Читать книгу Malefizkrott - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 9

3

Оглавление

Mit Lärm und Wichtigkeit brachen drei Menschen in die Buchhandlung ein, zwei Männer und ein Mädchen. Am dicken schwarzen Haar erkannte ich die Autorin vom Plakat. Lola Schrader war groß und büffelhüftig und sah niemanden, schon deshalb nicht, weil schwarze kinnkurze Haare ihr von beiden Seiten über die Schläfen und Wangen fielen. Sie folgte einem Mann von filigraner Statur, der mit lauter Lehrerstimme »Guten Abend!« rief und auf Durs Ursprung zusteuerte, der das Lächeln auf sein Gesicht zurückzurrte. Die Tür machte ein junger Mann im hellgrauen Anzug mit Schlips zu, der beseligt lächelte.

»Michel Schrader ist mein Name«, erklärte der Filigrane und wandte sich nach seinem Gefolge um. »Und das ist Julius Hezel vom Verlag Yggdrasil …«

»Wir haben telefoniert«, sagte Julius strahlend und reichte seine Hand an der Autorin vorbei zu einem kräftigen Händedruck zuerst dem Alten, dann dem Jungen mit dem Knebelbart hinter der Kassentheke, auf der inzwischen zwanzig Exemplare des callgirlroten Taschenbuchs lagen.

»Ruben Ursprung.« Er streckte die Hand über den Tisch. »Wie Jakobs Erstgeborener. Woran man erkennt, dass mein Vater ursprünglich zwölf Söhne haben wollte. Hat aber nur zu einem gereicht.« Er lachte. Sonst niemand.

»Und«, nahm Michel Schrader wieder das Wort, »das ist Lola, meine Tochter, Lola Schrader. Aber das haben Sie sich vermutlich schon gedacht.« Es fehlte nicht viel, und er hätte seine Tochter aufgefordert, den Buchhändlern die Hand zu geben. Doch sie erinnerte sich von selbst.

»Guten Abend«, sagte sie mit überraschend reifer Stimme.

Ein kleiner Schauer kringelte sich zwischen meinen Schulterblättern.

Durs Ursprungs Blick lagerte sich auf dem jungen Mädchen ab. Sein Lächeln wurde genießerisch. Sein Sohn starrte ihm hasserfüllt in den Nacken.

»Und wo … äh … findet das statt?«, fragte Michel Schrader, sich umschauend. Auch einer, der noch nie hier gewesen war.

Ruben kam hinter der Theke hervor. Der Blick der Autorin taxierte mich blitzkurz, bevor sie die Treppe betrat. Ich kam mir plötzlich durchschaut vor in meiner Montur. Du also auch! Nein, ich nicht! Lola und ich hatten eines nicht gemeinsam: den postpubertären Protest gegen die bürgerliche Bildungskultur. Sie verkörperte alles, was wir immer abgelehnt hatten. Fragen Sie mich nicht, wer wir sind. Unterschichtkinder sagen nicht wir und wollen nicht sein wie die, auch wenn sie die glühend um das beneiden, was sie haben: weiße Kniestrümpfe, Mofas, spendable Verwandte.

Ich hatte das dringende Bedürfnis zu gehen. Hätte ich es mal getan. So griff ich nur nach meinen Zigaretten. Im Augenwinkel sah ich, wie Richard bedächtig die zwei obersten Bücher eines Stapels anhob und Schloss und Fabrik samt Flugblättern der Kommune 1 darunterschob.

Es nieselte. Die Geräusche einer milden Geschäftigkeit hallten in den Gassen des Gerberviertels, Autoreifen auf Kopfsteinpflaster, Stimmen von Frauen, die aus einem Laden traten, Gelächter. Ein Autofahrer versuchte krachend einzuparken.

Richard kam ebenfalls heraus.

»Gut, dass wir so viel zu früh da waren«, bemerkte ich. »Hattest du das geplant?«

Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den Wolkenhimmel, der schmal zwischen den Hausdächern stand.

»Was wolltest du vorhin noch sagen?«, fragte ich. »Das Buch sei so selten, dass du dich gefragt hast …«

»Ja das …« Richard zog sich Teer und Nikotin mit gequälter Miene tief in die Bronchien. Rauchen tut weh, und so sah er auch aus. »Ich wollte mir ein unverfänglicheres Exemplar von Schloss und Fabrik besorgen …«

»Thalheim in Reinform!«

»Dabei musste ich feststellen, dass es sehr selten ist. Es ist mir nicht gelungen, es über Fernleihe zu kriegen. Nicht einmal die Volksausgabe von 1869.«

»Fernleihe?« Ich zog ungebildet die Brauen hoch. Ich hatte nie studiert.

»In den Landes- und Unibibliotheken gibt es viel, aber nicht alles.« Für mich zog Richard nur zu gern alle Schubladen und Karteikästen unnötig gewordener Weltkenntnis auf. »Wenn man ein Buch trotzdem haben wollte, füllte man einen Fernleihschein aus, mit Schreibmaschine: Autor, Titel, Erscheinungsort, Erscheinungsjahr. Den gab man ab, zusammen mit einer Mark fünfzig und einer Postkarte mit der eigenen Adresse, die einem zugeschickt wurde, wenn das Buch eingetroffen war.«

»Eine feine Sache!«

»Ja. Die Bibliothekarin suchte in ihren Katalogen nach der nächstgelegenen Bibliothek, die das Buch im Bestand hatte, und schickte den Fernleihschein dorthin. In meinem Fall war das Frankfurt. Dort aber war das Exemplar von 1846 verschollen. Und auch von der Volksausgabe, die auf Wunsch der Arbeiter in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gedruckt wurde, war kein Exemplar vorhanden. Ich schrieb einen Brief und erhielt eine höfliche Antwort, dass man mir keine Auskunft geben könne, wer wann welches Buch ausgeliehen habe. Fernleihscheine würden nach Abschluss der Ausleihe stets vernichtet. Außerdem seien große Teile des alten Bestandes beim Brand von 1943 zerstört worden.«

»Ich verstehe nicht …«

»Was verstehst du nicht?«

»Wieso fragst du die Bibliothek, an wen die das Buch ausgeliehen hatte?«

»Weil das Buch irgendwoher kommen musste, Lisa.«

»Fotokopieren?«, schlug ich vor.

»Damals hat man nicht fotokopiert! Kopierer wurden erst Mitte bis Ende der siebziger Jahre üblich. Nein, Lisa. Jemand hat 1967 das Original auseinandergenommen, Fremdtexte eingebunden und das Exemplar mit einem neuen Einband versehen. Und ich habe mich gefragt, wo das Original herkam. Und da es so selten war …«

»Ah, verstehe.« Aber so richtig immer noch nicht. »Warum haben die denn so ein seltenes Exemplar genommen? Gut, sie wollten Fraktur, weil das eh keiner lesen kann oder will. Aber dann hätten sie auch Courts-Mahler oder Karl May nehmen können. Davon hatten wir noch in Fraktur gedruckte Exemplare in meiner Schulbibliothek.«

»Eben! Warum ausgerechnet Schloss und Fabrik?«

»Ah!« Auf den kurzen Moment der Erleuchtung folgte Finsternis. »Äh, und warum?«

»Weil die Person, die das Buch verwendet hat, nicht wusste, wie selten es ist. Sie hat es für irgendeinen alten Schmacht-Schinken gehalten. Mir wurde auf einmal klar, dass sie es nicht ausgeliehen haben konnte. Es muss sich in der Privatbibliothek des Vaters ebendieser Person oder in der elterlichen Bibliothek einer befreundeten Person befunden haben. Womöglich beschädigt, weshalb es wertlos erschien. Außerdem musste die betreffende oder eine mit ihr befreundete Person Kenntnisse in Buchbinderei haben.« Richards Augen glitzerten heute noch jagdlustig.

»Und sie musste in Stuttgart studiert haben«, sagte ich.

»Eher in Tübingen. Niemand hat in Stuttgart studiert. Außerdem …« Ein winziges Lächeln kräuselte Richards Mundwinkel. Er versuchte es zu verbergen, indem er sich abwandte, um die Zigarette am Aschenbecher abzutippen.

»Also, wie hast du es rausgekriegt?«

»Ich habe ans Schwarze Brett in der Uni Tübingen einen Zettel gehängt. Auf dem stand: Liebhaberexemplar Schloss und Fabrik, Leipzig, 1846 günstig abzugeben. Dazu meine Telefonnummer, vielmehr die meiner Zimmerwirtin.«

»Und?«

»Ich bin täglich vorbeigegangen, um nachzuschauen. Eines Tages stand an der Wand mit den Anschlägen eine … eine junge Frau.« Richard zog an der Zigarette.

Ich auch.

»Sie studierte die Angebote für Studentenbuden, Lehrbücher, Fahrräder und so weiter und kam zu meinem Zettel und … riss ihn ab. Sie steckte ihn in die Manteltasche und verließ hastig das Gebäude. Ich folgte ihr.«

»Hehe!«

»Damals fand ich es ziemlich kompliziert, junge Frauen anzusprechen. Ich hatte zwei Kilometer Zeit, alle Varianten durchzuspielen. Dann betrat sie in der Philosophenstraße am Nordring ein Studentenwohnheim. Ihr dort hinein zu folgen wagte ich nicht. In den sechziger Jahren, zumindest in denen, aus denen ich kam, siezten Studenten sich noch. Und man stellte sich förmlich vor.«

Ich lachte. »Du warst total verknallt! Wie hübsch!«

»Ich wartete auf ihren Anruf bei meiner Zimmerwirtin, aber er kam nicht. In den folgenden Tagen führte mich mein Weg immer wieder durch die Philosophenstraße. Einmal sah ich sie herauskommen, einmal kam sie gerade zurück, ohne dass ich fähig war, sie anzusprechen. Aber ich hörte, wie eine Freundin sie Marie rief!«

»Das ist ja Literatur, Richard.«

»Ja, sie war die Marie von Goethe bis Böll, die Marie, an die wir uns verlieren, die wir anbeten, die wir nicht kennen, nicht verstehen, von der wir meinen, dass sie uns gehören müsste, die uns verlässt. Meine Marie war schlank, brünett, sie trug Kostüme und Röcke, sie hatte mandelförmige Augen. Ich sah sie und fühlte mich ihr vertraut, als kennten wir uns schon seit der Kindheit. Natürlich war sie für mich unerreichbar. Dennoch folgte ich ihr in Seminare. Sie studierte Anglistik und Geschichte, und die Professoren kannten sie mit Namen: Marie Küfer.«

»Dann stammte Schloss und Fabrik aus ihrem Elternhaus.«

»Mag sein. Ich habe sie nicht gefragt.«

»Aber geredet habt ihr schon miteinander?«

Richard lächelte schief. »Eines Tages setzte sie sich in der Kantine zu mir an den Tisch. Rein zufällig, es waren zwei Plätze frei. Bei ihr war ihr Freund. Sie nannte ihn Wolfi. Ich kannte ihn bereits. Er verwickelte die Professoren gern in endlose Diskussionen über die herrschenden Verhältnisse und die Generation der Täter. Er gehörte dem SDS an, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.«

»Dutschke und Konsorten?«

Richard nickte. »Es lag in der Natur der Sache, dass Wolfi mir nicht sonderlich gefiel. Und ich war absolut überzeugt, dass der nicht der Richtige für Marie sei. Ich hielt ihn für einen selbstverliebten, rücksichtslosen Egozentriker.«

»Darin stimme ich dir vollinhaltlich zu!«

Richard versuchte eine Grimasse ironischer Ergebenheit, aber sie misslang ihm. »Wolfi war ein Grobian, intelligent, aber ungehobelt, und sie hatte so eine Art vornehmer Zurückhaltung, nichts Kumpelhaftes jedenfalls. Und plötzlich saßen die beiden nun an meinem Tisch in der Mensa. Ich weiß nicht mehr, wie wir ins Gespräch kamen – sicherlich nicht mein Verdienst –, aber plötzlich diskutierte ich mit Wolfi über den Spruch ›Sous les pavés, la plage‹.«

»Unterm Pflaster der Strand. Gab es da nicht eine Zeitung?«

»Der PflasterStrand, ja, herausgegeben von Cohn-Bendit, aber das war ungefähr zehn Jahre später. Ich interpretierte den Spruch als Aufforderung zur Gewalt, die er war, und verstieg mich zu der Behauptung, auch Polizisten seien Menschen. Daraufhin meierte Wolf mich als unmündig gehaltenes Subjekt der Gesellschaft ab, blind für die Ökonomisierung der Bildung in Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen. Und so weiter. Doch, prophezeite er, die Geschichte werde letztlich auch meine abgeschlossene Welt verändern. Ich fragte: ›Wie, mit Bomben?‹ – ›Mit Mao-Cocktails‹, antwortete er.«

Richard sah mir an, dass ich entschlossen war, meine Ahnungslosigkeit hinter dem Fluch der späten Geburt zu verstecken.

»Eine Anspielung auf den Aufreger des Jahres 1967. Der amerikanische Vizepräsident sollte nach Deutschland kommen. In der Kommune 1 heckte man geeignete Maßnahmen zum Empfang aus. Man dachte an Rauchbomben, aber es gab einige, die fürchteten, dass die US-Sicherheitskräfte dann ein Blutbad anrichten würden. Ein V-Mann unter den Kommunarden war vermutlich etwas zu früh gegangen. Jedenfalls wurden elf Studenten, unter ihnen Fritz Teufel, festgenommen, die Bild-Zeitung sprach von Bomben, hochexplosiven Chemikalien, mit Sprengstoff gefüllten Plastikbeuteln, die von den Terroristen Mao-Cocktails genannt würden. Aber es war dann halt nur Pudding.«

»Pudding?«

»Ja, das Zeug aus Milch und Maizena mit Vanille oder Schokolade. Die elf Puddingattentäter wurden unter öffentlichen Gelächter am anderen Tag wieder freigelassen und erlangten internationalen Ruhm. So kam es, dass Uwe Johnson … der Schriftsteller …«

Ich nickte. »Ist mir vage bekannt.«

»… der gerade in den USA lebte, in der New York Times las, dass diese ungezogenen jungen Leute sein Arbeitsatelier in Berlin-Friedenau als Basislager für den Anschlag missbraucht hatten. Johnson stand seit langem in regem freundschaftlichem Briefwechsel mit Günter Grass.«

»Kenne ich: Massenonanie auf einem Wrack.«

»Deshalb bat er ihn um Hilfe. Und Grass veranlasste, ausgestattet mit einer Vollmacht, die Räumung der Wohnung, die unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit stattfand.«

»Hähä, Grass der Rausschmeißer der Puddingschmeißer!«

»Er befand, die Wohnung hätte nach Lager ausgesehen, aber von Johnsons Schriften fehle nichts, nur ein Chemiebuch habe die Polizei beschlagnahmt.«

»Oha! Wozu brauchte Uwe Johnson ein Chemiebuch? Sehr verdächtig.«

Richard zündete sich die zweite Zigarette an. »So war das damals. Man schloss aus dem Bücherschrank auf das Wissen der Besitzer. Heute muss man dazu das Internetprotokoll nachvollziehen. Es war tatsächlich nicht so ohne, dass ich dieses Hybridbüchlein mit den Kommunardentexten besaß. Und da saß ich nun auch noch mit Wolfi an einem Tisch. Es war eine Zeit, in der die Gesellschaft Angst vor ihrer Jugend hatte …«

»Hat sie das nicht immer?«

»Aber damals autorisierte sie die Polizei, mit Schlagstöcken auf die Jugend einzuprügeln. Und Männer mit Hut sagten in die Fernsehkameras: ›Auf der Flucht erschießen!‹ Leute wie Wolfi machten Studenten wie mir, die einfach nur irgendwie durchkommen und Abschlüsse machen wollten, Angst. Er verkündete: ›Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch!‹ Ich widersprach vehement und nannte Wolfi einen selbstgerechten Egoisten! Daraufhin schlug er mir ohne weitere Umschweife die Faust ins Gesicht.«

»Hui!«

»Ich hagelte zwischen die Mensatische und blutete aus der Nase. Marie gab mir ihr Taschentuch, eines aus Stoff, wie man es damals hatte.« Richard drehte sich um und stippte die Zigarette im Aschenbecher aus.

Ich legte meine längst ausgekühlte Kippe dazu. »Und dann?«

»Immerhin nahm Marie mich jetzt wahr.« Er schaute auf die Uhr. »Ich glaube, wir sollten …«

»Und das Buch? Hast du sie gefragt …«

»Ehrlich gesagt, das Buch interessierte mich nur noch am Rande. Marie und meine vergeblichen Gefühle für sie nahmen mich voll in Anspruch.«

»Was ist aus ihr geworden?«

Richard zuckte mit den Achseln.

»Und aus Wolfi?«

Seine Antwort kam zögernd. »Ich habe mir später die RAF-Fahndungsplakate, die in Postämtern und öffentlichen Gebäuden hingen, stets angeschaut, ob ich Wolfi erkenne, aber … nein.«

»He! Willst du mich verarschen?« Ich gab ihm einen Stoß vor die Brust. Er stolperte rückwärts gegen den Tisch. Ich packte ihn vorsichtshalber am Revers seines maßgeschneiderten Anzugs, was unnötig war, mir aber gut gefiel.

Er umfasste mein Handgelenk. »Lisa, bitte!« Er hätte mir problemlos Sehnen und Knochen zerquetschen können, aber er war ein der Gewalt grundsätzlich abgeneigter Mann. »Nicht jetzt!«

Zwei Frauen hatten sich genähert, klappten die Schirme zusammen und schauten uns erschrocken an.

Ich ließ Richard los. »Aaaabend!«

»Guten Abend!«, kam es doppelt indigniert zurück.

Richard hielt ihnen die Tür auf.

Auf dem Weg durch den Laden zur Treppe zog ich hinter seinem Rücken das Büchlein aus dem Stapel, in das er es vorhin geschoben hatte. Mein Mittelfinger ertastete nebenbei auf der Rückseite ein Loch, aber jetzt war nicht die Zeit, es mir anzuschauen. Ich steckte das Unikat in die Innentasche meiner Bikerjacke. Daher der Name Taschenbuch.

Malefizkrott

Подняться наверх