Читать книгу Angie: Es geschah auf dem Heimweg - Christine Lamberty - Страница 5

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Am Nachmittag erreichten sie Tutzing am Starnberger See. Ihr Haus lag in der Nähe des Seeufers. Vor einem großen schmiedeeisernen Tor hielt Herr Möller den Wagen an, und fuhr langsam die Auffahrt entlang zum Eingang des Hauses.

Dort erwartete sie eine Frau mittleren Alters. „Angie, das ist Frau Keller. Sie kümmert sich um den Haushalt und bringt dich in der ersten Zeit zur Schule.“ Mit einem strahlenden Lächeln reichte sie Angie die Hand und begrüßte sie freundlich. Angie mochte sie vom ersten Augenblick. Durch Ihre mütterliche Art und ruhige Stimme, fühlte sie sich geborgen und vergaß für einen kurzen Moment ihre Sorgen. Frau Möller nahm Angie an die Hand, sie durchquerten die Eingangshalle und stiegen die Treppe empor. Angies Vater und Frau Keller folgten mit dem Gepäck. Sie traten in einen großer Raum, der mit kostbaren Möbeln eingerichtet war. Angie schaute aufgeregt hin und her. Puppen in unterschiedlicher Größe saßen auf kleinen Stühlchen und in Regalen tummelten sich verschiedene Stofftiere. In einer Ecke standen ein Kaufladen und ein Puppenhaus. Angie sagte kein Wort. Sicher träumten viele ihrer Freundinnen von einem Zimmer mit so vielen Spielsachen, auf Angie wirkte es erdrückend. Ihre Eltern zeigten ihr die anderen Räume, der oberen Etage. Hier lag das Schlafzimmer ihrer Eltern, ein Gästezimmer, zwei Bäder und das Büro ihres Vaters, der öfters Arbeiten zu Hause erledigte. Dann setzten sie die Hausbesichtigung in den unteren Räumen fort. Von der Küche aus betraten sie das Esszimmer. Staunend blickte Angie auf den Essplatz. Noch nie hatte sie so einen riesigen Tisch gesehen. Ihr Vater öffnete die Schiebetür ins angrenzende Wohnzimmer. Der Raum lag bereits im Halbdunkeln. Ganz schwach drangen die letzten Sonnenstrahlen durch die großen Fenster herein. Frau Möller schaltete das Licht an. In der Mitte des Raums stand eine rechteckige Sofalandschaft. Wie in den oberen Räumen war auch das Wohnzimmer mit edelsten Möbeln ausgestattet, und dicke Teppiche bedeckten teilweise den Marmorboden. Angie stand wie angewurzelt zwischen dem Esszimmer und dem Wohnzimmer. Sie traute sich nicht zu bewegen. Die Größe und Eleganz des Hauses schüchtern sie ein. Dies war nicht mit ihrem bisherigen Zuhause vergleichbar. Frau Möller legte den Arm um ihre Tochter. „Na, gefällt es dir hier?“ Zaghaft und scheu entglitt ihrem Mund, ein kaum hörbares „ja“. Frau Möller horchte bei Angies zurückhaltender Reaktion auf. „Wie ungeschickt von uns. Da reden wir und reden, führen dich herum und merken nicht, dass du hundemüde bist. Entschuldige, vor lauter Euphorie, dich endlich bei uns zu haben, sahen wir nicht, dass die Fahrt und die vielen neuen Eindrücke dich sehr anstrengten. Komm, Frau Keller hat das Essen fertig. Danach bringe ich dich zu Bett.“

Sie starrte auf die Schatten, die das Mondlicht durch die Ritzen der Rollläden zur Decke warf. Ihr Schädel brummte, und sie fürchtete sich vor der ungewissen Zukunft. Sie vermisste ihre Großeltern. Besonders ihre Großmutter, die sie jeden Abend zu Bett brachte, und ihr eine Geschichte vorlas. Dort fühlte sie sich seit fast sechs Jahren zu Hause. Die Nachbarskinder waren ihre Freunde, und mit ihnen tobte sie auf den Feldern herum. Erst heute Morgen verließ sie dieses Leben, trotzdem erschien es ihr ewig. Sie wusste, dass irgendwann der Tag des Abschieds kommen würde, aber die Tatsache verdrängte sie gerne. Todunglücklich schaute sie während der Fahrt aus dem Fenster, damit ihre Eltern nicht sahen, dass sie weinte. Ihr fehlte jegliche Beziehung zu ihnen. Wie hätten sie auch Nähe zueinander aufbauen können, wenn ihre Eltern sie in den vergangenen Jahren nur manchmal am Wochenende besuchten. Sie blieben ihr fremd. Ihre Mutter trug jedes Mal eine andere Haarfarbe und in ihrer Kleidung sah sie aus, wie einem Modemagazin entsprungen. Angie traute sich nicht, sie zu umarmen, weil sie befürchtete, ihre Kleider zu verknittern. Ihr Vater erschien immer korrekt im Anzug mit akkuratem Haarschnitt. Er wirkte auf Angie, als ginge er ins Büro und kam nicht, um sie zu besuchen. Seine Haltung erstickte jede familiäre Vertrautheit im Keim. Sie fragte sich: „Wie wird es hier werden?“ Fest klammerte sie sich an ihren Teddy, die einzige Verbindung aus ihrem alten Leben. Mit einem tiefen Seufzer schlief sie ein.

Zur gleichen Zeit saßen ihre Eltern im Wohnzimmer. „Prosit Helen! Jetzt, wo Angie bei uns ist, sind wir komplett. Wir können Stolz sein auf das, was wir in den paar Jahren erreichten. Du siehst, harte Arbeit zahlt sich aus.“ „Nicht nur! Oder hast du die Hilfe meiner Eltern vergessen? Ohne sie wären wir noch lange nicht soweit.“ „Was ist los mit dir? Warum bist du so nachdenklich?“ „Entschuldige Richard, selbstverständlich bin ich glücklich über unseren Erfolg, aber ich frage mich, wie Angie empfindet. Sie wirkte den ganzen Tag in sich gekehrt und traurig. Hast du das nicht bemerkt?“ „Mach dich nicht unnötig verrückt. Du wirst sehen, sie lebt sich schneller ein, als du denkst. Außerdem fängt bald die Schule an, dort wird sie eine Menge neuer Freundinnen finden. Bis dahin fällt uns sicher einiges ein, gemeinsam die Zeit zu gestalten. Schluss jetzt, mit den düsteren Gedanken. Es gibt Besseres, den Abend zu verbringen.“ Dann nahm er sie in den Arm, und sie küssten sich innig.

Ihre Eltern bemühten sich sehr, damit Angie sich schnell an die neue Umgebung gewöhnte. Frau Möller verkürzte ihre Arbeitszeit, um für Angie da zu sein. Bereits am ersten Tag erkannte sie schmerzhaft, wie wenig sie von ihrer Tochter wusste. Sie sah von ihrer Zeitung auf, während Angie zögernd die Küche betrat. „Guten Morgen, ist etwas passiert? Du siehst so schreckhaft aus?“ „Als ich aufwachte, vergaß ich für einen Moment, wo ich war. Anschließend fand ich die Küche nicht sofort.“ „Komm, setzt dich zu mir. Soll ich dir ein Brot schmieren oder machst du das schon selber? Was möchtest du? Käse, Wurst, Kaffe?“ „Oma hat mir meistens Grießbrei und Kakao gekocht, Marmeladenbrote mag ich auch.“ Die Unwissenheit, was ihre Tochter morgens am liebsten aß, gaben ihr einen Stich ins Herz. Sie zweifelte, ob sie sich damals richtig entschieden hatte, Angie in den ersten Jahren bei ihren Eltern zu lassen. Sie nimmt sich vor, in Zukunft mehr um Angie zu kümmern.

In den folgenden Wochen rissen die Besuche und Einladungen nicht ab. Angie lernte so viele Leute kennen, dass es ihr schwerfiel, sich alle Namen zu merken. Die Wochenenden verbrachten sie meistens mit Freunden und deren Kinder. Manchmal fuhr sie mit ihrer Mutter nach München und wurde von einer Kinderboutique zur nächsten geschleift. Sie taumelte in einen Zwiespalt zwischen Freude und Traurigkeit. Einerseits freute sie sich über die schönen Dinge, die ihre Eltern ihr kauften, anderseits machte es sie traurig, dass sie nie etwas alleine unternahmen. Immer waren irgendwelche Leute zugegen. Mit ihrem Großvater spielte sie abends öfters „Mensch ärgere dich nicht“, das gefiel ihr. Leider lag dieses beschauliche Leben hinter ihr. Sie hoffte das sich mit Beginn der Schule einiges änderte.

Am Tage der Einschulung strahlte Angie über das ganze Gesicht. Zu ihrer Überraschung standen am Morgen die Großeltern vor der Tür. Ihr Jubelschrei tönte durch alle Ecken des Hauses. Mit einer riesigen Schultüte im Arm, eingerahmt von ihrer Familie, betraten sie den Festsaal der Schule. Im Anschluss der Feier wurden die Schüler ihren Klassen zugewiesen. Neben Angie saß ein Mädchen namens Stella. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu dicken Zöpfen geflochten, und tiefbraune Augen schauten Angie freundlich an. Beide waren sich sofort sympathisch und legten an diesem Tag den Grundstein für ihre Freundschaft. Ihre Klassenlehrerin Frau Kumbrow stellte sich vor. In ihrem blauen Kostüm und straff zurückgekämmten Haaren, die in einem Knoten endeten, wirkte sie auf den ersten Blick streng und unnahbar. Ihre Augen jedoch blickten warmherzig und gütig. Angie verglich sie mit Frau Keller. Beim näheren Betrachten war sie der gleiche mütterliche Typ. Der erste Schultag endete mit dem Verteilen der Stundenpläne. Beim Mittagessen pochte Angies Herz wie wild und sie brachte vor Aufregung keinen Bissen herunter. Ihre Augen wanderten abwechselnd zwischen ihren Eltern und Großeltern hin und her. Es war der glücklichste Tag in ihrem Leben und zum ersten Mal fühlte sie sich hier zu Hause.

Mit zunehmendem beruflichen Erfolg ihrer Eltern veränderte sich ihr Familienleben gewaltig. Kurze Zeit nach Angies Einschulung widmete sich Frau Möller wieder ganz ihrer Arbeit und eröffnete innerhalb eines Jahres zwei Edelboutiquen. Wenn sie nicht in ihren Geschäften arbeitete, hetzte sie von einer Modenschau oder Modemesse zur nächsten.

Herr Möller, nicht minder erfolgreich mit eigener Immobilienfirma in München, beteiligte sich gleichzeitig an einigen ausländischen Maklerbüros. Aus diesem Grunde saß er zeitweise mehr im Flugzeug, als zu Hause. Der Erfolg forderte eine Menge geschäftliche Verpflichtungen, die sich, ohne dass sie es merkten, in ihr Privatleben einschlichen. Sie luden ein oder wurden eingeladen und ließen sich überall dort sehen, wo es ihrem Vorteil diente. Neue Mitgliedschaften in angesagten Klubs öffnete ihnen Türen. Sie liebten diese Art zu leben. Ihre Vorsätze, sich mehr um Angie zu kümmern, verblassten. Natürlich liebten sie Ihre Tochter, gaben ihr alles und nahmen sie zu vielen Veranstaltungen mit. Leider bemerkten sie nicht, dass Angie unglücklich war. So wuchs Angie ohne Geldsorgen, aber auch ohne die Elternliebe auf, die sie sich wünschte. Durch diesen Umstand entwickelte sich Frau Keller, im Laufe der Jahre, zu Angies Ersatzmutter.

Der Wunsch, eigene Kinder zu bekommen, blieb leider unerfüllt. Umso dankbarer nahm sie das Angebot der Möllers an, sich um Angie und den Haushalt zu kümmern. Ihrem Mann boten sie ebenfalls eine Tätigkeit an. Er erledigte kleine Reparaturen im Haus und hielt den Garten instand. Beide waren glücklich, diese Beschäftigung gefunden zu haben, zumal sie in der Nähe wohnten.

Die Schule bereitete Angie von Anfang an keine Mühe. Alle Aufgaben erledigte sie mit leichter Hand, zählte schnell zu den Klassenbesten und war beliebt bei ihren Mitschülerinnen. Trotzdem verhielt sie sich zurückhaltend. Die beste und einzige Freundin blieb Stella. Nach der Schule verbrachte sie öfters die Zeit bei ihr zu Hause. Stellas Eltern arbeiteten beide als Rechtsanwalt. Ihre Kanzlei befand sich praktischerweise im Untergeschoss ihres Hauses. Durch diese Gegebenheit, bewältigte Frau Hermann den Haushalt und kümmerte sich gleichzeitig um ihre Tochter. Sie pflegten ein ausgesprochen harmonisches Familienleben. Angie fühlte sich dort sehr wohl, abgesehen davon, lag ihr Elternhaus nur fünfzehn Minuten Fußweg entfernt. Diesen Weg waren beide Mädchen schon hundertmal gegangen. Am heutigen Nachmittag wurde er Angie zum Verhängnis, welches ihr zukünftiges Leben verändert.

Angie: Es geschah auf dem Heimweg

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