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Meine Geburtstagsfeier findet auf dem Gelände vor unserem Haus statt. Der Rat hat ein Schwein gespendet, das vor dem Häuserblock über einem Feuer brät. Der Duft zieht selbst diejenigen an, die noch nicht von meiner Teilnahme am Programm gehört haben. Alle, die Essbares entbehren können und sich bei meinem Vater einschleimen wollen, steuern etwas zum Festmahl bei, indem sie selbstgebackenes Brot mitbringen oder Maiskolben. Außerdem hat mein Vater stark gesüßten Palmschnaps und Kartoffeln besorgt. Ich stehe mit hängenden Armen da in meinem roten Kleid und komme mir komplett fehl am Platz vor, wie ein Mutant inmitten von Unversehrten. Ständig reicht mir jemand die Hand oder rubbelt über meine Schulter und lobt meinen Einsatz für die Kolonie. Ich spiele die wohlerzogene Tochter, indem ich lächle und mich für die guten Wünsche bedanke, während ich unauffällig nach einer Fluchtmöglichkeit suche. Endlich kommt Manja. Sie wirkt blass und übernächtigt und fühlt sich offensichtlich ebenso unwohl wie ich.

»Wo ist Paul?«, frage ich.

»Er schafft es nicht«, raunt sie mir zu, »ich soll dir ausrichten, dass er bei sich zuhause auf dich wartet.«

Ihr Blick sagt mir, dass sie weiß, was zwischen Paul und mir läuft, und zwar nicht erst seit heute.

»Hast du Hunger?«, frage ich, um abzulenken.

Sie deutet auf die Becher mit dem Palmenschnaps. »Eher Durst.«

Gemeinsam machen wir uns über den Alkohol her, bis mein Vater an mich herantritt und mich ermahnt, nicht so viel zu trinken, damit ich bei der offiziellen Ehrung nicht betrunken bin und außerdem demonstriere, dass ich auf meinen Körper achte. Wie auf Kommando erscheint General Albert, was die Stimmung der Leute gewaltig dämpft. Dabei wirkt er nicht mal besonders beindruckend, eher lächerlich. Er ist klein, O-beinig und hager und macht immer eine verkniffene Miene, als leide er unter Verstopfung. Seine Brille, ein überdimensioniertes Drahtgestell, ist selbst nach unseren Maßstäben hässlich und alt. In seiner Position könnte er sicher eine Ansehnlichere bekommen. Aber er gehört dem Offiziersrat an, weswegen ihm alle mit Achtung begegnen. Nach dem Salut meines Vaters begrüßt er ihn mit einem Händedruck. Glücklicherweise müssen Zivilisten nicht salutieren, sodass mir das erspart bleibt. Die Höflichkeit fordert, dass ich ihm etwas zu Essen bringe, während mein Vater ihm einen großen Schluck Palmschnaps einschenkt. Er wirkt angespannt und wachsam. Seltsam. Er scheint sich in General Alberts Nähe ebenso unwohl zu fühlen wie ich.

»Du bist also Jule«, schnarrt General Albert, als ich ihm einen Teller reiche. Dabei mustert er mich auf eine abschätzende Weise, als würde er versuchen, meinen Wert zu erfassen. »Ich erinnere mich noch, als du gerade mal so groß gewesen bist.« Er hält die Hand in Höhe seiner Hüfte.

Verkrampft zwinge ich meine Mundwinkel nach oben und hoffe, dass es wie ein Lächeln aussieht.

»Es erfüllt uns mit Stolz, dass du dich bereit erklärt hast, dich für den Erhalt der Kolonie einzusetzen. In der Tat bist du die Tochter deines Vaters. Mutig und stark«, fährt er fort. Das soll wohl ein Kompliment sein, klingt aus General Alberts Mund jedoch wie eine Beleidigung. Mit einem Seitenblick registriere ich, wie nervös mein Vater ist. Bestimmt befürchtet er, ich könnte bockig werden und verraten, was ich wirklich vom Reproduktionsprogramm halte. Natürlich tue ich das nicht. Ich lächle und bedanke mich für das Lob. Dafür macht Manja eine finstere Miene, die für uns beide reicht.

Nach dem Essen beginnt die Zeremonie. General Albert rückt seine Brille zurecht und schwadroniert über die glorreiche Zukunft der fünf Kolonien und den Erfolg des Reproduktionsprogramms, bevor er sich offiziell bei mir und allen anderen Frauen, die bereits das Opfer gebracht haben und noch bringen werden, bedankt. Einige Leute haben Tränen in den Augen vor Rührung. Anschließend zählt er die Privilegien auf, die ich und meine Familie dank der Teilnahme am Programm erwarten dürfen, was die Leute zu neidvollen Aahs und Oohs verleitet. Bestimmt hoffen viele in ebendiesem Moment, dass ihr Nachwuchs fruchtbar sein möge. Als General Albert mir den Pin mit dem roten Herz ansteckt, brandet Beifall auf. Palmschnaps macht die Runde gefolgt von Hochrufen auf meine Gesundheit. Mein Vater steht daneben, wie ein Schwachsinniger grinsend. Er wirkt erleichtert. Mittlerweile sind meine Wangen verkrampft vom ständigen Lächeln und meine Augen tränen. Ich muss unbedingt hier weg. Ein paar Männer mit Gitarren und Mundharmonika finden sich zusammen und beginnen, zu musizieren. Eine Frau singt dazu. Sie hat eine tolle Stimme und normalerweise würde ich ihr gerne eine Weile zuhören, aber da sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Band richtet, ist das die beste Gelegenheit, um zu verschwinden. Gemeinsam mit Manja husche ich zwischen den Wohnblocks davon. Wir gehen zum Fluss, setzen uns auf den Bootssteg und stippen die Füße ins Wasser. Ich warte darauf, dass sie mich nach meinem Besuch bei Fabio fragt, doch das tut sie nicht. Stattdessen reden wir über Belanglosigkeiten. Obwohl wir beide wissen, dass dies mein letzter Abend in Freiheit ist, wagen wir nicht, das Thema anzuschneiden. Der Mond wirft sein fahles Licht auf das Wasser. In der Ferne tuckert ein Dieselmotor. Alles wirkt fast schmerzhaft friedlich.

Und endgültig.

»Das ist Müll, was der Albert erzählt, das weißt du oder?«, beginnt Manja schließlich.

»Ja«, stimme ich zu. »Ich weiß.«

Was ich auch weiß ist, dass sie mit mir abhauen würde, doch das will ich nicht. Nicht, solange ich keine Ahnung habe, was da draußen auf uns wartet. Fabios Worte, so vage sie auch waren, wirkten nicht gerade verheißungsvoll. Aber was ist das kleinere Übel? Die Außenwelt oder das Programm?

»Ich würde mit dir abhauen«, bestätigt Manja. Sie sieht mich nicht an, spricht in eine unbestimmte Ferne. Sie versucht gefasst zu wirken, doch ich sehe ihre Kiefernmuskeln zucken, und wie sie mit den Händen die Planken des Bootsstegs umklammert, bis ihre Knöchel weiß hervortreten. Sie ist mindestens genauso angespannt wie ich.

»Dafür fehlt mir der Mut«, gebe ich zu. »Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Und wie Paul gesagt hat: Es geht vorbei.«

»Ach Paul, dieser Arschkriecher.« Sie nimmt meine Hand und sieht mich zum ersten Mal, seit wir auf dem Bootssteg sitzen, an. »Alles scheiße, oder?«

Ich lasse den Kopf sinken. Aus irgendeinem Grund schießen mir Tränen in die Augen und fließen über meine Wangen. Manja lässt mich weinen und versucht nicht, mich mit billigen Phrasen zu trösten.

Bevor wir uns verabschieden, nehme ich ihr das Versprechen ab, die Kolonie nicht zu verlassen und schwöre ihr im Gegenzug, dass sie und ihre Familie einen Teil der Essensmarken bekommen, die mein Vater für mich erhält, damit ihr Bruder keine Pilze mehr verkaufen muss. Sie tut als könnte sie das keinesfalls annehmen, doch ich bestehe darauf. Außer meinem Vater habe ich keine Familie und als Kommandant ist er gut versorgt. Manja braucht die extra Rationen dringender.

Anschließend gehe ich zu Paul. Es ist bereits nach Mitternacht, als ich seinen Wohnblock erreiche. Glücklicherweise wohnt er mit seinen Eltern im Erdgeschoss, sodass ich mich nicht durch das Treppenhaus schleichen muss. So leise wie möglich klopfe ich gegen sein Fenster. Er öffnet sofort und ich klettere ich in sein Zimmer. Da stehen wir und betrachten einander. Mondlicht erhellt den Raum und lässt unsere Gesichter unnatürlich bleich wirken. Um meine Beklommenheit zu vertreiben, streiche ich seine Haare zur Seite, damit ich seine Augen sehen kann, die in dem spärlichen Licht ganz dunkel aussehen. Wir müssen nicht reden, es ist bereits alles gesagt. Was wir im Begriff sind zu tun, haben wir nicht abgesprochen, und zum ersten Mal stehen wir nicht unter dem Einfluss der Zauberpilze. Pauls Kuss ist entsprechend zaghaft, wird jedoch rasch drängender, als ich meine Hände unter sein T-Shirt schiebe und über seinen Rücken taste. Seine Haut ist warm und glatt. Hastig streifen wir unsere Kleider ab und sinken auf das schmale Bett. Sex ohne Zauberpilze ist anderes, aber überraschend schön, doch wir müssen leise sein. Pauls Eltern schlafen nebenan und die Wände sind dünn.


Im Morgengrauen husche ich nach Hause, wo ich meine Habseligkeiten in eine große Segeltuchtasche packe und mich an die Hoffnung klammere, dass ich durch die Nacht mit Paul schwanger geworden bin. Das würde mir den ersten Eingriff ersparen. Mein Vater sitzt am Küchentisch, den Rücken gerade, die Hände wie zu einem Gebet gefaltet. Er fragt nicht, wo ich die ganze Nacht gewesen bin und ich hülle mich in Schweigen. An den Schatten unter seinen Augen und der bleichen Haut erkenne ich, dass er nicht viel geschlafen hat. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich abgehauen sein könnte, und ist jetzt erleichtert.

»Du bist eine Heldin«, versucht er mich aufzumuntern.

Ich schnaube abfällig. »Wohl eher eine Gefangene, die irgendwelche Wissenschaftler an ihrem Körper herumpfuschen lassen und Kinder bekommen muss, die ihr gleich nach der Geburt aus den Armen gerissen werden. Klingt wirklich heldenhaft, das muss ich schon sagen.«

Nach meinen Worten wirkt mein Vater bedrückt, sodass ich fast ein schlechtes Gewissen bekomme. Aber nur fast.

»Es ist ja nicht für ewig«, murmelt er.

»Du hast gut reden.« Ich sollte lieber schweigen, denn es ändert nichts, wenn ich jetzt mit ihm streite, doch die Worte sprudeln einfach aus mir heraus. »Meine besten Jahre werde ich hinter den Mauern des medizinischen Zentrums verbringen. Wer weiß, in welchem Zustand ich sein werde, wenn ich rauskomme.«

Meine Sorge ist nicht ganz unbegründet, mein Vater weiß das. Die meisten Frauen sind nach den zehn Jahren körperlich und seelisch am Ende, nur spricht niemand darüber. Am allerwenigsten die Betroffenen.

Schweigend starren wir einander an. Ich sehe das Zucken seiner Kiefermuskeln, weil er so fest die Zähne zusammenbeißt.

»Dann geh nicht«, sagt er plötzlich.

»Was?« Ich bin perplex. Mein Vater rät mir, nicht zu gehen. Mein Vater! Das ist ein regelrechter Schock.

Angespannt balle ich die Hände zu Fäusten. »Ist das dein ernst?«

Er zögert. Ich erkenne seinen inneren Kampf.

»Riskierst du damit nicht deinen Posten?«, fahre ich fort. »Alles, wofür du so hart gearbeitet hast?«

Daran hätte ich ihn lieber nicht erinnern sollen. Seine Arbeit bedeutet ihm alles. Mehr als seine Frau und auch mehr als ich. Eine halbe Minute verstreicht, während der ich beobachten kann, wie sein Wagemut versiegt und die Vernunft die Oberhand gewinnt. Er strafft sich, seine Miene wird hart. Resigniert wende ich mich wieder meiner Tasche zu, stopfe zwei Jeanshosen und fünf Paar Socken hinein und ziehe den Reißverschluss zu. »Fertig.«

Mein Vater greift nach der Tasche, doch ich bin schneller und schnappe sie ihm weg.

»Ich bringe dich hin«, sagt er.

»Nicht nötig«, stoße ich unnötig giftig hervor. »Das schaffe ich allein. Schließlich bin ich eine Heldin


Das medizinische Zentrum besteht aus einem riesigen, mit einem Maschendrahtzaun gesicherten Bereich aus drei u-förmig angeordneten Betonbauten mit Flachdach. Um hineinzugelangen, muss man durch das Laborgebäude zu einer verschlossenen Hintertür hinaus. Ich komme mir vor wie eine Verbrecherin, als mich Oberst Weiß in Empfang nimmt und mich über das Gelände zu einem Tor führt, das sich auf ein Signal hin öffnet. Es gibt nicht viel Grün in der Kolonie, doch hier ist es wie in der Wellblechsiedlung. Trocken und trostlos. Die Sonne knallt auf die Flachdächer hinab, bringt die Luft zum Flimmern. Zwischen den Gebäuden zu meiner Rechten entdecke ich einen Spielplatz. Eine Rutsche, eine Wippe und zwei Schaukeln aus Metallgestänge, von dem die Farbe abblättert. Rost blitzt an einigen Stellen hervor. Er wirkt nicht weniger trostlos als das Gelände.

Vor dem Eingang des Gebäudes Nummer drei, welches sich an der Stirnseite befindet, haben sich zwei Soldaten der Neuen Armee postiert, eine Frau und ein Mann. Beide sind blutjung, ungewöhnlich groß und muskulös. Ihre Gesichter ähneln einander, als wären sie Geschwister.

Sie salutieren, grüßen aber nicht. Langsam erwache ich aus meiner Lethargie und spüre, wie die Aufregung durch meine Eingeweide kriecht und sich in meinem Magen zu einem Klumpen verdichtet.

»Keine Sorge«, sagt Oberst Weiß mit einem Blick auf mein Gesicht. »Die Soldaten dienen unserem Schutz. Innerhalb der Häuser und auf dem Gelände dürfen sich die Probanden frei bewegen.«

Die Probanden. Dazu gehöre ich. Ich frage mich, vor was die Soldaten uns beschützen sollen. Das Gelände ist komplett umzäunt. Und warum sollte jemand den Wunsch verspüren, gerade hier einzudringen?

Oberst Weiß lotst mich durch die Tür und führt mich zu einem Empfangstresen, hinter dem ebenfalls eine jugendliche Soldatin sitzt. Sie ist definitiv jünger als ich und ich wundere mich, warum ich sie nie in der Schule gesehen habe. Sie salutiert und reicht Oberst Weiß ein Formular und einen Stift. Dafür, dass Papierknappheit herrscht, gibt es im medizinischen Zentrum ausgesprochen viele Formulare, finde ich.

Während er schreibt, sehe ich mich um. Der Eingangsbereich wirkt verhältnismäßig freundlich. Mehrere mannshohe Kakteen und Drachenbäume entlang der Wände und ein halbes Dutzend gut erhaltener Sessel in der Ecke verleihen dem Raum einen Hauch Gemütlichkeit. Wieder stelle ich mir vor, wie viele Menschen aus der Wellblechsiedlung hier bequem Platz fänden.

Nachdem Oberst Weiß alles ausgefüllt hat, führt er mich durch einen Gang mit fensterlosen Räumen zu beiden Seiten. Die Türen stehen offen, doch die Räume liegen im Dunkeln. Blaue und weiße Lichter blinken, erhellen für den Bruchteil einer Sekunde unheimliche Apparaturen.

»Das ist die medizinische Station. Hier werden die Untersuchungen und Eingriffe durchgeführt«, erklärt Oberst Weiß. »Deine Untersuchungen beginnen übermorgen. Bis dahin hast du Zeit, die Räumlichkeiten und die anderen Probanden kennenzulernen.«

Im zweiten Stock führt er mich zu einem jungen Mann, der vor der Tür auf uns wartet. Er ist ganz in Weiß gekleidet, und obwohl er kein Mitglied der Neuen Armee zu sein scheint, ist sein blondes Haar millimeterkurz geschoren.

»Samuel«, sagt Oberst Weiß. »Das ist Jule, unser Neuzugang.«

Samuel mustert mich aus schmalen, graugrünen Augen. Sein gelangweilter Blick und sein Schmollmund erinnern mich an die Empfangsdame, bei der ich mich eine Woche zuvor angemeldet habe.

»Samuel wird dich herumführen«, erklärt Oberst Weiß, als dieser keine Anstalten macht, mich zu begrüßen. Dann verabschiedet er sich und lässt mich mit dem missmutigen Kerl allein.

»Folge mir«, sagt Samuel. Seine Stimme klingt angenehm weich aber der Tonfall zeugt von völligem Desinteresse gegenüber meiner Person. Gelangweilt führt er mich durch die Flure zu meinem Zimmer. Der Ärger über seine unhöfliche Schweigsamkeit vertreibt fast meine Aufregung. Sind ein paar freundliche Worte angesichts meines Opfers etwa zuviel verlangt?

Das Zimmer ist größer als mein Zimmer zuhause und verfügt über ein eigenes Bad. Für mich ist das nichts Besonderes, aber ich kann mir gut vorstellen, wie das auf jemanden aus der Wellblechsiedlung wirken muss. Samuel nickt mir zum Abschied zu und schließt die Tür. Weder hat er mir verraten, wie es weitergeht, noch was heute passieren wird. Soll ich für den Rest des Tages in meinem Zimmer bleiben? Was ist mit Essen? Ermattet sinke ich auf das Bett, schlinge die Arme um meine Knie und starre auf das Stillleben an der Wand. Sonnenblumen in einer Vase. Ob irgendwo auf der Welt überhaupt noch Sonnenblumen wachsen? In der Kolonie ist es jedenfalls zu trocken dafür.

Ich vermisse meine Freiheit.

Und Manja und Paul. Sogar meinen Vater vermisse ich, obwohl der Gedanke an ihn zugleich verbunden ist mit Wut. Außerdem habe ich Angst vor dem was mich erwartet. Mut zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Wenn dem so wäre, befände ich mich nicht an diesem Ort, sondern mit Manja in der Außenwelt. Im Augenblick erscheint mir ein Leben als Gebärmaschine erstrebenswerter als ein Leben in ständiger Angst vor Mutanten, wilden Tieren, Hunger und Durst, doch wer weiß, ob das so bleibt. Vielleicht halte ich es eines Tages nicht mehr aus und ziehe die Ungewissheit vor, wie einst Fabios Tochter.

Die düsteren Gedanken machen mich traurig und müde, sodass mir selbst der Gang zur Toilette schwerfällt. Am liebsten würde ich die nächsten zehn Jahre verschlafen. Ein energisches Klopfen reißt mich aus meinen Grübeleien. Mit pochendem Herzen blicke ich zur Tür. Ich habe den Verschlussknopf des Türknaufs betätigt, damit sie sich nicht von außen öffnen lässt, doch wirklichen Schutz bietet das nicht. »Ja?«

»Hier ist Samuel. Ich soll dich zum Essen abholen.«

Er klingt freundlicher als am Morgen. Immerhin. Appetit verspüre ich allerdings keinen und auch kein Verlangen nach Gesellschaft. Ich will in Ruhe gelassen werden und mich meinem Elend hingeben. »Ich hab keinen Hunger.«

»Komm schon. Du musst etwas essen«, drängt er.

Ich verharre in trotzigem Schweigen. Meine Freiheit haben sie mir genommen, doch wann und ob ich etwas esse, entscheide immer noch ich.

Er seufzt extra laut, damit ich es auch nicht überhöre. »Es ist hart, ich weiß. Du vermisst dein Zuhause und deine Familie, aber du kannst nicht ewig in deinem Zimmer hocken. Irgendwann holen sie dich raus, notfalls mit Gewalt. Je eher du dich mit deiner Situation abfindest und aufhörst, dich wie ein trotziges Kind zu benehmen, umso schneller wirst du erkennen, dass alles halb so wild ist.«

Ich schnaube. Im einem hat er recht. Mein Verhalten ist kindisch, doch das alles halb so wild ist, das kann er mir nicht erzählen. »Warum bist du plötzlich so freundlich?«, stoße ich hervor.

»Tut mir leid. Vorhin war ich müde.«

Das halte ich für eine Lüge. Bestimmt hat ihm jemand ins Gewissen geredet.

»Hier sind alle sehr nett«, fährt er fort, »ehrlich. Gib ihnen eine Chance. Einschließen kannst du dich immer noch.«

Ich beschließe, mein Selbstmitleid eine Weile zur Seite zu schieben. Seufzend fahre ich durch meine Haare, rutsche vom Bett und öffne die Tür. Samuel grinst mich an und entblößt dabei eine Reihe makelloser Zähne, die aussehen als wären sie mit Bleichmittel behandelt worden. Mit seinen vollen Lippen und der schmalen Nase wäre er ein hübsches Mädchen geworden. Obwohl er höchstens zwei oder drei Jahre älter ist als ich, habe ich ihn nie in der Schule gesehen. Kurz überlege ich, wie lange das Programm bereits existiert. Kann es sein, dass sowohl die Soldaten als auch Samuel Ergebnisse der künstlichen Befruchtungen sind? Wenn ja, wo leben sie und wo werden sie unterrichtet?

»Bist du hier geboren?«, frage ich ihn, während ich ihm den Gang entlang zum Essenssaal folge.

Er wirft einen Blick über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass niemand hinter uns ist. »Was meinst du mit hier? Die Kolonie?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich meine hier im medizinischen Zentrum.«

»Du willst wissen, ob ich das Ergebnis einer künstlichen Befruchtung bin?«

Ich nicke. Mittlerweile haben wir den Eingang zur Kantine erreicht. Vor der Tür hält Samuel inne und fixiert mich. »Das bin ich. Ist das ein Problem für dich?«

»Natürlich nicht«, beeile ich mich zu versichern. »Es ist nur komisch, weil ich mir nie darüber Gedanken gemacht habe. Die Menschen in der Kolonie wissen von dem Programm aber niemand fragt nach den Kindern. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie eine besondere Ausbildung erhalten und erst später in die Gesellschaft integriert werden.«

Samuel wirft einen Blick in die Runde. Er möchte etwas sagen, das merke ich, doch bevor er sich dazu entschließt, schlurft eine hochschwangere Frau mit strähnigen, schwarzen Haaren an uns vorbei. Aufgrund ihres Bauchumfangs und ihres leicht nach hinten geneigten Watschelgangs schließe ich auf eine baldige Entbindung. Auf ihrer Nase glänzen Schweißperlen und sie sieht müde aus, worüber auch ihr Lächeln nicht hinwegtäuschen kann. »Hey Sam.«

Samuel tätschelt ihr aufmunternd die Schulter und deutet auf mich. »Hey. Nasha, das ist die Neue. Jule.«

Nashas Lächeln und der Blick, mit dem sie mich mustert, wirken abwesend und ein wenig dümmlich auf mich und ich verspüre einen jähen Widerwillen, mit ihr zu kommunizieren. Sie behält ihr Dauerlächeln bei, während sie mich mit einem »Herzlich willkommen« begrüßt.

Meine Antwort ist ein Kopfnicken und ein unartikuliertes Brummen, das sie mit viel Fantasie als danke interpretieren kann.

Nasha reibt sich über den Bauch und nickt Richtung Essensausgabe. »Heute gibt es Rindfleisch. Extra für die Schwangeren.«

Aha. Darüber soll ich mich wohl freuen. Fleisch, vor allem Rindfleisch gibt es in der Kolonie selten. Nach dem Schwein vom Vortag ist mein Fleischbedarf jedoch gedeckt und meine Gemütsfassung lässt sowieso keine Freude oder Appetit zu. Mit einem Lächeln versuche ich, die mangelnde Begeisterung zu überspielen.

Samuel führt mich durch den Raum zur Essensausgabe, die aus zwei Klapptischen besteht, auf denen große, rechteckige Edelstahlbehälter stehen. Ein Mitarbeiter schöpft den Eintopf in Schalen und reicht dunkles Brot dazu. Echtes Brot aus Roggen. Da Getreide in der Kolonie nicht gut gedeiht, ist das sowas wie eine Delikatesse. Schweigend nehme ich meine Portion entgegen und folge Samuel zu einem freien Tisch. Dabei versuche ich, niemanden direkt anzusehen, weil ich gar nicht wissen will, ob ich jemanden kenne. Zwar werde ich nicht angestarrt, dennoch fühle ich mich beobachtet. Das Gefühl ist unangenehm und so intensiv, dass ich meinen Blick unauffällig durch den Raum schweifen lasse. An der Decke, in der rechten oberen Ecke entdecke ich eine Dome Kamera. Von meinem Vater weiß ich, dass mit diesem Kameratyp auch das Außengelände vor der Mauer überwacht wird, inklusive Seuchenzentrum und Vorratsspeicher. Aber warum wird der Speisesaal überwacht? Außer einem Dutzend Frauen in allen möglichen Schwangerschaftsstadien und einigen Mitarbeitern ist hier nichts los.

Zu meinem Leidwesen gesellt sich Nasha zu uns. Ihr Ächzen und Keuchen zerrt an meinen Nerven. Kurzatmigkeit im letzten Schwangerschaftsdrittel ist sicher nichts Ungewöhnliches, erinnert mich jedoch daran, was mich erwartet. Ich bin gerade mal achtzehn, habe erst ein paar Mal mit einem Jungen geschlafen, und bevor ich herausfinden konnte, was ich eigentlich will, wurde mir der freie Wille genommen. Jetzt bin ich nur noch eine Probandin im Reproduktionsprogramm der Kolonie. Oder eine Heldin, wie General Albert es nennen würde. Es ist zum Heulen.

Nasha faselt über das Wetter. Das irritiert mich. Was gibt es schon über das Wetter zu sagen, außer dass es heiß und trocken ist und manchmal auch trocken und heiß? Ich rolle mit den Augen und beuge mich tiefer über meinen Teller, damit Nasha nicht merkt, wie genervt ich bin. Mehr denn je vermisse ich Manja. Ich vermisse sie so sehr, dass es wehtut.

»Schmeckt es dir?«

Es dauert einen Augenblick, bis ich kapiere, dass Samuel mit mir redet, und einen weiteren, bis ich sagen kann, wie der Eintopf schmeckt. Bisher habe ich ihn nur stumpf in mich reingeschaufelt. Das Fleisch ist weich gekocht, sodass es im Mund zerfällt, leider auch das Gemüse.

»Hm, ja, ist okay«, sage ich.

Samuel stützt den Kopf auf die Hände und beäugt mich. Ich erwidere seinen Blick ungerührt. Gegen den Blick meines Vaters stellt seiner keine große Herausforderung dar. Plötzlich lacht er, präsentiert seine strahlend weißen Zähne, zwischen denen nicht eine einzige Linse haftet.

»Ich glaube, wir beide werden uns gut verstehen«, meint er.

Ich bin verdutzt. Wenn er sich da mal nicht irrt.


Jeden Morgen hält Oberst Weiß eine Ansprache in der Kantine, in der er uns für unsere Tapferkeit lobt und uns dazu animiert, die Abzeichen zu tragen, die uns verliehen worden sind. Da sich die salbungsvollen Worte rasch abnutzen und ihm niemand wirklich zuhört, finde ich das überflüssig und bescheuert. Abends treffen sich die Probandinnen im Gemeinschaftsraum, spielen Monopoly oder Kniffel, wobei ich überrascht feststelle, dass die meisten tatsächlich ihr rotes Herz tragen. Dabei sehen sie alles andere als stolz oder tapfer aus, eher träge und gleichgültig. Bis auf eine Probandin mit langen, pechschwarzen Haaren und hochmütigem Blick. Sie trägt ihren Bauch vor sich her wie eine Trophäe und betont immer wieder lautstark, welche Ehre es ist, der Kolonie dienen zu dürfen. Von allen Probandinnen ist sie vermutlich die Einzige, die sich aus echter Überzeugung gemeldet hat. Ich kann sie nicht leiden. Würde Samuel nicht darauf bestehen, dass ich in den Gemeinschaftsraum gehe, würde ich lieber in meinem Zimmer bleiben. Ich sitze meist abseits in irgendeiner Ecke und beäuge die schwellenden Bäuche und die dümmlichen Gesichter um mich herum. Die Vorstellung, dass ich bald ebenfalls ein Kind in mir tragen werde, verstört mich auf eine Weise, die weit über das normale Maß hinausgeht. Es erschüttert mich und frisst mich von innen auf. Werde ich auch so komisch sein wie diese Frauen?

Ich schlafe kaum, wälze mich die halbe Nacht auf dem Bett herum und grüble. Manchmal weine ich. Tagsüber fühle ich mich dann wie erschlagen. Wir werden jeden Morgen um acht geweckt und gehen als Erstes zum Wiegen. Samuel überwacht das Gewicht der Probanden, auch meins. Er sagt, ich habe abgenommen und soll mehr essen, aber das Essen schmeckt fad und jeder Bissen scheint in meinem Hals steckenzubleiben.

Seit zwei Tagen bekomme ich Hormonspritzen. So werden meine Eierstöcke stimuliert, damit möglichst viele Eizellen heranreifen und geerntet werden können. Samuel hofft, dass ich dadurch etwas zunehme. Er kümmert sich rührend um mich, was mich nach seinem schweigsamen Empfang wundert. Jeden Morgen und jeden Abend kommt er vorbei und fragt, wie es mir geht. Üblicherweise unterhalten wir uns dann eine Weile. Ich erzähle ihm von der Schule, von Manja und Paul und unseren Ausflügen zum Wasserturm. Im Gegenzug erzählt er mir lustige Geschichten über die Probandinnen. Wir essen auch gemeinsam. Manchmal gesellt sich Nasha zu uns oder eine der anderen Frauen, doch im Gegensatz zu Samuel sind die Unterhaltungen mit ihnen öde und nichtssagend.

Zur Ablenkung hat Samuel mir Bücher gegeben, die er in der Sammelstelle ausgeliehen hat. Nichts Deprimierendes, nur ein paar fantastische Geschichten aus der Zeit vor dem großen Sterben. Ich bin keine Leseratte und höchstens ein oder zweimal im Monat ins Bücherhaus gegangen, doch hier im medizinischen Zentrum sind die Bücher neben Samuel die einzige Ablenkung für mich. Wenn ich ehrlich bin, sehe ich ihn mittlerweile fast als einen Freund, obwohl ich ihm eigentlich misstrauen sollte, weil er zum Personal gehört. Natürlich wundert es mich, dass er so viel Zeit mit mir verbringt, schließlich bin ich nicht die einzige Probandin. Meine Theorie ist, dass mein Vater ihn bestochen hat, damit er mich im Auge behält. Im Grunde ist es mir egal, warum er meine Nähe sucht, solange ich mit ihm reden kann und mich in seiner Gegenwart wohlfühle. Ich mag seine weiche Stimme. Sie entspannt mich. Deshalb lasse ich ihn auch gerne vorlesen.

Wenn Samuel anderweitig beschäftigt ist, unternehme ich Spaziergänge und erkunde das Laborgelände. Dabei führt mich mein Weg immer wieder zum Spielplatz. Üblicherweise ist er leer, doch an den Spuren im Sand kann ich erkennen, dass jemand da gewesen sein muss. Heute bin ich früh dran, weil Samuel nicht zum Frühstück erschienen ist und ich es in meinem Zimmer nicht aushalte. Schon als ich aus der Tür trete, höre ich das Kreischen und Lachen. Ein ungewohnter Laut in der Kolonie. Aufgeregt passiere ich das Gebäude und spähe um die Ecke.

Da sind sie. Die Kinder. Neun an der Zahl.

Zwei Soldaten beaufsichtigen ihr Spiel. Ich erkenne sofort, dass mit den Kindern etwas nicht stimmt. Drei haben eine Glatze. Eines zieht das linke Bein nach, wenn es rennt. Fabios Worte schießen in meinen Kopf. Sie pfuschen an ihrem Erbgut herum. Auch bei natürlichen Schwangerschaften kommt es zu Fehlbildungen, aber nicht derart geballt.

Ich rühre mich nicht und halte mich im Schatten des Gebäudes, damit mich die Soldaten nicht bemerken. Die Kinder lachen und rennen, spielen Fangen, wie ganz normale Kinder, nur dass die zwei Unversehrten dabei sehr rabiat vorgehen. Sie schubsen die anderen und kommandieren sie herum. Ein schmächtiges Mädchen, das gerade einen fiesen Knuff von einem der Rabauken erhalten hat, sieht zu mir herüber. Als sie mich entdeckt, lächelt sie scheu und winkt. Ich fühle mich ertappt, winke aber zurück. Mein Magen krampft sich zusammen.

Eines Tages wird auch mein Kind hier spielen.

Das ist eine absurde Vorstellung, die mir einen Schauer über den Rücken jagt.

Von rechts nähert sich eine Frau. Dem Aussehen nach muss sie eine Probandin sein, doch ich habe sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich lebt sie in einem der anderen Häuser. Ihre mit grauen Strähnen durchzogenen Haare sind zerzaust, der Blick starr und sie schlurft, als wäre sie gebrechlich oder krank.

Ich mustere sie heimlich, versuche zu schätzen, wie alt sie ist. Ende zwanzig vielleicht. Wie selbstverständlich steuert sie auf mich zu, stellt sich neben mich und beobachtet die Kinder schweigend.

»Ist eines davon deins?«, wage ich zu fragen.

Sie dreht den Kopf und fixiert mich mit diesem abwesenden, verschwommenen Blick, den ich bereits bei Nasha bemerkt habe. Als hätte sie irgendwas genommen. Pilze oder ein Beruhigungsmittel.

»Es sind alles meine Kinder«, antwortet sie schleppend.

Da mir das unwahrscheinlich erscheint, bin ich mir sicher, dass sie unter Drogeneinfluss steht. »Das kann nicht sein.«

Sie kneift die Augen zusammen und blinzelt, als würde sie angestrengt nachdenken. Dann lächelt sie plötzlich und deutet auf ein glatzköpfiges Mädchen, das so hoch schaukelt, dass es sich fast überschlägt. »Die da ist nicht von mir.«

Einer der Soldaten bemerkt uns. »Was tust du hier, Betty?«, ruft er. »Geh ins Haus, bevor wir Dr. Schneider rufen.«

»Wo ist deine Mutter?«, ruft Betty dem Soldaten zu. »Wo ist sie? Hast du sie je kennengelernt?«

Das Gesicht des Soldaten wird hart. »Mach, dass du wegkommst. Sofort!«

Mit großen Schritten marschiert er auf uns zu und misst mich mit einem prüfenden Blick. Durch und durch Soldat. »Bist du die Neue?«

Ich nicke, mein Hals ist plötzlich wie zugeschnürt. Etwas in seinem Augen verunsichert mich. Die Pupillen. Sie sind riesig und an den Rändern violett. Wie eigenartig.

»Geh ins Haus. Das hier ist nichts für dich.« Mit dem Zeigefinger macht er eine kreisende Handbewegung neben seiner Schläfe. »Betty ist ein wenig durch den Wind, verstehst du?«

Ich werfe einen Blick auf Betty, die nun ihrerseits den Soldaten fixiert. Zitternd ergreift sie seine Hand. »Wo ist deine Mutter, Junge?«

Er verzieht das Gesicht und schüttelt sie ab wie ein ekliges Insekt. Der zweite Soldat eilt herbei, überwindet die Distanz zwischen Spielplatz und uns in einem Atemzug. Er ist unglaublich schnell. Geschickt greift er nach Bettys Arm und dreht ihn auf den Rücken. Betty stöhnt auf und krümmt sich nach vorn. Ich weiche erschrocken zurück. Warum sind die Männer so grob? Die Kinder halten inne und starren uns neugierig an.

»Verschwinde«, zischt der erste Soldat mir zu.

Unsicher blicke ich zwischen Betty und ihm hin und her. »Was hat sie denn getan?«

»Das geht dich nichts an«, knurrt der Soldat und ergreift mich. Wie Stahlklauen schließen sich seine Finger um meinen Oberarm. Unbarmherzig zerrt er mich fort. Hinter mir höre ich Betty nach ihren Kindern rufen, bis ihre Stimme plötzlich erstirbt. Ich blicke über meine Schulter. Der Soldat hält ihr den Mund zu. Sie zappelt, Tränen laufen über ihre Wangen. Unbeeindruckt zwingt der Soldat sie in das gegenüberliegende Gebäude.


»Wie geht es Betty?«, frage ich Dr. Schneider am nächsten Morgen, während sie per Ultraschall das Ergebnis der Hormonspritzen überprüft.

Einen Herzschlag lang wirkt sie verblüfft, doch sie hat sich sofort wieder im Griff. »Du bist Betty begegnet? Wo?«

»Draußen beim Spielplatz. Sie hat die Kinder beobachtet.«

Dr. Schneider zögert einen Moment und drückt auf irgendwelchen Schaltern herum, macht Standbilder von meiner Gebärmutter.

»Ist eines davon ihr Kind?«, wage ich zu fragen. Dr. Schneider gibt sich zwar eher kühl und distanziert, dennoch erscheint sie mir wie jemand, mit dem man reden kann.

»So fertig.« Sie reicht mir ein Tuch, mit dem ich mir den Bauch abwischen soll. »Das Menogon hat gut angeschlagen. Am Donnerstag können wir die Follikelpunktion vornehmen.«

Sie steckt den Ultraschallkopf weg, dreht das Gerät zur Seite und setzt sich neben mich auf die Pritsche. Ihr Blick ist ernst und entschlossen. »Betty ist krank«, sagt sie.

»Was hat sie denn?«

»Sie leidet unter einer Psychose. Ihr Realitätsbezug ist gestört. Eigentlich steht sie unter ständiger Beobachtung, doch manchmal gelingt es ihr, ihren Aufpassern zu entkommen.«

Ich schiebe mein T-Shirt über den Bauch, schließe die Hose und setze mich auf. »Wie lange ist sie schon so?«

Dr. Schneider zuckt mit den Schultern. »Seit ein paar Monaten. Wir versuchen herauszufinden, was die Krankheit ausgelöst haben könnte, bisher ohne Erfolg.«

Ich denke daran, wie Betty den Soldaten gefragt hat, ob er seine Mutter kennen würde. Das und die seltsamen Augen bestärken mich in der Annahme, dass die Soldaten Produkte der künstlichen Befruchtungen sind. Genetisch perfektionierte Menschen.

»Darf ich sie besuchen?«, frage ich.

»Das würde ich dir nicht empfehlen, Jule. Sie redet wirr und der Anblick anderer Probandinnen könnte sie verstören.«

Kurz legt sie ihre Hand auf meine Schulter und steht auf. »Mach dir keine Gedanken um Betty. Kümmere dich lieber um dich selbst. Gesunde Kinder zur Welt zu bringen sollte dein vorrangiges Ziel sein.«

Ich schweige, obwohl ich eigentlich noch tausend Fragen habe. Doch Fragen zu stellen ist in der Kolonie unerwünscht, das zeigt sich selbst in Dr. Schneiders distanzierter Freundlichkeit.

Zum Mittagessen erscheint Samuel nicht und auch nicht zum Abendessen. Das frustriert mich und macht mich zugleich nervös. Ich brenne darauf, mit ihm über die Kinder zu reden.

Nach dem Essen gehe ich in mein Zimmer und versuche, mich mit Lesen abzulenken. Erfolglos. Ich kann mich nicht konzentrieren. Mein Herz rast und es fällt mir schwer, ruhig zu sitzen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus. Ich muss etwas tun. Irgendetwas. Barfuß schleiche ich nach unten. Da ich nicht riskieren will, dass mich die Wachen am Eingang aufhalten, klettere ich durch das Fenster in einem der Untersuchungsräume nach draußen. Wie von selbst führen mich meine Schritte zum Spielplatz. Im Licht des vollen Mondes setze ich mich auf die Schaukel und umfasse die Metallkette. Die Ringe sind noch warm von der Hitze des Tages. Zögerlich schwinge ich hin und her, ziehe mit den Zehen Spuren in den Sand. Ich habe nicht oft auf einer Schaukel gesessen, zumindest nicht auf einer wie dieser. In den Blocks gibt es nur zwei selbstgezimmerte Reifenschaukeln, und die sind ständig kaputt, weil irgendjemand die Seile durchtrennt oder den Gummi von den Reifen schlitzt.

Betty, der Soldat und die seltsamen Kinder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Es kommt mir vor, als würde ich etwas Wichtiges übersehen, als gäbe es ein Geheimnis, das ich ergründen muss, bevor sie mir einen manipulierten Embryo in die Gebärmutter pflanzen. Dieses Gefühl beunruhigt mich. Quietschend schwingt die Schaukel hin und her. Immer schneller und höher.

Betty. Der Soldat. Die Kinder. Samuel.

Meine Gedanken kreisen.

Am höchsten Punkt springe ich von der Schaukel und lande ungeschickt auf dem Boden. Ein heftiger Schmerz schießt meine Wirbelsäule hinauf, mein rechter Fuß knickt um. Zischend sauge ich die Luft in meine Lungen und halte mir den Knöchel. Hoffentlich ist er nicht verstaucht. Bei den Kindern hat das so einfach gewirkt. Sie sind derart hoch geschaukelt, dass es ausgesehen hat, als würden sie sich überschlagen und am höchsten Punkt abgesprungen. Bei der Landung haben sie nicht mal gewackelt. Und der Soldat, der hat Betty so schnell ergriffen, dass meine Augen kaum folgen konnten, hat sie herumgewirbelt wie eine Strohpuppe und ihr mühelos den Arm auf den Rücken gedreht. Ihr Strampeln und Winden hat ihn nicht mal zum Schwitzen gebracht, trotz der Hitze.

Und diese Augen. Diese seltsamen Augen.

Sie sind eindeutig übermenschlich, die Kinder und auch die Soldaten. Ist dies das gewünschte Ergebnis? Die genetische Verbesserung? Was geschieht mit jenen, die das Ziel nicht erreichen?

Ich bewege meinen Fuß überprüfe ihn auf seine Funktionstüchtigkeit. Zwar schmerzt er beim Gehen, aber wenigstens kann ich auftreten. Während ich zurück humple, beschließe ich, bei Samuel vorbeizuschauen und ihn zu fragen, wo er heute abgeblieben ist. Hoffentlich ist er nicht krank. Die Wachposten am Eingang beglotzen mich wie einen Geist, als ich hoch erhobenen Hauptes an ihnen vorbei stolziere, doch sie stellen keine Fragen und halten mich auch nicht auf. Das hätte ich auch nicht akzeptiert, schließlich bin ich eine Heldin und keine Gefangene. Hinter Samuels Tür im dritten Stock brennt Licht, also ist er in seinem Zimmer und noch wach. Ich klopfe.

Es dauert eine Weile, bis er öffnet. Als er mich sieht, reißt er überrascht die Augen auf. »Jule, du darfst nicht hier sein«, zischt er. Mit nervösem Blick überprüft er den Flur.

»Warum bist du heute nicht zum Essen gekommen?«, will ich wissen.

»Du musst gehen!«

Das ist keine Antwort. »Warum denn? Du bist doch mein Betreuer.«

Seufzend zieht er mich in sein Zimmer. Es sieht genauso aus wie meines. Ein Bettgestell aus Metall, eine Holzkiste, ein Tisch mit Stuhl und ein Schrank. Sogar das blöde Bild an der Wand ist das Gleiche. Bis auf einem Dutzend Bücher scheint er keine persönlichen Gegenstände zu besitzen.

»Wir dürfen uns nicht mehr ständig sehen«, sagt er.

Ich runzle die Stirn. »Warum nicht?«

Traurig lässt er die Schultern hängen. »Sie sagen, ich würde dich ablenken.«

»Wer sagt das?«

»Dr. Schneider. Und wenn sie das sagt, dann gibt sie damit die Meinung der Leitung weiter. Sie meint, du sollst dich mit den anderen Frauen befreunden und nicht mit dem Personal.«

Ich winke ab. »So ein Quatsch. Wo ist der Unterschied?«

Er greift sich an die Nasenwurzel, wirkt plötzlich müde und viel älter als er ist. »Ich darf mich nicht widersetzen, sonst verbannen sie mich.« Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern und er sieht immer wieder ängstlich zur Tür, als befürchte er, jemand könnte uns beobachten oder belauschen.

Ich senke den Kopf und fühle mich auf einmal ganz schwer. »Ich brauche dich, Samuel. Du bist mein einziger Freund in diesem Gefängnis. Ohne dich dreh’ ich durch.«

Betty schießt in meinen Kopf. Ist sie krank geworden, weil sie das Weggesperrtsein nicht mehr ertragen konnte?

Samuel sieht mich nicht an, während er spricht. »Lass uns einfach etwas langsamer machen, okay? Sobald du schwanger bist, sehen sie das bestimmt lockerer. Du sollst dich auf deine Aufgabe konzentrieren, sagt Dr. Schneider.«

Darum geht es also. Man lässt mich auf Umwegen wissen, dass ich keinen Ärger machen soll, sonst bekomme ich alles genommen, was mir etwas bedeutet. Mir Samuels Freundschaft vorzuenthalten, ist nichts als eine Demonstration von Macht. Eine Drohung. Wir können dir das Leben zur Hölle machen, wenn du nicht spurst.

Ein paar Atemzüge lang sehen wir uns schweigend an. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass Samuel niemals seine Mutter kennengelernt hat, und auch nicht seinen Vater. Er ist ein elternloses Produkt, genau wie die Soldaten.

»Weißt du, wer deine Mutter ist?«, frage ich. Ein Schauer rieselt über meinen Rücken als mir klar wird, dass ich klinge wie Betty. Und das bereits nach zwei Wochen.

Samuels Gesicht verschließt sich wie eine Auster, klappt einfach zu. Er weicht sogar einen Schritt zurück. »Hör auf. Jule«, wispert er. »Bitte. Geh jetzt.«

»Tut mir leid«, presse ich hervor und wende mich zur Tür. Ich sollte ihn nicht mit gemeinen Fragen quälen, schließlich kann er nicht ändern, was er ist.

Ich aber auch nicht.

Landsby

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