Читать книгу Malefizkrott - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 10
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ОглавлениеEs waren nicht viele, die zwei Minuten vor acht aufrecht auf den Stühlen saßen. Fünfzehn Hanseln vielleicht, davon einer der Vater und der andere der Verleger. Die vordere Reihe war frei geblieben. Richard und ich hatten uns in die Mitte gesetzt. Ganz hinten saß ein Weißhaariger, der Bücher aus dem Regal holte und darin blätterte, bis seine Frau ihn anrunkste. Dann hätte Vater Schrader beinahe den Beginn verpasst. Mit der Hand am Hosenstall kam er die Treppe herabgefußelt. Schwache Blase. Der Vater war eindeutig uncooler als die Tochter.
Lola Schrader setzte sich hinter einen Tisch mit Lämpchen und Wasserglas. Den Haarvorhang hatte sie noch halb zugezogen. Ihr rot geschminkter Mund konnte nicht stillhalten und erzeugte Grübchen in den Backen. Sie schluckte. Auf einmal grinsten wir uns an. Es war nicht ihre erste Lesung, aber die erste, bei der sie selbst hinter dem Tisch mit dem Wasserglas saß. Bisher hatte sie Autoren, die dort saßen, für berühmte Persönlichkeiten gehalten. Nun erkannte sie, dass es eine Lüge war.
Für mich war es auch nicht die erste Lesung, bei der ich im Publikum gesessen hatte, immer im Auftrag einer Zeitung. An Christa Wolf noch vor der Wende bei Wittwer erinnerte ich mich, dem damals einzigen Buchkaufhaus von Stuttgart, eine Betonsünde am Schlossplatz, von der inzwischen ein gläserner Museumswürfel ablenkt. Die Amazone hatte mich geschickt, weil ich Wolfs Selbstversuch gelesen hatte. Marie – wir hatten auch eine schöne kluge Marie gehabt, die später ihren eigenen Krieg führte4 – hatte mich mit dem germanistischen Vokabular gefüttert. Auf meinem Zettel stand: »Das Identitätsparadigma der klassischen Novelle, vom Scheitern her erzählt. Anspruch der Frauen, von Männern, die sie lieben, als Individuum erkannt zu werden. Männer sind unfähig zu dieser Art von Liebe.« Weshalb die weibliche Versuchsperson das Projekt des Geschlechtertauschs abbricht, entsetzt über den Verlust der Fähigkeit zu lieben. »Patriarchale Dichotomie, in Klammern Zweiteilung, die den Mann als eigentlichen Menschen sieht und die Frau als das andere Geschlecht«, hatte ich mir notiert. »Erst aus der Differenz der Geschlechter entsteht Individualität.«
Was ’n Schafscheiß!
Damals hatte ich erwogen, es für wahr zu halten und die Abwesenheit meiner Individualität meiner unterentwickelten Geschlechtsidentität zuzuschreiben und für therapiebedürftig zu halten. Ich weiß nicht mehr, was ich die berühmte Autorin fragte, als wir endlich fragen durften. Aber ich erinnere mich, dass sie mich kaum anschaute und ins Publikum sagte: »Lesen Sie meine Bücher, da finden Sie die Antwort.«
Seitdem wusste ich: Autoren sind immer dümmer als ihre Bücher. Zumindest, wenn sie reden sollen, weshalb sie lieber schreiben. Da bläst ihnen keiner seinen Atem ins Gesicht und verwickelt sie in Gespräche. Das ist die Dichotomie von Autor und Leser. Autoren schreiben, Leser lesen, eine Begegnung ist sinnlos.
Das Publikum war damals von Studenten durchsetzt gewesen. Bei Ursprung saßen vermutlich dieselben Menschen, nur zwanzig Jahre älter geworden. Neue Leser wuchsen nicht mehr nach. Und in dreißig Jahren verschwanden sie auf einen Schlag wie die Bambuswälder in China. Dann starben auch die Pandas aus.
Der einzige Mensch unter dreißig in Ursprungs Keller war ein Junge mit Hüfthosen, schwarzweiß kariertem Blouson, einer großen Postman-Tasche am Riemen quer über dem Leib und einer Windstoßfrisur. Die Haare rutschten ihm beständig in die Augen, weshalb er mit schrägem Kopf darunter hervorlinsen musste. Vermutlich war er ein Klassenkamerad Lolas und in Liebesdingen hier, nicht in Sachen Literatur.
Zwei Minuten nach acht trat Durs neben den Tisch, an dem Lola Schrader mit inzwischen geöffnetem Haarvorhang saß und blicklos ins Publikum blickte wie eine große Schriftstellerin.
»Früher hat Durs nie mehr als ein Dutzend Worte gesagt«, informierte mich Richard wispernd. »Guten Abend, ich habe Interesse …«
»Guten Abend«, sagte der Buchhändler. Er redete übrigens nicht, er stammelte: »Ich habe Interesse an Dingen, von denen ich annehme, dass sie neu sind. Und Sie haben es auch, wie ich sehe. Ich begrüße Lola Schrader. In Zeiten des Bloggens ist es keineswegs selbstverständlich, dass eine junge Autorin das Buch als Veröffentlichungsweg wählt. Sie hat es getan, und jetzt wollen wir sehen, ob es wohlgetan war. Lola Schrader.«
»Ich sag’s gleich«, sagte sie mit nun überraschend leiser Stimme, »die Schülerwettbewerbe schöner Vorlesen habe ich immer verloren.« Sie lachte anfreundelnd.
»Lauter!«, rief der Weißhaarige von hinten.
Setz dich doch nach vorn!, dachte ich und langweilte mich jetzt schon.
Lolas Problem war weniger ein Mangel an Stimme – sie setzte sie nur aus irgendeinem Grund nicht ein – oder ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche, sondern der verfickte Text selbst, der sich im Mund einer Siebzehnjährigen querstellte. »Arkan und Bettie bürsteln im Elternbett. Petra krallt mir die Hose samt Slip vom Hintern. Ein Single-Jersey-Ärmel mischte sich drunter, eine Socke. Kinderzimmersex. Sie stopft mir einen Ärmel in die Möse! Arki platzt rein. Stör jetzt nicht, hau ab, kreischt sie. Knallt ihm ein Brett vor die Eier.«
Richard wechselte unbehaglich den Beinüberschlag. Er gehörte zu den Männern, die von jungen Frauen erwarteten, dass sie nett aussahen und öffentlich vom Weltfrieden sprachen. Dasselbe erwartete er natürlich nicht privat und auch nicht in Büchern. Da durfte sie gern auch mal ein geiles Luder sein. Allerdings sprach man nicht darüber. Es musste ihn irritieren, dass eine Gymnasiastin aus gutem Haus Worte im Mund herumdrehte, die direkt auf seinen Affen zielten.
Lola irritierte es auch, je länger, desto mehr verhaspelte sie sich. Das machte es für uns peinsam. Öffentlich in die Hosen der Zuhörer fassen will gelernt sein.
Der Roman handelte – soweit ich das abschätzen konnte – von einem halben Dutzend zivilisationsgelangweilten Schülerinnen und Schülern, die in den Ferien von Stuttgart nach Barcelona trampen, in besetzten Häusern umsonst Sex haben, hinter Supermärkten containern gehen und jede Menge Drogen und Perversionen ausprobieren. »Guppi hält Nasebohren und Ohrengrubeln im Schulunterricht für Gruppensex.« Schließlich klauen sie vor einem Supermarkt in La Grande Motte ein dreizehnjähriges Mädchen.
Ein Mann halb hinter mir ächzte. Es trug schwarze Hosen, schwarzes Hemd, schwarzen Gürtel, schwarze Schuhe und hatte schwarze Haare, in denen sich schon graue Fäden zeigten. An seinen Stuhlbeinen lehnte eine große schwarze Ledertasche. Ich schätzte ihn auf erfolglosen Lyriker und ambitionierten Blogger Mitte dreißig.
Was hatte er erwartet? Richard und er kannten doch den Geheimcode, mit dem die alten Herren des Feuilletons sich die Tipps zusteckten. Sprachmacht und Stilmix bedeutete: Wichsvorlage! Ungefähr so, wie man bei Nacktfotos nicht Porno sagte, sondern Ästhetik. Und wenn sonst nichts dagegensprach, warum nicht auf das Zucken im Gemächt hören? Aber die Freundin mitnehmen. Die ist auch nicht ganz sauber. Und nachher auf einen Kaffee noch mit hoch. Lola Schrader würde ihren Weg machen, senkrecht nach oben. Das stand schon mal fest.
Auch wenn der Anfang noch holperte.
Fragen wollten, als sie endete und Durs Ursprung mit unergründlichem Lächeln aufstand und uns zu Äußerungen aufforderte, nicht recht aufkommen. Wir mussten erst mal unsere virtuellen Hände aus den Hosen nehmen. Schließlich fragte die Frau des Weißhaarigen mit forscher Stimme voller Brüche: »Was bedeutet der Titel Malefizkrott?«
Lola fabrizierte das Grübchenlächeln, auf das Richard eine Stunde lang gewartet hatte. Ich spürte, wie er ausatmete.
Lola auch, denn sie schaute ihn direkt an. »Tja, ich bin halt selber so eine Malefizkrott!«
Richard atmete wieder ein. Die Krott verstand zu flirten wie eine österreichische Filmdiva.
»Malefiz … das Spiel, das kennen Sie? Ravensburger. Da konnte ich als Kind schon nicht genug von bekommen. Ich habe jedes Au-pair damit genervt. Das Spiel heißt übrigens so, das habe ich kürzlich gelesen, weil die Frau von dem, wo das Spiel erfunden hat, Maier hieß der, glaube ich, zu ihm gesagt hat ›Du bist ein Malefiz‹, als er alle ihre Figuren rausgeworfen hatte. Das ist Latein … aber fragen Sie mich nicht … In Latein habe ich null Peilung.«
Entzückend!
»Von maleficus«, besserwusste Richard prompt, »übel handelnd, gottlos.«
»Danke«, sagte Lola und schenkte Richard einen charmanten Blick. »Und Krott, das ist schwäbisch für Kröte. Sonst noch Fragen?«
Nein, keine. Doch! Der erfolglose Lyriker streckte die Hand. Die beiden Frauen, die bereits nach den Schirmen am Boden gegriffen hatten, richteten sich wieder auf.
»Ja, bitte«, sagte Durs Ursprung.
In der Stille, kurz bevor der Mann genug Luft geholt hatte, ertönte oben im Laden leise das Bimmeln der Türglocke. Ruben Ursprung, der neben dem Treppenaufgang saß, erhob sich und stieg knielahm hinauf.
»Was Sie uns vorgetragen haben, Frau Schrader …«, begann der schwarz gekleidete mutmaßliche Lyriker.
Lola verbiss sich ein Grinsen. Sie war es offenbar noch nicht gewöhnt, mit Frau Schrader angeredet zu werden.
»… klingt versiert, das ist gut geschrieben, Sie beherrschen die Grammatik …«
»Danke schon mal. Denn was jetzt kommt, wird schätzungsweise weniger erfreulich.«
Gelächter.
Der Mann holte noch mal tief Luft. »Was man nicht von allen Ergüssen sagen kann, die man von Jugendlichen vornehmlich im Internet findet …«
Du arroganter Leberkäs, dachte ich. Muss das sein? Das Mädel ist siebzehn!
»… und die ich übrigens auch von Ihnen schon im Hippenblog gelesen habe.«
Lola verzog peinlich berührt das Gesicht. »Jugendsünden!«
Richard schnaubte väterlich amüsiert.
Oben hörte man Ruben fluchen. Ein Bücherstapel flog um.
»Und so muss die Frage erlaubt sein«, der schwarze Lyriker schaute gegen die Decke, »wo Sie das alles herhaben, was Sie uns da verkaufen als Erlebnisse siebzehnjähriger Schüler …«
»Wie?« Lola sah aus, als hätte sie die Frage nicht verstanden.
»Sie beschreiben hier, wie …«, setzte der Schwarze neu an.
In diesem Moment ertönte oben ein Schrei. Die Türglocke bimmelte. Es rumpelte. Dann brüllte Ruben: »Feuer!« Es klang erstaunt. Dann panisch: »Feuer!«
Wir sprangen auf, Lola griff nach ihrem Wasserglas. Der Vater kämpfte sich durch Stühle nach vorn und packte sie. Das Wasserglas fiel ihr aus der Hand. Durs sagte mit Panik in den Augen: »Ruhe bewahren!« Eine der beiden Frauen stolperte. Michel Schrader zerrte seine Tochter zur Treppe und schubste mich beiseite. Richard kümmerte sich um den Weißhaarigen und seine Frau, die am Stock ging.
Bücher stürzten uns auf der Treppe entgegen. Hitze prallte auf uns herab. Der erfolglose Lyriker rutschte auf einem Buch aus und schlug der Länge nach hin. Ich hörte einen Knochen krachen. Da brannte die Wand hinter der Kassentheke bereits lichterloh und ungesunder Rauch sammelte sich unter der Decke.
Richard kam zurück, rannte die Treppe hinunter, kam mit Durs Ursprung wieder herauf und zerrte ihn hinaus.
»Stehen Sie auf!«, sagte ich zu dem Mann am Boden.
»Ich kann das Bein nicht bewegen!«, stöhnte er.
Jemand kam mir zu Hilfe. Gemeinsam zogen wir den Lyriker hoch, wobei er brüllte vor Schmerzen, und schleppten ihn mit baumelndem Bein zur Tür.
Schon fielen die Flammen in die Bücherregale der Seitenwand ein, der Teppich qualmte zum Treppenabgang hinüber, die Holzplatte der Theke knallte und bog sich nach oben. Die gesamte zum Verkauf vorgesehene Lieferung Malefizkröten sprang in Sternschnuppen vom Tisch und verteilte Funken, noch röter und bissiger als das Cover. Sie zündelten die Büchertürme hinauf, während in den brennenden Regalen Buchrücken schmatzend vom Deckel platzten und sich wie Schillerlocken kringelten. Das Feuer flüsterte Thomas Mann, wisperte Marx und Grimmelshausen, rezitierte ein letztes Mal »En un lugar de la mancha«, »Habe nun, ach, Philosphie«, »Wer baute das siebentorige«, »da reist ich nach Deutschland hinüber« und »Das Vergangene ist nicht tot« und knisterte ein letztes Mal »Judenbuche«, »drei Guineen«, »Winnetou« und »Mr Darcy«, bevor es zum bösen Rauschen anschwoll, sich auf die Zeitschriften warf und konkret, Emma und Argument vernichtete. Dann waren die Kochbücher dran. Am längsten hielten die Regionalkrimis stand. Aber als das Schaufenster barst, fegte es sie nach draußen, wo sie wie Partyfackeln auf dem Fußweg in der noch lichten Julinacht liegen blieben und jedes für sich niederflackerten.
Mein Helfer und ich zogen den Verletzten die Straße hinauf und legten ihn auf den regenfeuchten Fußweg. Die anderen hatten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt.
Als die Feuerwehr kam, war schon alles zu spät. Binnen Minuten war die Buchhandlung Durs Ursprung ein Raub der Flammen geworden.