesamten Wertvorstellungen neu überprüfen. Ich weiß gar nicht, ob unsere normalen Polizeigesetze für so eine Kampfelfe wie dich überhaupt gelten.“

Jetzt musste ich lachen. „Du, im Zweifelsfall fragst du mich einfach. Ich spreche deine Sprache und bin bisher nicht auffällig geworden.“

„Bis auf jeden Tag in der letzten Woche. Was davor war, zählt nicht mehr.“

Wieder musste ich ihm zustimmen. Mein Leben davor war so lange her, dass ich fast keinen Bezug mehr dazu hatte. Und doch musste ich noch einmal dahin zurück. Der Start in mein neues Leben ging von dort aus. Genaugenommen hatte mein neues Leben schon längst angefangen. Aber ich musste noch einiges aus meinem alten Leben zu Ende bringen, lauter formale Dinge – die Wohnung auflösen, mich von der Uni abmelden und alles, was Geld kostete, kündigen. Und dann war da noch der Laden. Großmutter und ich hatten auf unserem Flug kein einziges Wort darüber gewechselt, wie ich mit dem Laden verfahren sollte. Plötzlich hatte ich genug vom Herumlaufen und Reden.

Als hätte er es gewusst, sagte Julien: „Ich habe einen Riesenhunger.“

Mein Magen reagierte augenblicklich mit einem lauten Geräusch. Mir fiel ein, dass ich außer dem mageren Müsliriegel von heute Morgen und den Croissants von gestern seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte.

„Auf ins Café“, lachte Julien.

„Aber in das neben dem Buchladen, ich brauche jetzt mindestens zwei Portionen Bratkartoffeln.“

„Einverstanden.“ Er sah mich erwartungsvoll an.

Mir war klar, was er wollte und ich tat ihm den Gefallen. Freute mich sogar. „Rückflug?“

Er nickte, seine Augen blitzten, und dann strahlte er übers ganze Gesicht, obwohl er sich deutlich bemühte, cool zu wirken. Ich überprüfte die Umgebung und drehte ihm den Rücken zu. Ganz in der Ferne entdeckte ich Bewegung, möglicherweise Reiter. Es war sicherer, zwischen die Bäume zu verschwinden, bevor wir in die Höhe stiegen. Julien legte die Hände auf meine Schultern, ich verband mich mit ihm und machte im Abheben schon den Schlenker zur Seite. Er erschrak, ließ aber nicht los.

„Was ist?“, flüsterte er in mein Ohr.

Normale Vorsichtsmaßnahme, Reiter im Anzug, gab ich zurück.

Keine Reaktion. Ach verdammt, er war ja kein Lintu. Erstaunlich, wie vertraut mir das Gehirnsprechen in der kurzen Zeit mit Großmutter geworden war. Großmutter. Einen Moment lang überwältigte mich die Erinnerung und mir schossen die Tränen in die Augen. Verdammt, Elli, jetzt nicht! Reiß dich zusammen! Du kannst dir jetzt keine Schwäche erlauben! Ich sparte mir eine mündliche Antwort auf Juliens Frage. Er bestand auch nicht darauf, war wohl zu beschäftigt. Mit einem Mal reizte es mich zu versuchen, ob es nicht auch mit einem Madur gehen könnte. Warum sollte Julien nichts empfangen können? Vielleicht wusste er nur nicht, wie es ging. Ich konnte auf jeden Fall etwas senden. Es würde mich auf andere Gedanken bringen. Während wir zwischen den Bäumen zurückflogen, sendete ich ununterbrochen.

Hallo Julien, hörst du mich? Da vorn sind Reiter, kannst du mich hören? Wir fliegen jetzt schneller, Julien, hörst du mich?

Ich erhöhte das Tempo, als wir an den Reitern vorbeikamen und landete kurz darauf im Schatten der Bäume neben dem Parkplatz.

„Und?“

„Du bist wegen der Reiter so schnell zwischen die Bäume geflogen“, strahlte er mich an.

„Ja, hast du mich gehört?“

„Gehört? Nein, hast du denn etwas gesagt? Ich hab messerscharf geschlossen, bin schließlich bei der Kripo.“

Schade. „War gar nichts anders als sonst?“

Ein leichtes Misstrauen lag in seinem Blick. „Was soll anders gewesen sein? Es hat noch mehr Spaß gemacht als beim letzten Mal, weil ich jetzt schon wusste, wie es geht. Vor allem, als du über die Reiter geflogen bist. Hab mich gefühlt wie beim Räuber-und-Gendarm-Spielen früher, wenn wir den Gegner umschlichen haben.“ Vor lauter Begeisterung hatte er sein Misstrauen kurzzeitig vergessen. Doch er war ein guter Polizist. „Also, was sollte die Frage? Hast du etwas gemacht?“

„Ich habe etwas versucht.“

Er sah mich auffordernd an.

„Ich habe dir Gedanken gesendet.“

„So wie deiner Großmutter?“ Er riss die Augen auf.

„Ja.“ Ich war ein bisschen enttäuscht. „Hast du denn überhaupt gar nichts gemerkt?“

„Doch, es war unruhig in meinem Schädel. Irgendwelche Störungen, ich konnte nicht ausmachen, ob es Geräusche sind oder Schmerzen, irgendwie unangenehm. Hab mich dann nicht weiter drum gekümmert, ich wollte den Flug genießen.“ Er schaute mich entschuldigend an. „Tut mir leid. Wollen wir es nochmal versuchen?“

„Ich glaube nicht. Nicht jetzt. War nur so eine Anwandlung von mir.“ Ich fühlte mich gerade erschöpft, musste dringend etwas essen.

Julien dagegen war Feuer und Flamme. „Aber denk nur, wenn das ginge! Wie cool das wäre. Wir könnten uns immer heimlich verständigen!“

Ich schaute ihm in die Augen, fragte mich, ob er die Realität verdrängte oder vergessen hatte.

„Oh … ja … immer ist ja nicht mehr. Und du bist auch nicht bei der Polizei. Entschuldige, ich bin manchmal doch ein Kindskopf.“

„Brauchst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht. Wir hätten viele Möglichkeiten – wenn die Welt ein bisschen anders wäre als sie ist.“ Seine Begeisterung hatte mich wieder aufgemuntert. „Zum Glück bist du so ein Kindskopf. Wie solltest du sonst an mich glauben?“

Er lachte und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. „Lass uns gehen, bevor du zum Skelett abgemagert bis.“

Im Wagen sagte er plötzlich: „Wir sollten nicht dein Lieblingscafé nehmen. Wir müssen dich nicht auf dem silbernen Tablett präsentieren.“

Tja, es wurde wirklich Zeit zu gehen, wenn ich nicht einmal mehr meine vertrauten Plätze aufsuchen konnte. Auf dem Weg in die Stadt fertigte ich im Kopf eine Liste der Dinge an, um die ich mich kümmern musste. Ich teilte sie ein in einfache und schwierigere Aufgaben. Zu den schwierigeren zählte eindeutig das Gespräch mit meinen Eltern. An oberster Stelle. Dicht gefolgt von dem Gespräch mit Olivia, wobei das wiederum nicht in die Zeit vor meiner Abreise fallen würde. Wegen Aufenthalts der jungen Dame in Übersee. Ich würde sie aufsuchen müssen. Die dritte schwierigere Geschichte war Großmutters Nachlass. Ich konnte nicht verhindern, dass mir jedes Mal, wenn ich auch nur in ihre Nähe dachte, die Tränen in die Augen schossen. Schnell wandte ich den Kopf zum Seitenfenster und blinzelte verstohlen, weil ich nicht wollte, dass Julien etwas merkte. Ich spürte das Amulett, wie es sich um meine Taille schmiegte. Über den Laden hatte ich nicht mit ihr gesprochen, dennoch ahnte ich, was sie gewollt hätte. Sie hätte den Laden aufgegeben, um mit mir in die Kolonie zu gehen. Das Gleiche würde sie jetzt von mir verlangen. Nach den Ereignissen kam auch gar keine andere Lösung in Frage. Keiner aus der Straße würde den Laden weiterführen, in dem Großmutter ermordet worden war. Und jemand anderen würde ich nicht hineinlassen. Ich konnte Frau Keller fragen, eine Freundin von Großmutter, die in dem Gemischtwarenladen schräg gegenüber Verkäuferin war. Sie wusste bestimmt, was ich machen musste, um den Laden aufzulösen. Großmutters Wohnung würde ich selbst durchsehen. Meinen Eltern diese Aufgabe anzutragen, war wohl kaum eine gute Idee. Vielleicht würde ich meinen Vater fragen, ob er etwas haben wollte, obwohl ich das für unwahrscheinlich hielt. Alles, was verschenkbar war, würde ich weggeben. Es gab genügend Organisationen, die es brauchen konnten.

Der Rest war einfach. Mit meiner Wohnung würde ich es genauso machen. Julien wollte ich bitten, auf unbestimmte Zeit einen Karton mit persönlichen Sachen von mir aufzuheben, mehr würde ich mit Sicherheit nicht behalten. Dann die Abmeldung von der Uni und den ganzen anderen Kram, Versicherungen, Bankkonto und so weiter. Soweit es ging, würde ich die Spuren meiner Existenz auslöschen. Einwohnermeldeamt nicht zu vergessen. Umzug nach Moskau, Studentenwohnheim als Adresse. Nie ankommen dort.

Julien war nicht übermäßig begeistert von meinen Moskauplänen. Er hatte von einer recht aktiven Neonaziszene in Russland gehört, die Großmutter offensichtlich nicht kannte. Es war nicht klar, ob die Kameradschaft nicht auch dorthin Verbindungen geknüpft hatte – so wie zum Rest der Welt. Wir konnten nur hoffen, dass sie aus reiner Tradition nicht in östliche Richtung agierten. Das Handy war auch noch ein Problem. Mit dem konnte ich überall geortet werden. Das musste ich mit Julien besprechen. Er wäre im Grunde der Einzige, den ich anrufen würde. Ich warf einen Blick zu ihm hinüber. Seit wir losgefahren waren, telefonierte er eigentlich ununterbrochen. Er fuhr langsamer als sonst, es mussten wichtige Gespräche sein. Ich hatte mir zur Angewohnheit gemacht, mich gedanklich mit anderen Dingen zu beschäftigen, wenn er telefonierte, damit ich nicht aus Versehen interne Geheimnisse erfuhr. Julien wusste das zu schätzen. Anfangs hatte er angehalten und draußen weitertelefoniert, wenn ich nicht mithören sollte. Doch inzwischen wusste er, dass ich nichts ausplauderte und telefonierte einfach. Endlich hielten wir vor dem Café, in dem wir uns vor knapp einer Woche getroffen hatten, als die Welt sich noch anders drehte. Im Hineingehen raunte Julien mir zu: „Gute Neuigkeiten, das Zeugenschutzprogramm gilt für deine ganze Familie. Wir können in den nächsten Tagen alles festmachen.“

Er suchte uns einen Tisch im hinteren Teil des Cafés aus.

„Bestell du“, sagte ich und ließ mich auf den Stuhl fallen. Ich war zwar hungrig, aber Appetit hatte ich nicht wirklich. Julien kam mit zwei Cappuccinos zurück.

„Der Rest kommt gleich“, grinste er. Warum grinste er?

„Meinst du wirklich, die Kameradschaft überwacht den Buchladen?“ Einerseits hielt ich es für möglich, andererseits für übertrieben.

„Ich habe keine Ahnung. Wir überwachen ihn jedenfalls nicht mehr. Die Untersuchungen sind abgeschlossen, es gibt keinen Grund mehr, dort zu sein. Aber die Kameradschaft könnte beobachten, was mit dem Laden weiter geschieht. Vielleicht warten sie auf dich. Leider haben wir keine Informationen, wie weit sie über dich Bescheid wissen. Bis jetzt sind sie zwar nicht wieder aufgetaucht, doch das heißt gar nichts.“

„Hast du nicht gesagt, dass drei Abteilungen hinter ihnen her sind?“

„Ist ja auch so, nur haben wir noch nicht viel.“

„Und warum sollte ich dann sicher sein, wenn ich in Deutschland bleibe?“

„Nur im Zeugenschutzprogramm.“ Er beugte sich zu mir herüber und sah mich mit ernster Miene an. „Die nächsten Tage, in denen du deine Angelegenheiten regelst, können gefährlich werden. Du musst sehr vorsichtig sein. Wie gesagt, wir haben keinen Hinweis, wie viele sich wo herumtreiben, um dich ausfindig zu machen.“

Tolle Aussichten. „Ich muss in den Laden und in Großmutters Wohnung.“

„Ich weiß. Ich will versuchen, dir einen Personenschutz zu organisieren.“

„Nee, oder? Kannst du das nicht machen?“

„Du, ich muss auch mal wieder was arbeiten. Ich gehe viel zu oft mit dir im Wald spazieren und frühstücken. Ich werde dir einen jungen hübschen Burschen aussuchen, der charmant ist und gut schießen kann.“ Julien zwinkerte mir zu.

„Ach, und du meinst, wenn er dir gefällt, hilft mir das darüber hinweg, dass ich mich dann die ganze Zeit im Schneckentempo bewegen muss wie dein Sonnyboy?“, raunzte ich zurück.

Die Bedienung kam und häufte Berge von Essen auf unseren Tisch. Jetzt wurde mir klar, warum er vorhin so gegrinst hatte. „Wer kommt denn noch?“, fragte ich.

„Du musst alles aufessen, und was du nicht schaffst, lassen wir dir einpacken. Ich wette, dein Kühlschrank ist eine Eiswüste“, antwortete er. Er hatte eine Miene aufgesetzt, die wenig Raum für Widerspruch ließ.

Seufzend zog ich einen Teller Bratkartoffeln aus dem Gewirr zu mir her. Wahrscheinlich hatte er seinen ganzen Charme spielen lassen, um mir die zu organisieren. Ich sollte dankbar sein. Schon nach den ersten Bissen merkte ich, wie gut mir das Essen tat. Julien schien auch Hunger zu haben. Wir mampften schweigend einen Teller nach dem anderen leer. Die Bedienung lief während unseres Gelages ständig hin und her und räumte das abgegessene Geschirr ab. Auch wenn das ihr Job war, fand ich es nett. Als Julien wieder zu sprechen begann, hatten wir nur noch zwei Schälchen mit Pudding übrig.

„Du siehst besser aus“, bemerkte er. „Wie sind deine Pläne?“

„Ab wann hetzt du mir den schießenden Schönling auf den Hals?“ fragte ich zurück.

„Ab sofort. Er wird jede Minute eintreffen.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Ich war wirklich aufgebracht. Wie sollte ich denn vorwärtskommen, mit so einem Klotz am Bein? Für den Laden und die Wohnung von Großmutter sah ich es ja ein, aber ich konnte doch nicht von morgens bis abends mit einem Kindermädchen rumlaufen! Damit würde ich doch erst recht auffallen. Und vor allem schön verfolgbar bleiben. Madurgeschwindigkeit!

Julien schien meine Gedanken zu erraten. Er lachte laut. „Du machst ein Gesicht, als würde ich dich anketten. Ich hab eine Überraschung für dich. Du kriegst nicht nur einen, sondern sogar zwei Aufpasser.“ Mit einem lieblichen Lächeln wartete er meine Reaktion ab.

Ich versuchte, meinen Missmut nicht ganz so stark zu zeigen. Er meinte es ja nur gut. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mir ein „oh nein“ herausrutschte.

„Tja, und die beiden sind professionelle Skater. Unsere Special Agents für Jugendkriminalität.“ Er lehnte sich zurück, um seine Worte wirken zu lassen.

Ich schaute ihm direkt in die Augen und fand, dass er die Wahrheit sagte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Mensch Julien, ich könnt dich echt schlagen! Mich so zu erschrecken! Aber – du bist einfach ein Schatz! Das ist voll cool! Ich könnte dich knutschen!“

„Was denn jetzt?“

„Beides!“ Mit einem Satz war ich auf seiner Tischseite und knuffte ihn auf den Oberarm. Ein bisschen fest, damit es ihm auch ein bisschen wehtat. Und dann fiel ich ihm um den Hals. Er schlang seine Arme um mich und drückte mich an sich. „Ich vermisse dich jetzt schon“, sagte er leise.

Lintu

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