Читать книгу Malefizkrott - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 8

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Die Affäre Lola Schrader begann unauffällig im Frühsommerdauerregen des Jahres, in dem Deutschland wieder nicht Fußball-Weltmeister wurde. Richard Weber, der die Zeitung bis in alle Winkel der Veranstaltungshinweise und Notrufnummern las, rief mich an und sagte: »Heute Abend liest Lola Schrader in der Buchhandlung Ursprung.«

»Rettet uns das?«, fragte ich.

»Sie ist die Tochter der Schauspielerin Marlies Schrader.«

Ich kramte in meinem Bildergedächtnis. »Eine Blondine?«

»Nein, eine Brünette. Ich glaube, sie spielt auch in irgendeiner Soko mit.«

»Und deren Tochter schreibt Gedichte?«

»Nein, Romane, zumindest einen.«

»Ist sie blond?«

»Weiß ich nicht, Lisa. Aber sie liest bei Durs Ursprung. Das ist nicht nichts. Außerdem war ich seit Jahrzehnten nicht mehr dort. Ich wusste gar nicht, dass es den Laden noch gibt.«

Ich hatte nie gewusst, dass es ihn gab. Buchläden sind nicht so mein Ding.

»Er hatte früher die beste antiquarische Sammlung juristischer Bücher«, schwärmte der Oberstaatsanwalt, »und das Schöne war für mich als Jurastudent: Die meisten hatten Markierungen und Kommentare anderer Studenten. Also, was ist? Kommst du mit?«

»Ich habe nichts zum Anziehen!«

Richard lachte. »Sagen wir, um sieben am Tor?«

Mein Kleiderschrank stand im Badezimmer, das größer war als meine Schlafzelle. Nach dem Brand in der Wohnung über mir und dem Wasserschaden hatte ich mit dem Gedanken gespielt, die Neckarstraße aufzugeben. Aber ich war sowieso nie richtig eingezogen. Warum nicht die Chance nutzen, aus der Behausung eine Wohnung zu machen? Überlebt hatte nur der alte Kneipentisch und seine vier Stühle. Der Rest war neu: Küche, Tapeten, Sofa, Fernseher, Regale im Schlafzimmer für die Bücher, die ich bisher in Pappkartons unterm Bett gelagert hatte, der Kleiderschrank und der Teppich im Badezimmer, in das ich außerdem ein rundes Tischchen und zwei Designerplastikschalensessel gestellt hatte, einfach nur, weil sie gut aussahen.

Auch wenn das Schöne und Unnütze schleichend Macht über mich gewann, für meinen Auftritt bei einer schöngeistigen Veranstaltung und die Begegnung mit einer jungen – sicherlich hübschen – Autorin brauchte ich was Abschreckendes.

Ich ließ die Lesben-Konzepte Revue passieren. Wenn Männer sich nach Gusto anziehen, geht es nicht darum, gut auszusehen, sondern zum Fürchten. Früher hatte man Messer und Kriegsbemalung, heute gibt es bollerige Jeans, Ringelshirts und bunte Windjacken. Für den Business-Auftritt hat die Lesbe einen dunkelgrauen Dreiteiler mit Hemd, Halstuch und Taschenuhr. Sublim wird’s, wenn sie sich in Rock und Boutiquenjacke schlägt und in Pumps auf die Weltbühne stampft, als sei sie ein geschminkter Mann. Konnte ich alles bieten. Aber im Grunde wollen wir nur das eine: Hardcore. Damals hatte ich gerade im Kino die letzte Folge der Verfilmungen dieses schwedischen Erfolgsautors gesehen – Sie wissen schon, der gestorben ist, bevor er berühmt wurde – und mich in den Comicpunk der Heldin verkuschelt. Das bin ja ich!, hatte ich in der Dunkelheit des Kinos gedacht, nur eben schon viel länger als die. Es war mir eine Erleuchtung gewesen. Seit vierzig Jahren suchte ich mein Ich. Und da sprang es auf der Leinwand umher, dünner, hübscher, mit Asperger-Syndrom – ich habe weniger spektakuläre, bin auch nicht hochbegabt und würde weder einen Kopfschuss überleben, noch aus meinem eigenen Grab krabbeln. Andererseits, wer weiß … Geld habe ich auch.

Im Grunde brauchte ich nicht zu überlegen. Ich zog die Jeans an, die ich mir kürzlich im Abseits für ein Vermögen gekauft hatte: hell, weit, zerschunden, löchrig und ölverschmiert, dazu Bikerstiefel, die Motorradjacke mit Kupfernieten und immer klirrenden Schnallen an Ärmeln und Hüfte, einen schwarzen Hoody mit Kapuze über dem Jackenkragen und jede Menge Leder um die Handgelenke. Vor dem Spiegel bepinselte ich Wimpern, Brauen und Lider und sprayte die eine lange schwarze Strähne meines ansonsten blondierten Kurzhaars über die Stirn ins Auge. Nicht zu vergessen die Narben, die mir einst eine berstende Windsschutzscheibe ins Gesicht geschlagen hatte. Sie waren in all den Jahren verblasst. Deshalb schattierte ich sie zu besonderen Gelegenheiten mit einem roten Kajal dezent ab.

Cipión stand mit gesenkter Rute in der Tür. Der Dackel wusste: Je länger ich vor dem Badezimmerspiegel mit Stiften klackerte, desto geringer war seine Chance, mitgenommen zu werden.

»So, ziehet Sie wieder amol in den Krieg?«, fragte Oma Scheible im Treppenhaus. »Passetse uf, gell!«

Draußen herrschte Getröpfel. Schirme verhakelten sich auf dem schmalen Fußweg zwischen Parkplätzen und den Schaufenstern von Sparback und Fimse. Am Ausfahrttor der Staatsanwaltschaft, meinem Haus genau gegenüber, stieg ich in Richards Limousine. Er trug einen bräunlichen Dreiteiler, Schlips und Platinmanschettenknöpfe und den Hochmut des Erfolgs. Dabei ging es ihm gar nicht gut derzeit.

Die Buchhandlung Ursprung lag in der Gerberstraße. Sie war gerade mal eine Tür und ein Fenster breit. Davor stand ein Schemel mit Tisch und Aschenbecher. An der Tür hing ein mit dem Computer gebasteltes Plakat mit der Einladung zur heutigen Lesung. Haare von gewaltiger Schwärze erdrückten das Gesicht der kindlichen Autorin.

»Wir sind zu früh«, bemerkte ich. »Es beginnt zwanzig Uhr, nicht neunzehn Uhr dreißig!« Ein Irrtum, der Richard eigentlich nicht zu unterlaufen pflegte. In seinem Gedächtnis blieben Zahlen und Namen haften wie an einem Fliegenfänger.

»Hm«, machte er, zündete sich eine Zigarette an und ließ den Blick zum Cowboystiefelladen an der Ecke wandern. »Eigentlich schade ums Gerberviertel«, bemerkte er. »In ein paar Monaten ist es umzingelt von Baustellen. Dann können die Läden alle dichtmachen.«

»Du kaufst eh keine Cowboystiefel.«

»Ich denke nicht immer nur an mich, Lisa! Das sind Existenzen. Die meisten Ladeninhaber haben Schulden gemacht, die noch lange nicht abbezahlt sind. Und abgesehen davon, meine Lesebrille habe ich da drüben um die Ecke in der Sichtbar gekauft. Und in der Nesenbachstraße gibt es den einzigen Krimibuchladen von Stuttgart, das Under-Cover.«

»Du liest doch gar keine Krimis, Richard. Zu viele Leichen, zu viele Morde!«

Schon die beiden Schlüsselworte machten ihn schaudern. Er war noch empfindlicher geworden seit der Sache mit der toten Familienrichterin und dem Findelbaby, das er nach fünf Tagen Vaterglück seiner biologischen Mutter hatte zurückgeben wollen und müssen.1 Seitdem arbeitete er bis zum Wachkoma und verbrachte seine Freizeit entweder auf dem Tennisplatz, im Fitnessstudio, in Balingen bei seiner Mutter oder an seinem Bechsteinstutzflügel. Und er hatte seinen Urlaub verfallen lassen.

»Ob Durs Ursprung das überlebt, weiß ich nicht«, sinnierte Richard und blies den Rauch in den gerade mal trockenen Regenhimmel über den Häusern der schmalen Gasse. »Stuttgart würde was verlieren. Zu seinen Lesungen sind alle gekommen, die Philosophen der Frankfurter Schule: Marcuse, Habermas … Die Großen aus der Gruppe 47. Sogar Böll war hier, in Ursprungs Keller. Peter Handke, der hat hier die Gruppe 47 beschimpft: dumme und läppische Prosa. Und Martin Walser hat von einem imperialistischen Monopol zur Einschüchterung von Kritikern, Lesern und Öffentlichkeit gesprochen.«

Das war vor meiner vernunftbegabten Zeit gewesen. »Wieso Einschüchterung?«

»Das ist wie heute. Wenn unser Fernsehkritiker Heinrich Weinrich alle Vierteljahr einen Autor einlädt und drei weitere Bücher in die Kamera hält, dann haben eben nur zwölf im Jahr das große Los gezogen.«

»Aber Einschüchterung?«

»Wen er abkanzelt, der ist für den Rest seines Lebens gezeichnet und schreibt nur noch, um sich an Weinrich zu rächen.« Richard wandte sich zum Schaufenster um. »Durs Ursprungs Laden war immer anders. Hier stehen Bücher, die niemand lobt oder kritisiert. Hier steht alles!«

Deshalb mag ich keine Buchhandlungen. Es sind mir zu viele Bücher. Sie schreien nach Respekt, jedes einzelne für sich. Und nicht nur die alten, über die man reden können sollte. Sie alle wollen Erfolg von mir und beschimpfen mich, weil ich sie nicht kaufe. Manche werden frech, springen mich an. Nimm mich, verschenk mich! Tod in Degerloch, Tod im Trollinger, Tod am Hölderlinplatz … Brrr! In Krimis sind Frauen immer entweder blondes Gift oder vergiften andere oder beides.

»Und in dieser Fensterecke«, fuhr Richard fort, »hingen früher die Schriftsätze vom Gericht, wenn Durs Ursprung mal wieder einen Spendenaufruf für eine Zahnbehandlung von RAF-Terroristen unterschieben hatte oder dergleichen.«

»Jaha, das waren noch Zeiten!«, seufzte ich mit falscher Inbrunst.

Richard löschte die Kippe im Aschenbecher auf dem Tisch neben der Tür, als ich mir gerade selbst eine anzünden wollte. »Buchhändler wie Durs sind eine aussterbende Art.«

Ich steckte meine Schachtel wieder weg. Die Tür streifte ein Glöckchen. Der Laden war eng. Und das lag an den Büchern. Es waren zu viele. Sie füllten nicht nur die Regale, sie stapelten sich auch auf dem Boden. In wankenden Türmen. Im vorderen Bereich lagen auf einem Tisch ein paar Zugeständnisse an den Mainstream, die neuesten Mankells, Suters, Browns und Schätzings und ein paar Gartenbücher. Der hintere Teil war staubgewordene Literaturgeschichte, durch die sich schmale Pfade schlängelten. Sogar auf den Stufen einer Treppe, die in den Keller führte, türmten sich die Schwarten.

Am Kassentresen stand ein kleiner Mann in grünem Hemd mit gesundem Bäuchlein, Glatze und an die siebzig Jahren im Gesicht, auf dem ein amüsiertes Lächeln lag.

»’n Abend«, murmelte Richard. Der breitbrüstige Staatsanwalt wirkte verblüffend schüchtern. Während sein Blick über die Bücherregale und Stapel glitt, ruhten die blauen Augen des Buchhändlers auf mir. Und er dachte gar nicht daran, daraus ein Hehl zu machen.

So ist es recht!, dachte ich. Schau du nur! So was wie mich gab’s früher nicht. Ich bin queer, original Falschgeld, transgender und polyamant. Falls du weißt, was das ist.

Durs lächelte. Womöglich dachte er, ich hätte mich in der Tür geirrt. Die Homo-Buchhandlung Erlkönig befand sich eine Kopfsteingasse weiter, in der Nesenbachstraße. In den Anfängen meiner Stuttgarter Zeit, als ich im Auftrag der einen oder anderen Kollegin des Lesbenmagazins Amazone Bücher zu klauen pflegte – auch mal einen Bildband mit nackten Kerlen –, hatte sich der Erlkönig noch ganz woanders befunden. In Stuttgart wanderten die Läden. Die kleinen an den Rand, die großen ins Zentrum.

»Ist das dichtende Kind schon da?«, erkundigte ich mich. Ich hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, das buddhistische Lächeln des Buchhändlers aufzustechen, indem ich ihn zum Reden zwang. Vermutlich eine Falle, in die alle Kunden tappten. Und schon hatte man sich ihm ausgeliefert.

»Bist du von der Presse?«, fragte er zurück. »Ich kenne dich nicht. Du warst noch nie hier.«

»Schwabenreporterin Lisa Nerz. Freelancer«, sagte ich.

Der Buchhändler lächelte. Er hatte nichts verraten, ich alles. Sein Blick sprang zu Richard.

Ich hob Hände und Augenbrauen: Gehört nicht zu mir, kenne ich nicht!

Für einen Augenblick verlor Durs sein Lächeln und sah gallig aus. Vielleicht erkannte er, was ein Staatsanwalt war. Davon bekam Richard jedoch nichts mit. Er ging in der Nähe der Treppe aufs gut betuchte Knie, stabilisierte mit einer Hand einen Buchturm und zupfte geübt mit Daumen und Zeigefinger aus dem unteren Drittel ein kleinformatiges Buch hervor: harter Pappdeckel in meliertes Papier geschlagen, ordentlich gebunden.

Durs zog die Brauen hoch. »Alter Kunde?«

Richard drehte sich um. Seine Hand mit dem Buch zitterte. »Das … das haben Sie noch?«

Durs Ursprung lächelte. Für solche Momente war er Buchhändler geworden. Damit harte Männer in guten Anzügen wie Richard weiche Stimmen bekamen.

»Wie hieß doch dieser Roman mit dem Friedhof der vergessenen Bücher?«, überlegte Richard. »La sombra del viento.2 Die Idee ist bestrickend. Man fragt sich, warum vorher noch nie jemand darauf gekommen ist.«

»Vielleicht das Geheimnis guter Bücher«, bemerkte Durs.

»Auf diesem Friedhof dürfen sich manche ein Buch aussuchen, das für eine gewisse Zeit Teil ihres Lebens wird, bis sie es wieder zurückstellen und dem ewigen Vergessen anheimgeben. Ich glaube, dass jedem Menschen – sofern er liest – in seiner Jugend ein Buch in die Hände gefallen ist, das ihn mehr berührt hat als jedes andere, auch wenn seine Qualität zweifelhaft war. Erwähnt man dieses Buch später einmal, schütteln alle ratlos die Köpfe. Doch im eigenen Kopf ist es immer präsent, eine Geschichte, eine Figur, eine Idee, die einen für das ganze Leben unauffällig prägt.«

Durs lächelte wissend.

»Auf der anderen Seite verzweifelt ein Autor an seiner Erfolglosigkeit. Er setzt alles daran, die wenigen Exemplare einer winzigen Auflage, die noch übrig sind, zu vernichten, zu verbrennen. Denn den Geist eines Buchs vernichtet man nur durch Feuer …«

»Geht am schnellsten«, bemerkte ich. »Papier verrottet schlecht, brennt aber gut.«

Es war ein sonderbares Blickgefecht, das die beiden Schwaben ausfochten. Richards Hand zitterte nicht mehr. Allerlei Bildung auffahren und reden war das Mittel seiner Wahl, um mit seiner eigenen Erregung fertigzuwerden. So hart, wie er das gefundene Buch mit der Hand umspannte, war er noch immer nicht so ruhig, wie er zu sein wünschte.

»Doch es wird ihm nicht gelingen«, fuhr er fort. »Auf dem Friedhof der vergessenen Bücher wird ein Exemplar überleben. Und so muss der Autor wahnsinnig werden angesichts seiner Ohnmacht, darüber zu bestimmen, ob er Anerkennung bekommt. Bekommt er sie nicht, kann er doch das Zeugnis seines Versuchs niemals mehr zurücknehmen. Hat er seine Welt – und jedes Buch enthält eine Welt, die es vorher nicht gab – einmal aus der Hand in die Öffentlichkeit gegeben, ist sie nicht mehr zu vernichten. In mindestens einem Kopf bleibt sie lebendig.«

Durs hob das Kinn. »Und dieses Buch da«, Richard siezte er, »ist nun jenes, welches Ihnen in die Hände gefallen ist?«

»Es hat mir einer in Ihrem Laden geschenkt«, erwiderte Richard. »Ich hatte es gerade aus einem Stapel gezogen. Ein anderer, ein Schriftsteller, den Sie gut kannten, sah mich – 1967 war das.«

In mir stöhnten die Jahrzehnte. Da war ich gerade eben so auf der Welt gewesen.

»Er erzählte Ihnen, Herr Ursprung, er habe als junger Mann nie Geld gehabt, um sich Bücher zu kaufen. Oftmals habe er sich gewünscht, es möge ihm einer ein Buch schenken. Deshalb wolle er mir nun dieses schenken.«

Richards Finger lösten sich langsam, als falle es ihm schwer, das Büchlein aus dem Schutz seiner warmen Hand zu entlassen. Während er es hochhielt, damit wir den Titel sehen konnten, bemerkte ich auf der Rückseite einen eigenartig schwarzen Fleck mitten im melierten Deckel.

»Dieses Buch war Schloss und Fabrik von Louise Otto«, erläuterte Richard. »Ich hätte es mir nicht ausgesucht, wenn ich mir ein Buch hätte aussuchen dürfen, das ein anderer bezahlt.«

Durs schmunzelte.

»Ein Werk einer großen Frauenrechtlerin des Vormärz, heute bekannt unter dem Namen Otto-Peters«, erklärte Richard. »Sie schrieb nicht nur für die Rechte der Arbeiter, sondern auch für die der Arbeiterinnen.«

Ich grinste Unwissenheit in den Laden. Mein Feminismus hatte erst in den achtziger Jahren begonnen. Dafür aber sehr lila.

»Der erste Band von Schloss und Fabrik ist 1846 erschienen und sofort von der Zensur verboten worden. Eine zensierte Ausgabe kam ein paar Jahre später, drei Bände. Erst 1996, nach dem Fund der Zensurakten, ist es dann wieder aufgelegt worden.«

»Also ist es gar kein vergessenes Buch«, bemerkte ich.

»Wie man es nimmt. Louise Otto-Peters ist als erste Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins bestimmt noch einigen ein Begriff. Aber Schloss und Fabrik gehört sicherlich zu den Büchern, an denen nur hartgesottene Literaturwissenschaftler…äh…innen ihre Freude haben. Im Bücherschrank meines Vaters befand es sich jedenfalls nicht.« Er lachte kurz und bitter. Sein Vater hatte auf der anderen Seite gestanden. Er war Fabrikant gewesen, wenn auch ohne Schloss.

Vorsichtig schlug Richard das Buch auf. Die Bindung knackte leise. Er holte die Lesebrille aus dem Jackett, überflog eine Seite, lächelte peinlich berührt und las vor: »›Thalheim mogte …‹«

»Mogte? Himmel!«

»›… mogte einige dreißig Jahre zählen. Die Züge seines Antlitzes waren von männlicher Schönheit und antiker Regelmäßigkeit; aber aus den leichten Furchen seiner hohen, breiten Stirn, Furchen, welche nur der Schmerz gezogen haben konnte, war bald zu lesen, daß manch hartes Geschick den Mann getroffen haben mogte, und die Blässe seines Antlitzes, das dunkle Feuer, das in seinen tiefblauen Augen brannte, das schmerzliche Zucken um den Mund, das die Oberlippe emporzog und ihn halb öffnete, so daß man eine Reihe großer mormorweißer Zähne gewahrte, deutete auch jetzt auf ein schmerzlich bewegtes Inneres. Bei all dem aber konnte Thalheims Anblick auch in seiner jetzigen niedergebeugten Stellung weniger Mitleid als Ehrfurcht erwecken. Etwas Unaussprechliches, Unnennbares prägte sich in seiner Gestalt, auf seinem Gesichte aus, etwas Heiliges, Unüberwindliches.‹«

»Was ’n Kitsch!«, seufzte ich und wischte mir eine Träne aus dem Auge, die meine zur Nadel geschmierte Haarspitze gestochen hatte.

Richard hielt den Blick gesenkt und gestand: »Schon hier im Laden, als ich das Buch aufschlug, hat es mir genau diese Stelle angeboten. Ich befand mich damals in einer schwierigen Lebensphase. Ich hatte mich mit meinem Vater überworfen, ich fühlte mich ausgestoßen und gesichtslos. Ich suchte nach meinem Gesicht, nach einem Gestus, den ich mir und meinem Leben geben konnte. Und fand es«, wieder zuckte sein Mund peinlichst berührt, »in diesem Thalheim, dem edlen Arbeiter, dem heimlichen Schriftsteller, der sich aus Gründen unverdienter Armut hatte verdingen müssen und um seine Würde ringt. Er ist … er war lange Zeit so etwas wie ein … Vorbild möchte ich nicht sagen … eine Selbstprojektion.« Richard blickte uns über die Brillenränder hinweg herausfordernd an. »Manchmal denke ich, Bücher sind das Privateste überhaupt. Was wir mit ihnen erleben, bleibt unser Geheimnis, vielleicht unser größtes.«

Warum lüftete er es jetzt?

Durs hatte, ohne es zu merken, die Hand ausgestreckt.

»Ja«, sagte Richard, »ich hatte schon damals den Eindruck, dass Sie das Buch lieber behalten hätten.«

Durs ließ die Hand fallen.

»Tatsächlich ist es ein Buch, das es gar nicht geben sollte. Es ist ein Unikat. Bücher sind normalerweise keine Unikate, es widerspricht ihrem Charakter. Aber dieses hier ist eines. Es ist ein Zwitter aus Alt und Neu. Es ist in Fraktur gedruckt, der Einband ist neu. Und es enthält etwas, was nicht hineingehört.«

Richard blätterte. Wir warteten gebannt, der Buchhändler und ich.

In der Stille hörte man Schritte von unten die Treppe herauftappen. Ein schwerfälliger Mittvierziger erschien. Er trug einen verzogenen Pullover und Jeans. Sein Kinn zierte ein geflochtener Knebelbart, die Haare hatte er zum Pferdeschwanz zurückgebunden, seine Oberlippe war rasiert. Er war Durs wie aus dem Gesicht geschnitten, nur fehlte seiner Galligkeit der Schleier des Lächelns. »Abend!«, sagte er und begab sich geschäftig hinter die Kassentheke. Er bückte sich und wuchtete ein Postpaket auf den Tisch.

Wir wandten uns wieder Richard zu, der mit aufgeschlagenem Buch vor uns stand und darauf wartete vorzulesen. Doch was er uns präsentierte, war unerwartet anders als das »mogte« Thalheims.

»›Mit einem neuen Gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: Ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole: Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl, dabei zu sein und mitzubrennen, das wir in Berlin bislang noch missen müssen …‹« Richard blickte uns über die Lesebrille hinweg an. »Eine Anspielung auf den Brand im Brüsseler Kaufhaus A l’innovation im Mai 1967. Dabei kamen 322 Menschen ums Leben. Vietnamkriegsgegner hatten Böller hochgehen lassen.«

»Übel!«, bemerkte ich.

Durs nickte erinnerungsschwer.

»Und hier heißt es«, fuhr Richard fort: »›Sosehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: Wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das bei aller menschlichen Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen.‹«

Der Bärtige hinter der Kassentheke lachte meckernd. »Nichts freut den Literaten mehr als der Tod.«

»Das ist ein Flugblatt der Kommune 1«, antwortete Richard mit gerunzelter Stirn.

»Und was macht das in einem Buch aus dem Vormärz?«, fragte ich.

»Es war in Zeiten vor dem Internet eine Möglichkeit, indizierte Texte in Umlauf zu bringen, versteckt unter einem irreführenden Buchtitel und ersten Kapiteln. Orwells 1984 war so in der DDR jahrelang im Umlauf. Dieses Büchlein hier konnte im Bücherschrank eines APO-Studenten stehen, ohne Verdacht zu erregen.«

»Da stand es aber nicht, sondern hier!«, bemerkte ich.

»Das hat mir einer dieser Verrückten untergeschoben!«, sagte Durs. Es klang wie eine Ausrede aus der Mottenkiste.

Der Mann mit dem geflochtenen Kinnbart lachte wieder. »Ich dachte, sie hätten dich immer nur beklaut, die Linken, nicht beschenkt.« Er hatte eine Schere in der Hand, ließ sie zweimal schnappen und hieb sie ins Klebeband des Postpakets, um es aufzuratschen.

»›Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus‹«, las Richard weiter, »›die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: Sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben, und Brüssel wird Hanoi.‹«

»Klingt schwer nach RAF«, sinnierte der Knebelbart. Er war dabei, Bücher mit callgirlrotem Cover neben der Kasse zu stapeln.

»Die Kommune 1 war nicht die RAF!«, wies ihn Durs zurecht.

»Aber damit hat es angefangen«, sagte Richard. »Etwa ein Jahr später, im April 1968, kundschafteten Baader, Ensslin und zwei weitere in Frankfurt Kaufhäuser aus und legten in zweien Brandsätze mit Zündzeitverzögerern …«

Die beiden Buchhändler blickten Richard erschrocken an.

»Äh … mit Zeitzündern«, korrigierte er sein Strafaktendeutsch, »die um Mitternacht losgingen. Das Feuer richtete nur geringen Schaden an, aber es löste die Sprinkleranlagen aus. Der Sachschaden betrug mehr als eine halbe Million Mark.«

»Oha!«, sagte ich. »Und so ein brandgefährliches Buch hast du besessen?«

Durs schlitzte die Augen. Also doch!, dachte er sichtbar, die gehören doch zusammen.

»In der Tat, es hat mir in den Händen gebrannt!«, sagte Richard. »Der Zynismus der Texte hat mich erschreckt. Bis heute fällt es mir schwer, einzusehen, dass sie ironisch gemeint sind. Damals war ich ein reichlich unpolitischer, desorientierter junger Mensch, der hoffte, seine ersten Semester Jura in Tübingen zu überleben, und davon träumte, in eine schlagende Verbindung aufgenommen zu werden.«

Durs verzog das Gesicht durchaus verzeihend.

»Die Medien bliesen zur Jagd auf das, was sie unreife Ignoranten und Kommunisten mit SA-Methoden nannten. Man prügelte auf Demonstranten ein.«

Wir dachten, es käme noch was, aber Richard schwieg plötzlich.

»Und da dachten Sie, Sie legen das Buch zu Ursprung zurück, der steht eh mit einem Bein im Gefängnis«, bemerkte Durs Ursprung.

»Nein, ich dachte daran, es zu verbrennen. Das gestaltete sich jedoch schwieriger als angenommen. Bei Nacht ist jedes Feuer hell, bei Tag gucken andere zu, auf der Neckarwiese ist man nie allein, auch im Wald nicht, und zu tief ins Unterholz traute ich mich nicht, nachher hätte ich noch einen Waldbrand verursacht.«

Durs konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Ich hinkte wie üblich hinterher und verstand nichts. »Was hat das Buch denn aber hier im Laden zu suchen gehabt?«

Richard blickte mich über die Brille hinweg an.

»Ich meine, Flugblätter heißen Flugblätter, weil sie überall umherfliegen. Und die Flugblätter der Kommune 1, die brauchte man doch nicht in einem Buch aus dem Vormärz zu verstecken und dann hier zu deponieren.«

»Wenn Sie politisch naive Studenten wie mich erreichen sollten, dann schon.«

Ich musste lachen. »Und weil Thalheim dein rationales Immunsystem geschwächt hat, konnten die Kommunardentexte dich ebenfalls infizieren. Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht!«

»Bis dahin fließt noch viel Wasser den Nesenbach runter«, bemerkte der Mann mit dem Knebelbart.

Durs Ursprung schlitzte die blauen Augen. »Herr … äh …«

»Weber, Richard Weber.«

»Herr Weber. Kann es sein, dass ich Sie kenne?«

Richard hielt dem Blick des Alten stand. »Das glaube ich kaum.«

»Warum haben Sie das Buch nun zurückgebracht?«

»Ich wollte für unbestimmte Zeit nach Argentinien gehen.3 Ein neuer Lebensabschnitt begann, und«, Richard lächelte schief, »über Thalheim war ich hinweg. Doch wegwerfen kann ich Bücher bis heute nicht. Ich finde, sie passen nicht in die Mülltonne zwischen Kartoffelschalen und Milchtüten. Das kann man dem schäbigsten Buch nicht antun. Und Papiertonnen gab es damals noch nicht …«

»Und das war …«

»Kurz vor Weihnachten 1978.«

»Im Deutschen Herbst«, bemerkte Durs. »Schleyer, die Landshut …«

»Nicht zu vergessen der Mord an Baader, Raspe und Ensslin in Stammheim«, ergänzte sein Sohn hinter der Theke.

»Für Fremdeinwirkung gab es nie Beweise«, erwiderte Richard.

Der Knebelbart lachte meckernd. »Das kennt man ja!« Dabei war er eigentlich zu jung für die RAF.

»Ich weiß nicht, was genau Sie kennen«, sagte Richard mit Untergrundschärfe. »Aber die Toten sind zweimal obduziert und die Todesumstände von einem halben Dutzend Gutachtern der Europäischen Kommission untersucht worden. Hinweise für Fremdeinwirkung haben sich nie gefunden. Baader kann sich den Genickschuss selbst beigebracht haben. Das Einzige, was man uns, also dem Staat, vorwerfen kann, ist, dass man womöglich von den Waffen und Selbstmordabsichten der Gefangenen wusste und sie gewähren ließ, um sie loszuwerden.«

Ursprung juniors Blick hatte etwas Unbelehrbares.

»Ich sehe, Sie wissen da was«, bemerkte der Senior. »Sind Sie Richter?«

Richard senkte den Blick. »Nein.«

Erwartungsvoll schauten wir den kleinen eleganten Mann mit der Statur eines Ringers an, der ein Buch in den Händen hielt und reglos den inneren Kämpfen seiner Jugend nachspürte. Aber er sagte nichts mehr.

»Und dann hat es wieder dreißig Jahre hier gelegen, das Buch«, bemerkte ich. »Und niemand, überhaupt niemand hat sich jemals dafür interessiert.«

»Man hätte den Saustall schon lange ausmisten müssen!«, meckerte der Knebelbart.

Der Alte warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Dann hätte Herr Weber uns aber niemals diese Geschichte erzählen können.«

Plötzlich erkannte ich das Geheimnis von Durs Ursprungs Laden. Hier begegnete man sich selbst und offenbarte die intimsten Geheimnisse seines Lebens. Es war sein Lächeln, das einen dazu zwang. Als ob man den Tausenden hinter Buchrücken schweigenden Geschichten seine eigene hinzufügen müsste, eine möglichst merkwürdige, eine kuriose Geschichte, mit der man sich zum Teil der Legende dieses Ladens machte.

»Übrigens«, sagte Richard mit untergründigem Lächeln, »ist das Buch so selten, dass ich mich gefragt habe …«

Das Bimmeln der Türglocke unterbrach ihn.

Malefizkrott

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