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Sie fuhren früh am Morgen los. Beim Abschied drückte Herr Möller Angie einen Kuss auf die Wange und sagte: „Es wird alles gut werden.“ Nach angenehmer Fahrt erreichten sie nachmittags Zürich. Frau Möller reservierte zwei Einzelzimmer in einer kleinen Pension mit Blick auf den See. Beide fühlten sich von der Fahrt ermüdet und gingen nach dem Abendessen, sofort in ihre Zimmer, keinem war nach Reden zumute. Schon während der Fahrt hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Stattdessen schaute Angie starr und verkrampft aus dem Fenster, ohne die Schönheiten der vorbeiziehenden Landschaft zu sehen.

Nach dem Frühstück fuhren sie zum Heim. Es lag zehn Kilometer von Zürich entfernt inmitten einer wunderschönen Parkanlage. Über dem Eingangsportal stand Haus zur Sonne.

Beim Betreten des Hauses umgab sie eine angenehme Atmosphäre, die Angies Nervosität umgehend verschwinden ließ. Sie suchten das Büro der Leitung des Hauses auf. Sie saß an ihrem Schreibtisch, stand auf und fragte, während sie ihnen zur Begrüßung die Hand reichte: „Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Entschuldigung! Möller, das ist meine Tochter Angie, die eine Zeit lang bei Ihnen bleibt.“ „Das trifft sich gut. Ihre Akten liegen soeben bei mir auf dem Schreibtisch, weil ich beabsichtigte, sie anzurufen.“ „Wir reisten früher an, um noch einige Tage gemeinsam zu verbringen.“ „In welchem Hotel sind Sie abgestiegen?“ „Pension Seeblick.“ „Eine hübsche Pension. Wenn es für Sie in Ordnung ist, kann ihre Tochter in drei Tagen einziehen.“ „Selbstverständlich! Wir sind dankbar, dass wir so schnell den freien Platz erhielten.“ „Dann wünsche ich ihnen eine schöne gemeinsame Zeit.“ Draußen fragte Angies Mutter: „Was hältst du von dem Haus?“ Spontan antwortete Angie: „Der erste Eindruck gefällt mir.“

Angie erlebte wunderschöne Tage mit ihrer Mutter, so, wie sie sich immer eine Beziehung zwischen Mutter und Tochter vorstellt hatte. Sie bummelten durch die kleinen Gassen der Altstadt, fuhren mit dem Boot über den Zürichsee und machten einen Ausflug in die nahe gelegene Bergwelt. Sie lachten viel und vergaßen für einen Augenblick, den Grund ihrer Anwesenheit. An ihrem letzten Abend versuchte Angie, ihre innere Unruhe zu unterdrücken. Sie ängstigte sich vor dem morgigen Tag und dem Ungewissen, das sie erwartete.

Frau Groß begleitet sie in Angies Zimmer. „Ich schlage vor, wir beginnen mit der Hausführung, damit deine Mutter sieht wie du die nächsten Monate verbringst. Dein Gepäck packst du später aus.“ Nach der Besichtigung saßen sie bei Frau Groß im Büro und besprachen die restlichen Einzelheiten. Sie hieß Angie nochmals herzlich willkommen, reichte ihr eine Mappe mit alle Informationen der Hausordnung betreffend und ihren Stundenplan. Dann hieß es Abschied nehmen. Angie winkte dem Auto so lange hinterher, bis es ihrem Blickfeld entschwand. Anschließend ging sie in ihr Zimmer. Es lag in der ersten Etage, war sehr geräumig und mit großen Fenstern ausgestattet. Von hier aus schaute sie in den hinteren Teil des Parks. Unter hohen Bäumen standen Bänke die zum Verweilen einluden. Hübsch angelegte Blumenbeete gaben dem Park Farbe. Ihr Zimmer war modern und funktionell eingerichtet. Es enthielt alles Nötige. Am besten gefiel Angie der große Schreibtisch vor dem Fenster. Ein eigenes Duschbad vervollständigte ihr Domizil. Sie war sehr zufrieden mit ihrer Unterkunft. Bis zum Mittagessen dauerte es noch eine Stunde. Zeit genug, ihren Koffer auszupacken.

Im Speisesaal lernte sie die anderen Mädchen kennen. Mit ihr waren sie zu acht. Erst jetzt registrierte Angie, wie exklusive dieses Haus war und schätzte ihre Privilegien, dass sie hier einen Platz bekam. Eine nach der anderen stellte sich vor. Zwei von ihnen, beide achtzehn Jahre Alt und hochschwanger, hofften, dass sie ihr Abitur noch vor der Entbindung schafften. Vier Mädchen, zwischen fünfzehn und sechzehn, legten die Hände auf ihren Bauch und schleuderten, ohne sich zu schämen, ihre Schwangerschaftsmonate in den Raum, fünf...sechs... sechs...fünf...! Schockiert verdüsterte sich Angies Gesichtsausdruck. Dies blieb Marlies, der jüngsten der Gruppe, nicht verborgen. Sie setzte sich neben Angie. Die Augen, fixiert auf ihre Hände gerichtet, nannte sie ihren Namen und ihr Alter. Ihre Stimme brach ab, und sie flüsterte: „Ich bin im vierten Monat.“ Angie griff nach ihrer Hand und lächelte sie an. „Ich bin wie du vierzehn und im gleichen Monat.“ Alle kamen aus reichen Elternhäusern. Nachdem sich jeder vorgestellt hatte, schauten sie gespannt auf Angie. Sie wirkte verlegen, wie locker diese Mädchen ihre Schwangerschaft hinnahmen. Angie rannte aus dem Speisesaal in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und weinte. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Als sie öffnete, stand Marlies mit einer Tasse Tee dort. „Trink das, es beruhigt. Darf ich herein kommen?“ „Natürlich! Du hältst mich bestimmt für zickig, aber das war ein Reflex, mir fällt es schwer darüber zu reden.“ „Das verstehe ich gut. Zu Beginn empfand ich es auch als peinlich und bin immer noch verwundert, wie ungezwungen die anderen damit umgehen. Außerdem gehöre ich, genau wie du, zu den Neuen, weil ich erst vor drei Wochen hier ankam. Übrigens, Herr Schober sucht dich. Zu Beginn führt er mit jedem neuen Mädchen ein Gespräch. Er ist der Hauptlehrer und Ansprechpartner, so ähnlich wie der Schulleiter einer normalen Schule. Er unterrichtet Mathe und Deutsch. Alle anderen Fächer teilen sich Frau Greiner und Frau Koch. Mit Frau Rossmann, der Gymnastiklehrerin, machen wir spezielle Schwangerschaftsgymnastik und sie hält Beratungs- Seminare ab. Du wirst sehen, alle Lehrer sind sehr nett und keiner macht dir Vorhaltungen, warum du hier gelandet bist. Ich denke auf unserer alten Schule bekämen wir mehr Probleme.“ „Das Gleiche sagte meine Mutter, als wir überlegten, ob ich hierher komme oder zu Hause bleibe.“ „Sei froh, dass du dich für dieses Haus entschieden hast. Sie tun alles, damit es uns gut geht.“ „Dann will ich Herrn Schober nicht länger warten lassen. Danke für den Tee.“ „Keine Ursache. Wir müssen doch zusammenhalten.

Angie klopfte an die Bürotür von Herrn Schober und trat ein. „Guten Tag. Ich bin Angie Möller. Sie suchten nach mir?“ „Bitte, nimm Platz. Auch ich möchte dich herzlich willkommen heißen. Die Begrüßungsmappe wurde dir schon ausgehändigt. Lass dir erklären wie der Unterricht hier abläuft. Uschi und Barbara werden separat unterrichtet, weil sie kurz vor dem Abitur stehen. Alle anderen unterrichten wir trotz eurem unterschiedlichen Level zusammen. Es wird am Anfang ungewöhnlich für dich sein, aber mit der Zeit erkennst du, dass es bestens funktioniert. Ihr lernt intensiver, im Gegensatz zu einer regulären Schule, weil wir in der Lage sind, uns persönlicher um jeden Einzelnen zu kümmern. Wir berücksichtigen eurer Schwangerschaft und beachten eure Ruhepausen. Genieße den Rest des Tages und morgen nach dem Frühstück geht es los! Wenn du außerhalb der Essenszeiten Hunger verspürst, findest du etwas in der Küche, sie ist gleich neben dem Speisesaal.“

Mit einem Glas Orangensaft in der Hand erkundete Angie das Haus. Bei ihrem ersten Rundgang mit Frau Groß, war sie viel zu aufgeregt, um sich alles zu merken. Die meisten Räume im Untergeschoss kannte sie: den Speisesaal, die Küche, das Büro von Frau Groß, das Lehrerzimmer, in dem sie mit Herr Schober gesprochen hatte. Sie entdeckte drei weitere Räume. Aus einem hörte sie Stimmen, die anderen standen offen und sie sah Schreibpulte. Das sah nach Klassenzimmer aus. Sie folgte der Treppe nach unten und stand in einem Gymnastikraum mit allen erdenklichen Sportgeräten. Durch eine Glastür gelangte man ins Schwimmbad. In den beiden oberen Etagen lagen die Zimmer der Heimbewohner. Zurück in ihrem Zimmer schaute sie hinaus in den Park. Nach langer Zeit fühlte sie sich zum ersten Mal ruhig und entspannt. Sie setzte sich an den Schreibtisch und las in ihrer Broschüre.

Der Stundenplan erschien ihr auf den ersten Blick sehr umfangreich, und sie hoffte, dem Lehrstoff gewachsen zu sein. Nach dem Abendessen trafen sich alle im Gemeinschaftsraum. Erneut bombardierten sie Angie mit Fragen. „Wie ist es passiert? Wann hast du es bemerkt?“ Ihre Neugier kannte keine Grenzen. Wie bereits am Mittag, zeigte Angie wenig Verlangen, ihre Fragen zu beantworten. Sie ließen nicht locker und bohrten immer weiter. Des lieben Frieden Willens gab sie sich geschlagen. Kurz und bündig sagte sie: „Auf der Geburtstagsparty meiner Freundin lernte ich einen Jungen kennen. Er war sehr süß und gefiel mir auf Anhieb. Wir tanzten und unterhielten uns prächtig. Irgendwann gingen wir in den Garten und es passierte. Am nächsten Tag erinnerte ich mich an nichts mehr. Wir hatten beide zu viel getrunken. Zu spät bemerkte ich die Folgen dieser Nacht. Jetzt bin ich hier gelandet.“ Fassungslos, wie sie reagierten, stockte Angie der Atem. Sie grinsten und gemeinsam wie im Chor, sprudelte es aus ihnen heraus: „Genau wie bei mir.“ Marlies senkte ihren Blick und schämte sich für das Verhalten der anderen. Außer Marlies wirkten sie auf Angie wie frühreife Lolitas. Aufgewühlt ging sie in ihr Zimmer.

Mittlerweile lebte sie seit zwei Monaten hier. Nach ersten Anfangsschwierigkeiten gewöhnte sie sich an die Form des Unterrichts. Die Art, wie die Lehrer unterrichteten, begeisterte sie. Positive stellte sie fest, dass sie in kürzester Zeit wesentlich mehr und effektiver lernte. Ihre Eltern hatten sie bis jetzt kein einziges Mal besucht. Angies Enttäuschung wuchs zunehmend. Besonders weil die anderen jedes Wochenende Besuch bekamen, und sie nur einen Anruf erhielt. Enge Freundschaften bildeten sich hier keine, weil sich ihre Wege schnell wieder trennten. Einmal versuchte sie mit ihnen über Adoption zu sprechen. Es interessierte Angie, von ihnen zu erfahren, was sie bei dem Gedanken empfanden, ihre Babys fortzugeben. Bei diesem Thema stieß sie auf Ablehnung. Ihr Ziel lag nur darin, schnellstens die unangenehme Angelegenheit hinter sich zu bringen, um in ihr gewohntes Leben zurückzukehren. Angie verstand ihre Gefühllosigkeit nicht.

Nach dieser Episode zog sie sich zurück und vergrub sich in ihre Bücher. Marlies, die einzige mit der sie vernünftig reden konnte, war leider nicht mehr hier. Sie erlitt, traurigerweise oder besser gesagt glücklicherweise, eine Fehlgeburt. Angie sehnte sich nach Stella. Mit ihr hätte sie sprechen können. Sie telefonierten einige Male, aber das war nicht das Gleiche.

Der Unterricht gefiel Angie inzwischen so gut, dass in ihr die Idee reifte, bis zum Abitur in ein Internat zu gehen. Was erwartete sie zu Hause? Ihre Eltern würden sich nicht ändern. In der Schule müsste sie viele Fragen über sich ergehen lassen. In einem Internat würde niemand ihre Vergangenheit kennen und der Unterricht wäre so ähnlich wie hier. Natürlich mit größeren Klassen. Sicher würde sie dort auch eine Freundin finden.

Sie suchte Herrn Schober in seinem Büro auf um sich zu erkundigen, was es für Möglichkeiten gäbe. Er befürwortete ihre Idee und fragte, ob sie bereits ein Berufsziel ins Auge gefasst habe? „Ja, es schwirrt mir seit langem durch den Kopf. Meine eigene Lage hat mich praktisch mit der Nase drauf gestoßen. Ich habe den Fehler begangen, mich niemandem anzuvertrauen, weil ich mich hilflos und allein fühlte. Aus diesem Grunde hege ich den Wunsch Psychologie zu studieren, um später mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Besonders liegt mir am Herzen, jungen Mädchen zu helfen.“

„Das hört sich nach konkreten Zielen und äußerst erwachsen an. In deinem Fall empfehle ich dir das Internat in Zürich. Nach dem Abitur hättest du die Möglichkeit, auch dein Studium hier zu absolvieren. Wenn es dir recht ist, besorge ich dir einige Unterlagen. Dann siehst du selber, was dir zusagt. Wie stehen deine Eltern zu deinen Plänen?“ „Sie wissen es noch nicht.“ „Wenn ich richtig informiert bin, wurde für Ende Juli, der Geburtstermin deines Babys ausgerechnet. Ein günstiger Zeitpunkt. Dir bleibt ein Monat zum Regenerieren und im September könntest du ins Internat gehen, vorausgesetzt deine Eltern hegen keine Einwände.“ „Danke, dass sie mir helfen.“ Nachdem Angie das Büro verlassen hatte, blieb er an seinem Schreibtisch sitzen und dachte über sie nach. Ihr nettes unverdorbenes Wesen stand im Gegensatz zu den meisten, der anderen Bewohnern. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass irgendetwas nicht passte, das ausgerechnet sie in solch eine Lage geraten war.

Einige Tage später bekam Angie eine Mappe mit Unterlagen von verschiedenen Internaten. Ihre Wahl fiel auf das Internat in Zürich. Es lag, genau wie hier, in einer Parkanlage und wurde bereits 1875 als höhere Töchterschule gegründet. Ihre Entscheidung teilte sie Herrn Schober mit, der umgehend Kontakt mit dem Sekretariat aufnahm und eine positive Antwort erhielt. Für das neue Schuljahr standen noch zwei Plätze zur Verfügung. Angie lief zurück in ihr Zimmer und schrieb einen Brief an ihre Eltern.

Liebe Eltern,

ich verstehe, dass ihr Verpflichtungen habt und es bis jetzt nicht in euren Zeitplan passte, mich zu besuchen. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Ab und zu ist mir übel, und ich werde immer runder. In den vergangenen Wochen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Trotz der Umstände fühle ich mich hier sehr wohl. Besonders gefällt mir die Art des Unterrichts. Das führte mich zu folgendem Entschluss. Ich beabsichtige in der Schweiz zu bleiben und bis zum Abitur auf ein Internat gehen. Das ist der Anlass meines Schreibens. Alle Unterlagen und ein Antragsformular lege ich bei. Ich bitte euch mir diesen Wunsch zu erfüllen und den Antrag an das Internat zurück zu schicken.

Ich danke euch im voraus.

Viele Grüße Angie

Angie begegnete Frau Groß auf dem Flur und bat sie den Brief für sie aufzugeben. Mit einer selbstverständlichen Geste nahm sie den Brief entgegen. Manchmal blutete ihr Herz, wenn sie über die Ungerechtigkeit im Leben nachdachte. Warum musste ein liebenswertes Kind wie Angie ein solches Schicksal ertragen. Frau Groß kannte als einzige Angies Vergangenheit. Die meisten hier waren verwöhnte frühreife Gören, die nur den Tag herbei sehnten, um zu Hause wieder mit ihren Cliquen von Party zu Party zu ziehen. Natürlich verdankte sie ihren Job diesen leichtsinnigen Mädchen. Trotzdem hielt sich ihre Herzlichkeit ihnen gegenüber in Grenzen. Für Angie dagegen tat sie alles.

Frau Möller sagte am Telefon: „Dein Vater und ich sind sehr erstaunt über deinen Wunsch, auf ein Internat zu gehen. Nach längerem Überlegen befürworteten wir die Idee. Das heißt, du bekommst unseren Segen, und wir werden den Antrag unterschreiben und umgehend absenden.“ „Danke, danke“ schrie Angie in den Hörer und wäre am liebsten vor lauter Freude in die Luft gesprungen, wenn sie sich nicht so plump und unbeweglich gefühlt hätte. „So, wie du reagierst, zweifle ich nicht daran, dass es dein sehnlichster Wunsch ist.“ „Ja, nochmals danke, danke Mama.“ Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel und vergaß vor Aufregung, ihre Mutter zu fragen, wie es ihr geht und Grüße an ihren Vater zu bestellen. Vielleicht lag es daran, dass sie das Gespräch wie einen vereinbarten Geschäftstermin empfand und nicht wie ein Telefonat zwischen Mutter und Tochter. Trotzdem ließ sie sich davon nicht die Vorfreude auf das Internat verderben.

Angie: Es geschah auf dem Heimweg

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