Читать книгу Angie: Es geschah auf dem Heimweg - Christine Lamberty - Страница 8

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Frau Kumbrow wohnte am Stadtrand in einem älteren, aber sehr gepflegten Einfamilienhaus. Zu beiden Seiten der Eingangstür wuchsen Rosenbäumchen. Zögerlich blieb Angie vor der Haustür stehen und überlegte umzukehren. Schließlich gab sie sich einen Ruck und drückte den Klingelknopf.

Überrascht schaute Frau Kumbrow sie an. „Was führt dich zu mir?“Sie boten mir an zu helfen, wenn mich etwas belastet. Es ist soweit, ich weiß nicht mehr weiter.“Komm herein, bei einer Tasse Tee redet es sich leichter.“ Bevor sie zur Küche ging, begleitete sie Angie ins Wohnzimmer und bat sie Platz zu nehmen. Angie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war gemütlich mit antiken Möbeln eingerichtet, aber nicht vollgestopft. Auf einer Anrichte standen Fotos von zwei Männern. Ein älterer und ein wesentlich jüngerer. Beide hatten große Ähnlichkeit miteinander. Bestimmt Vater und Sohn, dachte Angie.

Frau Kumbrow brachte den Tee und setzte sich neben sie.Raus mit der Sprache! Was ist los?“ „Ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“ Ihr Mund war trocken. Sie trank einen Schluck und begann zu erzählen. Sie sagte, dass sie keinen Autounfall hatte, sondern vergewaltigt und verprügelt wurde und das Ganze nur schemenhaft, wie in einem Vakuum wahrgenommen habe. Irgendwann sei sie vor Schmerzen in Ohnmacht gefallen und habe erst zwei Tage später im Krankenhaus das Bewusstsein wiedererlangt. Öfters frage sie sich, warum retteten mich die Jogger und ließen mich nicht sterben? Sie erzählte von den schlaflosen Nächten, den Kommentaren ihrer Mutter, dem unklaren Schwangerschaftstest und dem Glücksgefühl, als sie ihre Periode bekam und für sie die Welt wieder in Ordnung schien. „Jetzt befürchte ich doch schwanger zu sein.“ Mit diesem Paukenschlag schwieg sie. Zusammen gekauert mit glühenden Wangen saß sie auf dem Sofa. Stillschweigend nahm Frau Kumbrow Angie in den Arm. „Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“ „Mir fehlte der Mut.“ Plötzlich öffneten sich alle Schleusen und die Tränen rannen ihr in Sturzbächen über das Gesicht. Die aufgestauten Erlebnisse der letzten Monate brachen aus ihr heraus.

Frau Kumbrow wiegte sie hin und her, um sie zu beruhigen. „Weine! Weine ruhig, das befreit.“ Kurze Zeit später kam die Pädagogin in ihr zum Vorschein und fragte: „Warum glaubst du, jetzt schwanger zu sein?“ „Ich spürte in der Nacht ein Rumoren in meinem Bauch, ähnlich wie Blähungen. Wenn ich meine Hand auf den Bauch legte, fühlte es sich an, als wenn jemand dagegen stößt. Morgens im Bad sah ich, wie sich etwas bewegte. Ich geriet sofort in Aufruhr. Es passierte genau an meinem Geburtstag, das liegt eine Woche zurück. Seitdem traten die Symptome wiederholt auf. Ich verdrängte die Realität. Inzwischen weiß ich, dass es falsch war.“ „Richtig! Zuerst musst du einen neuen Test machen, dann sehen wir weiter. Ich besorge die nötigen Utensilien und du kommst morgen nach der Schule zu mir.“ „Warum helfen sie mir?“ „Weil du mir am Herzen liegst.“

Um ihre Nervosität zu überspielen, während sie auf das Testergebnis wartete, fragte Angie: „Warum haben sie keine Kinder? Sie wären bestimmt eine gute Mutter.“ Frau Kumbrow stand auf, nahm eine Fotografie von der Anrichte und reichte sie Angie. „Das ist mein Sohn. Er kam im Alter von zwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Das liegt jetzt zehn Jahren zurück. Aus diesem Grunde berührte mich die Nachricht von deinem Unfall besonders. Seit gestern, weiß ich, dass dir Schlimmeres passierte.“ Sie holte eine zweite Fotografie. „Das war mein Mann. Über den Tod unseres geliebten Sohnes kam er nie hinweg und erlitt ein halbes Jahr später einen Schlaganfall, an dem er zwei Monate später verstarb. Seitdem lebe ich alleine und lege meine ganze Kraft in den Beruf. Es hilft weiterzuleben.“ Angie sagte: „Es ist traurig, wie wenig man von seinen Mitmenschen weiß und welches Schicksal jeder mit sich herum trägt.“

Frau Kumbrow stellte die Bilder zurück. „Die Zeit ist um, trauen wir uns der Wahrheit ins Auge zu sehen.“ Das Ergebnis ließ keine Zweifel aufkommen und bestätigte eindeutig die Schwangerschaft. „Was nun? Ich kann das Kind nicht bekommen.“ „Das Wichtigste ist, umgehend mit deinen Eltern zu reden. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn du möchtest begleite ich dich.“

Als Sie das Haus betraten, hörte Angie ihre Mutter im Wohnzimmer telefonieren. Frau Möller schaute erstaunt in ihre Gesichter, beendete ihr Gespräch und fragte: „Ist etwas passiert?“ „Ja, Mama. Ich muss mit euch sprechen. Wo ist Papa?“Es überrascht mich, deine Lehrerin hier zu sehen. Gibt es Probleme in der Schule?“ „Nein, ihre Tochter fürchtet sich vor dem Gespräch und bat mich, sie zu unterstützen.“ „Wenn es nicht die Schule betrifft, sehe ich keine Veranlassung, dass sie sich in unsere privaten Angelegenheiten einmischen. Ich glaube meine Tochter ist alt genug, um eventuelle Probleme mit mir alleine zu besprechen.“ „Mama bitte! Hole Papa dazu. Sitzt er oben im Büro?“Angie, du weißt wie schwer dein Vater arbeitet und dass er für Teenagerprobleme keine Zeit hat. Ich schätze, dass wir deine eventuellen Schwierigkeiten ohne ihn bewältigen können. So schlimm werden sie ja nicht sein.“

„Entschuldigung, jetzt wundert es mich nicht, dass ihre Tochter zu mir kommt und mich ins Vertrauen zieht.“ Ihr Tonfall wurde laut und dominierend. Herr Möller eilte die Treppe herunter und rief, „was ist das für ein Lärm?“ Als er Angies Lehrerin erblickte, blieb er augenblicklich im Türrahmen stehen. „Welchem Grund verdanken wir ihrem Besuch?“ „Das sagte ich bereits ihrer Gattin.“ „Papa, ich muss mit euch beiden sprechen.“ „Muss das jetzt sein? Dann mach`s kurz!“ Eingeschüchtert blickte Angie Hilfe suchend zu Frau Kumbrow. Diese ergriff das Wort: „Seitdem ihre Tochter nach dem Unfall wieder am Unterricht teilnahm, bemerkte ich, dass sie sich von Tag zu Tag, stark veränderte. Sie wirkte traurig und oft abwesend. Ich bot ihr an, dass sie sich jederzeit an mich wenden kann, falls sie ein Problem hat. Gestern kam sie zu mir, erzählte mir von der Vergewaltigung und das sie Schlimmeres befürchtete. Was sich inzwischen bestätigte.“

>>> Ihre Tochter ist schwanger <<<

Es herrschte Totenstille. Herr Möller ließ sich neben seine Frau auf das Sofa fallen. Beide waren starr vor Schreck. Angie blickte abwechselnd zwischen ihren Eltern hin und her. „Nun kennt ihr den Grund, warum ich meine Lehrerin bat mir zu helfen. Ich fürchtete mich, alleine mit euch zu sprechen. Was machen wir jetzt? Ich will das Kind nicht.“ „Natürlich nicht“, sagte Herr Möller. „Das muss schnell und diskret über die Bühne gehen, bevor man etwas merkt. Ich rufe sofort Doktor Arendt an, er weiß sicher, was zu tun ist.“ Frau Kumbrow meldete sich wieder zu Wort und erklärte ihnen, dass die Situation nicht so einfach ist, wie sie sich vorstellten. Die Schwangerschaft ist bereits weit fortgeschritten, was einen Abbruch erschwert. Ich glaube kaum, dass ihr befreundeter Arzt wegen einem illegalen Abbruch seine Zulassung riskiert. Sie sollten umgehend die Beratungsstelle von Pro Familia kontaktieren. Eine Bekannte von mir arbeitet dort. Ich kann versuchen, dass sie kurzfristig einen Termin erhalten. Die Zeit drängt. Noch im Schockzustand sagte Herr Möller: „Wir nehmen gerne ihr Angebot an. Danke, und entschuldigen sie unsere anfängliche Unfreundlichkeit.“ Daraufhin verließ Frau Kumbrow das Haus.

„Auf den Schock brauche ich einen Drink.“ Ohne zu fragen reichte er auch seiner Frau ein Glas. Zu Angie gewandt sagte sie: „Musstest du eine derartige Angelegenheit mit deiner Lehrerin besprechen? Vertraust du deinen eigenen Eltern nicht?“

„Mit Vertrauen hat das nicht zu tun, sondern damit, dass ihr nie Zeit habt. Entweder seit ihr im Stress oder es sind fremde Leute hier. Natürlich glaubt ihr, mir alles zu geben, aber dabei handelt es sich überwiegend um materielle Dinge. Während ich im Krankenhaus lag, bildete ich mir für kurze Zeit ein, dass ihr euch um mich sorgt, leider war das nur eine vorübergehende Anwandlung. Nachdem meine körperlichen Gebrechen verheilten, gingt ihr zur gewohnten Tagesordnung über. Dass ich Nacht für Nacht schlaflos im Bett lag und den Albtraum immer wieder durchlebt habe, davon habt ihr nichts gespürt. Selbst jetzt, zeigt mir euer Verhalten, dass ihr mehr um einen Skandal besorgt seid, als meinetwegen.“ „Entschuldige Angie, denkst du wirklich so über uns und glaubst, dass wir dich vernachlässigen?“

„Ja, irgendwie schon.“ „Das stimmt aber nicht. Wir lieben dich und wollen nur das Beste. Vielleicht fehlt uns die Gabe, dir zu zeigen, wie sehr wir dich lieben.“ Herr Möller trat auf Angie zu und sagte: „Es tut uns weh zu erfahren, dass du dich in all den Jahren ungeliebt fühltest, aber wie deine Mutter schon sagte, stimmt das nicht.“ Angie zuckte mit den Schultern und schaute zu Boden.

„Ich denke für heute lassen wir es gut sein. Jedes weitere Wort führt im Moment zu nichts. Deine Mutter und ich müssen das Gehörte erst einmal verdauen. Morgen nehmen wir gemeinsam dein Problem in Angriff.“ „Du hast Recht.“ Ohne ein weiteres Wort verließ Angie den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie schaute aus dem Fenster ihres Zimmers und blickte in den Garten, wie der Mond durch die Bäume schimmerte. Sie überlegte, was trieb ihre Eltern, wie besessen, immer weiter dem Erfolg hinterher zu hetzen? Einmal belauschte sie ein Gespräch ihrer Großeltern, als sie wütend waren, weil ihre Eltern zum wiederholten Mal ihren Wochenendbesuch absagten. Sie verstand nur Wortfetzen, wir sind ihnen wohl nicht mehr gut genug, wollen immer höher hinaus, irgendwann werden sie auf die Nase fallen. Sie war damals zu klein, um zu verstehen, was die Großeltern meinten. Später erfuhr sie die ganze Geschichte.

Ihre Eltern kannten sich seit Kindertagen. Sie kamen beide aus gutbürgerlichen Familien, die sie selber als spießig bezeichneten. Bis zur mittleren Reife besuchten sie die gleiche Schule in Rosenheim. Richard begann nach der Schule eine Lehre zum Bürokaufmann und Helen machte eine Verkaufslehre in einem Bekleidungsgeschäft.

Beide hatten schon früh das Ziel groß rauszukommen. Weg von dem bürgerlichen mief ihres Elternhauses. Aus diesem Grunde zog es sie in ihrer Freizeit immer nach München. Hier lag ihre Welt und hier fühlten sie sich wohl. So wunderte es niemand, dass sie sich umgehend nach Beendigung ihrer Ausbildung dort um einen Job bemühten. Das Glück war ihnen hold und beide fanden schnell Arbeit. Helen in einer Boutique und Richard in einem Immobilienbüro. Sie gingen viel aus und genossen ihr neues Leben. Sie glaubten, ihr Weg nach oben könne nichts mehr stoppen, aber das Schicksal entschied anders als erwartet. So auch bei Helen und Richard. Sie wurde schwanger und nachdem der erste Schock überwunden war, trafen sie eine Entscheidung. Sie fuhren zu ihren Eltern und hofften, von ihnen Hilfe zu bekommen. Bei der moralischen Einstellung ihrer Eltern, kam ein Abbruch nicht in Frage. Letztendlich entschieden sie, dass Helens Eltern das Kind die ersten Jahre aufziehen sollten, bis sie eine finanzielle Basis geschafft hatten, um gut für ihr Kind zu sorgen.

Um der Moral gerecht zu werden, heirateten sie umgehend. Die Hochzeitsfeier fand im engsten Familienkreis statt.

Am 19. März 1964 wurde Agnes, die von Anfang an Angie gerufen wurde, geboren und nach zwei Monaten zu den Großeltern gebracht. Die erste Zeit besuchten sie ihre Tochter jedes Wochenende, aber mit dem beruflichen Erfolg wurden ihre Besuche immer seltener. Richard arbeitet inzwischen bei einer großen Immobilienfirma, die sich nur auf Luxusobjekte spezialisierte. Natürlich gehörte zu diesem Job, dass man auch in seiner Freizeit, den Kontakt zu potenziellen Kunden pflegte. Diesem Umstand verdankte Helen ihren Neueinstieg nach der Geburt Angies. Bei einer Modenschau lernte sie die Frau eines Klienten von Richard kennen und sie bot ihr die Leitung einer ihrer Boutiquen an. Ihr Erfolg war nicht mehr aufzuhalten und bereits nach fünf Jahren kauften sie das Haus und holten ihre Tochter zu sich.

Gemeinsam saßen sie in dem Büro von Frau Bayer, der Leiterin von Pro Familia. Frau Bayer strahlte Kompetenz und Vertrauen aus. Nach der Begrüßung sprach sie ohne Umschweife den Grund der Zusammenkunft an. „Durch die Informationen von der Lehrerin ihrer Tochter bin ich über die Sachlage im Bilde und leistete bereits einige Vorarbeit. Ich kontaktierte die Ärzte im Krankenhaus und erfuhr, dass die inneren Verletzungen bei ihrer Tochter schwerwiegend waren. Sie sind erleichtert, dass die Narben langsam verheilen, halten allerdings einen Abbruch in dem jetzigen Stadium für bedenklich. Neben der gesundheitlichen Situation, ist die rechtliche Lage zu klären. Sie wissen, dass ihre Tochter bereits die Grenze für einen legalen Abbruchs überschritten hat. Das heißt im Klartext: Es ist notwendig einen Antrag zu stellen, um eine Sondergenehmigung für einen Abbruch zu erwirken. Dabei ist unsere liebe Bürokratie zu berücksichtigen, und das ihnen die Zeit davon läuft.

Ich schlage ihnen eine andere Lösung vor. Ihre Tochter bekommt das Kind.“ „Nein! Schrien alle wie auf Kommando. Auf keinen Fall!“ „Lassen sie mich bitte ausreden, damit ist nichts entschieden. Also nochmals, sie bekommt das Kind und geben es zur Adoption frei. Es gibt so viele Paare die wünschen sich sehnlich ein Kind.“ „Sind sie verrückt“, schrie Herr Möller. „Nein, das bin ich nicht, aber sie sollten der Realität ins Auge sehen und alle Möglichkeiten überdenken. Ich weise sie nochmals darauf hin, dass es nicht sicher ist, ob der Abbruch genehmigt wird. Je eher sie eine Alternative ins Auge ziehen desto besser. Wegen der inneren Verletzungen ihrer Tochter wird man voraussichtlich das Kind durch einen Kaiserschnitt holen. In diesem Fall erlebt sie von der Geburt nichts. Ihr bleibt der erste Schrei des Babys erspart, wodurch jegliche Bindung unterbunden wird im Gegensatz zu einer normalen Geburt. Alle notwendigen Papiere werden im voraus unterzeichnet und das Baby wird, nach der Geburt den Adoptiveltern übergeben.

Angie, ich spreche Sie direkt an, weil es Sie betrifft. Was Ihnen passiert ist, lässt sich nicht mit Worten beschreiben, und ich weiß, dass Sie das Erlebnis nie vergessen können. Durch diese grauenvolle Tat ist traurigerweise ein Lebewesen entstanden. Ihr ungeborenes Baby hat es sich nicht freiwillig ausgesucht, in diese Welt geboren zu werden. Besitzt es kein Recht auf Leben in einer Familie, die es liebt? Sagen sie jetzt nichts. Ich bitte sie, mit ihren Eltern in Ruhe über beide Möglichkeiten nachzudenken. Egal wie Sie sich entscheiden, unterstütze ich Sie bei der weiteren Organisation.“ An Angies Eltern gewandt sagte sie: „Machen sie nicht den Fehler und schicken ihre Tochter zu einem illegalen Abbruch ins Ausland. Das könnte ihr Leben gefährden.“

Wieder zu Hause saßen sie im Wohnzimmer und es herrschte eisiges Schweigen. Frau Möller ertrug die Ruhe nicht und ging in die Küche. Angie kauerte im Sessel und wagte nicht, sich zu bewegen. Herr Möller griff zum Telefon, rief zuerst Doktor Arendt und anschließend seinen Rechtsanwalt an. Mit wenigen Worten erklärte er ihnen die Lage.

Mit einer Kanne frisch gebrühtem Tee kehrte Frau Möller zurück. Sie fragte: „Mit wem hast du telefoniert?“ „Mit Willi, unseren Rechtsanwalt und Doktor Arendt. Es sieht schlecht aus. Beide bestätigten die Aussage von Frau Bayer. Doktor Arendt schlug mir eine andere Möglichkeit vor. Es wäre ein einfacher Weg ohne große Bürokratie.“

„Und was“, fragte Angie.

„Er kennt in der Schweiz ein privates Haus, wo sie schwangere Mädchen aufnehmen. Während des Aufenthalts werden sie unterrichtet und verlieren nicht den Anschluss an die Schule. Die Entbindung findet in eine Privatklinik statt. Es ist bestens organisiert. Was haltet ihr von dem Vorschlag?“

„Das kostet bestimmt viel Geld“, sagte Angie. „Das spielt keine Rolle. Könntest du dir vorstellen, dort hinzugehen?“ Sie sagte kein Wort, sondern schaute beschämt vor sich hin. Frau Möller tat nun ihre Meinung kund. „Ich denke, sie nehmen nur eine begrenzte Anzahl an Mädchen auf, das bedeutet, schnelles Handeln ist angesagt, falls du dich dafür entscheidest. Ich möchte dich nicht beeinflussen, jedoch bedenke, was dich hier erwartet. Eine zermürbende Bürokratie mit ungewissem Ausgang. Was passiert, wenn der Abbruch abgelehnt wird? Willst du mit einem dicken Bauch zur Schule gehen? Was sagst du deinen Mitschülerinnen? Kannst du dir das Spießruten laufen vorstellen?“ Angies Gedanken schwirrten wild durch ihren Kopf. Leise sagte sie zu ihrer Mutter: „So weit überlegte ich nicht.“

„Dass du nicht überlegst, das sehen wir, brummte ihr Vater. Hättest du früher den Mund aufgemacht, dann brauchten wir uns jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen.“ „Richard! Vorwürfe bringen uns auch nicht weiter.“ Angie brach in Tränen aus. Frau Möller warf ihrem Mann einen wütenden Blick zu. „Schau, was du angerichtet hast. Komm Angie, ich bring dich nach oben.“ Sie setzte sich auf den Bettrand und hielt Angies Hand. „Papa meinte es nicht so. Bei uns allen liegen die Nerven blank. Die Idee mit der Schweiz ist nicht schlecht. Dort wärst du mit Gleichgesinnten zusammen und brauchst dich vor keinem zu rechtfertigen. Auf diese Weise sammelst du Kraft für die Geburt. Hier wird es auf jeden Fall schwieriger für dich. Schlaf jetzt erst einmal und morgen reden wir weiter. Gute Nacht, Angie.“

Als sie alleine waren fragte Frau Möller ihren Mann: „Was denkst du?“ „Ich weiß nicht was richtig oder falsch ist, glaube aber, dass es am einfachsten wäre, wenn sie dort hin ginge.“

Frau Möller zuckte zusammen, als Angie plötzlich im Raum stand. Sie waren vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie stupste ihren Mann an und schaltete den Fernseher aus. Angies Vater schaute verstört hoch und es dauerte eine Weile, bis er zurück in die Realität fand. Angie blieb stocksteif auf der Stelle stehen. „Ich konnte nicht schlafen, überlegte hin und her, wog alle Vor- und Nachteile gegeneinander ab und entschied mich in die Schweiz zu gehen.“ Ihre Eltern sprangen auf und umarmten Angie. Sie wirkten erleichtert. Angie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass die Erleichterung ihrer Eltern nicht ihr galt, sondern ihnen selbst, weil sie einen Skandal verhindern wollten.

Herr Möller rief am nächsten Tag Doktor Arendt an und bat ihn, alles in die Wege zu leiten. Bereits nach drei Tagen erhielten sie Bescheid, dass Ende April ein Platz zur Verfügung stand.

Dieser Termin passte hervorragend, weil er genau in den Osterferien lag, so dass Angie bis zu Beginn der Ferien am Unterricht teilnehmen konnte und anschließend nicht mehr in die Schule zurückkehrte.

Frau Möller, ganz Geschäftsfrau, organisierte alles bis ins kleinste Detail. Sie beschloss, Angie alleine zu begleiten. Sie hoffte, wenn sie die letzten Tage gemeinsam verbrachten, ließe sich das Versäumte nachholen. Das Abreisedatum setzte man auf den zwanzigsten April fest. An ihrem letzten Schultag bekam Angie eine persönliche Beurteilung ihrer Leistungen. Frau Kumbrow wünschte ihr viel Glück und Kraft und sagte: „Du weißt, dass du mich zu jeder Zeit anrufen kannst.“ Mit schwerem Herzen verließ sie die Schule.

Der unangenehmste Abschiedsbesuch auf Angies Liste führte zu Stella. Sie fühlte sich schuldig, weil sie sich von Stella zurückgezogen hatte. Beim öffnen der Tür ließ Stella ihrem Unmut freien Lauf. „Du! Was willst du hier? Wochenlang interessierte ich dich nicht. Wenn ich fragte, ob wir etwas unternehmen so wie früher, hieß es, geht nicht, kann nicht, habe keine Zeit. Also, was willst du heute?“ „Mit dir reden, dann verstehst du es. Bitte, hör mich an.“ „Na gut, auf die Story bin ich gespannt.“ Wie früher setzten sie sich auf Stellas Bett und Angie sagte: „Es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen. Im Krankenhaus hatte ich mir geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren, aber es gibt Ausnahmen. Ich bitte dich, lass mich ausreden, fragen kannst du später.“ Stockend erzählte sie, was damals auf dem Heimweg passierte und den entstandenen Folgen. Stella saß zusammengesunken auf dem Bett und weinte. Sie wiederholte immer wieder: „Warum sprachst du nicht früher mit mir?“ „Ich musste zuerst selber klar kommen.“ Angie spürte erneut, wie nahe und verbunden sie Stella war. Zum Abschied versprach sie, so oft wie möglich zu schreiben.

Angie: Es geschah auf dem Heimweg

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