Читать книгу Angie: Es geschah auf dem Heimweg - Christine Lamberty - Страница 6

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Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick wanderte durch den Raum. „Wo bin ich?“ „Willkommen zurück im Leben.“ Eine weiß gekleidete Frau beugte sich über sie und sagte: „Ich rufe den Arzt.“ „Arzt! Warum?“

Wenige Minuten später tastete der Arzt nach ihrem Puls und legte eine Hand an ihre Stirn. „Wie fühlst du dich?“ „Meine Beine sind so schwer und mein Brustkorb schmerzt.“ „Das kommt von dem Gips. Deine beiden Beine sind gebrochen und einige Rippen gequetscht. Du hast uns einen großen Schrecken eingejagt. Vor zwei Tagen wurdest du schwer verletzt hier eingeliefert. Wir vermuteten, dass du Opfer eines Autounfalls mit Fahrerflucht wurdest. Bei weiteren Untersuchungen stellten wir Verletzungen im Genitalbereich fest, die auf ein Gewaltverbrechen schließen. Zum Glück fanden dich zwei Jogger rechtzeitig. Erinnerst du dich an irgendetwas?“ „Nein, an gar nichts.“ „Zerbreche dir nicht den Kopf darüber. Das Wichtigste im Moment ist absolute Ruhe, damit du gesund wirst. Deine Mutter darf dich kurz sehen.“ Erstaunt blickte Angie den Arzt an: „Ist sie hier?“

Leise betrat Frau Möller das Krankenzimmer. Angie erschrak, so blass hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen. Sorgte sie sich etwa wegen ihr? Frau Möller setzte sich neben ihrem Bett auf einen Stuhl und hielt ihre Hand. Ein Gefühl von Wärme durchströmte Angie. Keiner sagte ein Wort, beide wollte den ungewohnten Augenblick festhalten. Minuten später fielen Angie die Augen zu. Die Schmerzmittel taten ihre Wirkung.

Überwältigt von dem Anblick ihrer Tochter, stand Frau Möller im Flur des Krankenhauses und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten. Zwei Polizeibeamte sprachen sie an. Der Ältere reichte ihr die Hand und stellte sich als Hauptkommissar Burger vor. „Wie geht es ihrer Tochter? Wann können wir ihr einige Fragen stellen?“ „Was erwarten sie! Meine Tochter hat gerade das Bewusstsein wiedererlangt.“ „Wir möchten sie nicht bedrängen, aber eine schnelle Aufklärung des Falls dürfte auch in ihrem Sinne sein. Es gibt keine Anhaltspunkte. Die einzigen Informationen, welche uns die Ärzte mitteilten, betrafen die Verletzungen ihre Tochter. Wer ihr das angetan hat, kann nur sie beantworten.“

„Warten wir die nächsten Tage ab, wie die Genesung meiner Tochter voranschreitet.“ Mit diesen Worten verließ Frau Möller die Klinik. Sie besuchte Angie so oft wie möglich. Einige Male begleitete sie ihr Mann. Die Heilung schritt sehr langsam voran und bei der kleinsten Bewegung stöhnte Angie lautstark vor Schmerzen. Sie redete wenig, wenn ihre Mutter das Gespräch auf den verhängnisvollen Tag lenkte, verstummte sie sofort und starrte zur Decke. Der behandelnde Arzt glaubte, dass sie sich weigert, sich zu erinnern und das Erlebte tief in ihrem Inneren verschließt. Mit dieser Theorie mussten sich vorläufig alle Beteiligten abfinden. Dies teilte Frau Möller Hauptkommissar Burger mit, der, zwischen Verzweiflung und Ärger hin und her gerissen, mit seinen Ermittlungen auf der Stelle trat. Nach mehreren behutsamen Versuchen, Angie zu befragen, erhielt er stets die gleiche abgehackte Antwort.

Sie verließ das Haus ihrer Freundin, spürte eine Hand im Nacken, Dunkelheit, Blitzlichter, Stimmen.

Emotionslos spulte sie die Worte wie auswendig gelernt herunter.

Ein Aufruf im Fernsehen und in den Zeitungen, den die Polizei startete, um Zeugen zu finden, blieb bis zum jetzigen Zeitpunkt erfolglos.

Schweißgebadet und nach Atem ringend erwachte sie. Wie spät mochte es sein? Der Raum lag noch im Dunkeln. War das ein Albtraum? Nein! Sie erinnerte sich wieder. In ihrem Kopf blitzen einzelne Momente auf und verschwanden wieder. Sie versuchte die Bilder einzuordnen. Wie fing es an? Da war das Haus ihrer Freundin. Der Fußweg. Plötzlich der Griff im Nacken. Er musste sich angeschlichen haben, riss sie herum, dabei blickte sie in seine stahlblauen Augen, ein kalter Schauer erfasste sie. Mit aller Kraft versuchte sie sich loszureißen, dass stachelte ihn noch mehr an, ihr weh zu tun. Er drückte sie zu Boden, sein Gesicht war hasserfüllt und seine Augen eiskalt. Sie spürte die Schläge auf ihren Körper hernieder prasseln. Es geschah sehr schnell und sie verlor jedes Zeitgefühl. Brutal drang er in sie ein. Seine heftigen Stöße zerrissen sie und erstickten jeden Laut ihrer Stimme. Ihre Kräfte versagten. Das Letzte, was sie erblickte, war eine lange Narbe an seinem Hals und eine Tätowierung am Handgelenk.

< Ein Notenschlüssel >

Dann wurde es Dunkel. Irgendwann später durchdrangen Blitze die Dunkelheit und sie hörte Stimmen. Sie verstand kein Wort und fühlte sich schwerelos, als ob sie schwebte.

Sie schaute zum Fenster, langsam wurde es hell. Aufgewühlt von den Erinnerungen fühlte sie sich erschlagen, als erlebte sie die Tat noch einmal. Sie schwört, niemals darüber zu sprechen.

Sie betraten das Büro der Psychotherapeutin Frau Neuhaus, die vertieft in einer Akte an ihrem Schreibtisch saß und ihr Eintreten überhörte. „Entschuldigung! Möller! Sie wünschten uns zu sprechen?“ „Ja, bitte nehmen sie Platz.“ Sie reichte ihnen die Hand und sagte: „Ich komme gleich auf den Punkt. Es geht um ihre Tochter. Seit ihrem Aufenthalt in unserer Reha-Klinik erreichten wir große Fortschritte in Bezug auf ihre Genesung. Wir sind überzeugt, dass zur weiteren Behandlung, eine regelmäßige ambulante Therapie ausreicht und ihre Tochter normalerweise, nächste Woche die Klinik verlassen könnte.“ „Endlich gute Nachrichten“, sagte Frau Möller, „die vergangenen Wochen belasteten uns schwer. Die Ungewissheit schafft sie es, bleiben Dauerschäden, Fragen über Fragen.“ „Ich möchte ihre Freude nicht trüben. Die körperlichen Verletzungen sind soweit ausgeheilt und ihre Tochter hat das Schlimmste überstanden. Ein größeres Problem bereiten mir ihre seelischen Verletzungen. Trotz meiner langjährigen Erfahrung stoße ich an meine Grenzen. Bei jeder Frage, die das Verbrechen betrafen, reagierte sie ablehnend und verschlossen.“ „Das heißt?“ fragte Herr Möller. „Ihre Tochter braucht eine langfristige spezielle Therapie, damit sie ihr Trauma überwindet. Ich empfehle die Behandlung in einer stationären Psychiatrie.“ „Was? Sie wollen unsere Tochter in die Klapsmühle einweisen?“ „Beruhigen Sie sich bitte, Ihre Tochter ist nicht geisteskrank, aber wenn Sie ihr helfen wollen, überdenken Sie meinen Vorschlag. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“ Eine Woche später holten sie Angie nach Hause.

Das Telefon schrillte durchs Haus, sie eilte nach unten und nahm den Hörer ab. „Ja, bitte!“ „Hauptkommissar Burger, entschuldigen Sie die frühe Störung, Frau Möller. Es betrifft den Fall. Wir schließen die Akte. Der Aufruf in den Medien führte zu keinem Hinweis und ohne den kleinsten Anhaltspunkt, bleibt jede weiter Suche zwecklos. Das wollte ich ihnen persönlich mitteilen. Alles Gute für ihre Tochter.“ Dann legte er auf.

Der Aufruf in den Zeitungen erfolgte am gleichen Tag, neben einem anderen Artikel:

„ Einbruch in Juweliergeschäft“

Auf frischer Tat verhaftete die Polizei gestern Abend in München einen jungen Mann beim Einbruch in ein Juweliergeschäft. Beim anlegen der Handschellen entdeckten die Beamten eine auffällige Tätowierung am Handgelenk des Einbrechers.

Nach zwei Monaten ging Angie wieder zur Schule. Niemand kannte den genauen Grund ihrer langen Abwesenheit. Ihre Eltern informierten die Schule, dass ihre Tochter bei einem Autounfall schwer verletzt wurde und bis auf unbestimmte Zeit dem Unterricht fern bleibt. Diese offizielle Version teilten sie allen Freunden und Bekannten mit, um jedes Gerede im Keim zu ersticken. Mit Hilfe Stellas holte sie in kürzester Zeit den versäumten Unterrichtsstoff nach. Wie zuvor, fiel es Angie leicht zu lernen. Es lenkte sie von ihren düsteren Gedanken ab. Trotzdem bemerkte Frau Kumbrow, dass sich Angies Wesen veränderte. Apathisch starrte sie auf ihr Schreibpult. Ihre Augen blickten matt und unglücklich. Sie schloss daraus, dass dies Nachwirkungen ihres Unfalls waren. Sie vermutete richtig. Nacht für Nacht, schwirrten die gleichen Bilder durch Angies Kopf. Tagsüber schaffte sie es, ihre Dämonen zu verdrängen, aber nachts holten die Albträume sie ein.

Angie: Es geschah auf dem Heimweg

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